Stephan Kersten, Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes. (Bild: avd)
Asyl

„Es wird Jahre dauern, den Verfahrensberg abzubauen“

Die Verwaltungsgerichte schlagen Alarm: Hunderttausende Asylbewerber klagten und klagen vor Gericht. Über die Lage im Freistaat spricht der Bayernkurier mit Stephan Kersten, Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes.

Bayernkurier: Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller, sagte kürzlich in einem Interview, bisher hätten sich 350.000 bis 400.000 Asylverfahren bei den Verwaltungsgerichten angesammelt. Wie haben sich die Asylverfahren an den bayerischen Verwaltungsgerichten zahlenmäßig seit 2015 entwickelt?

Stephan Kersten: An den sechs bayerischen Verwaltungsgerichten stieg die Zahl der Asylverfahren ab dem Jahr 2015 deutlich an. Im Jahr 2008 hatten wir im Asyl insgesamt noch 1675 Neueingänge, 2015 waren es bereits 10.966, im Jahr darauf 22.836 und 2017 waren es 55.860. Das ist ein enormer Zuwachs, der auch nicht gleich abgebaut werden konnte. Es sind also noch viele Verfahren anhängig, da hat sich leider ein größerer Berg angehäuft. Allerdings gab es eine Trendwende im Frühjahr 2018, da konnten wir erstmals wieder mehr Fälle erledigen, als neu eingingen – in etwa 1000.

Worauf führen Sie das zurück?

Wir haben 2016 und 2017 insgesamt 66 neue Stellen für Richterinnen und Richter plus das dazugehörige weitere Personal wie Protokollführer und Schreibkräfte zugewiesen bekommen. Seit dem Frühjahr 2018 sind diese Stellen nun auch vollständig besetzt, da die Gewinnung qualifizierten Personals ja immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigt .

Ist die Justiz immer noch überlastet?

Weitere 50 Richterstellen wurden uns für 2018 bereits zugesagt, Ende März nach der ersten Kabinettssitzung unter dem neuen Ministerpräsidenten Markus Söder wurden nochmals 50 Richterstellen in Aussicht gestellt. Die Besetzung dieser Stellen wird natürlich wieder einige Zeit dauern, aber dann sind wir auf einem guten Weg. Das dauert, weil der Arbeitsmarkt für qualifizierte Richter und geeignete Justizbedienstete leergefegt ist. Hinzu kommt, dass neue Richter erst eingearbeitet werden und sich auf einzelne Herkunftsländer spezialisieren müssen, damit sie zügig Asylverfahren aus diesen Ländern bearbeiten können. Asylverfahren stellen derzeit den Hauptanteil der richterlichen Arbeit, wobei kein Richter nur Asylentscheidungen trifft, sondern auch immer in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts tätig ist. Rund 56.000 Asyleingängen standen 2017 in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts etwa 17.500 Verfahrenseingänge gegenüber.

Auf welche Quellen können sich Verwaltungsrichter für ihre Entscheidungen in Asylverfahren stützen?

Da gibt es eine Vielzahl, etwa die Informationen des BAMF, dann die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, von Amnesty International, vom UNHCR, aber auch Berichte von Medien oder wissenschaftlichen Instituten. Entscheidend ist oftmals auch die Glaubwürdigkeit des Klägers. Also etwa die Frage, ob dessen Schilderungen mit der Realität im Herkunftsland zusammen passen.

Was braucht es außer mehr Personal noch?

Wir haben auch erhebliche räumliche Probleme: Gerade an den kleineren Verwaltungsgerichten fehlen Gerichtssäle und Büros, um die neuen Richter und Mitarbeiter unterzubringen. Die platzen aus allen Nähten. In Bayreuth wurden bereits Container auf einem Parkplatz aufgestellt, in Ansbach werden noch Räume gesucht, weil dort ein Teil des Gerichts im Umbau ist. Augsburg plant derzeit einen Anbau, in Würzburg und Regensburg ist die Kapazitätsgrenze erreicht. Nur in München ist es derzeit noch etwas besser.

Wie lange dauert ein Asylverfahren vor dem Verwaltungsgericht im Schnitt?

Im ersten Quartal 2018 dauerten die asylrechtlichen Hauptsacheverfahren ab dem Eingang bei Gericht im Schnitt 8,8 Monate, die Verfahren zum vorläufigen Rechtsschutz 2,3 Monate. 2016 waren es nur 4,8 und 1,0 Monate. Der Anstieg liegt neben der massiven Mehrung der Verfahren auch daran, dass man oftmals zuerst die einfachen Asyl-Fälle weggearbeitet hat und jetzt die schwierigen Fälle dran sind. Verfahren etwa mit afghanischen Asylbewerbern sind sehr komplex und dauern oft lange.

8,8 Monate sind ziemlich lang. Welche Gründe gibt es dafür? Zum Vergleich: Strafverfahren brauchen in Bayern im Schnitt 2,9 Monate, Zivilsachen 4 Monate.

Bayern belegt bei der Dauer der erstinstanzlichen Asylverfahren bundesweit Platz zwei, nur Rheinland-Pfalz hat noch kürzere Verfahren. Die im Vergleich zu Straf- oder Zivilverfahren längeren Prozesse haben mehrere Ursachen, vor allem natürlich die Masse der Verfahren. Auch gibt es im gerichtlichen Asylverfahren kaum Vergleiche. Zudem ist das Asylverfahren sehr formalistisch. So haben die Parteien Zeit bis zur Begründung ihrer Klage, dann gibt es noch weitere Fristen mit viel Leerlauf dazwischen. Weiter muss das Bundesamt für Migration Kenntnis von den Vorgängen erhalten, es müssen Termine bei den stark belasteten Gerichten und Dolmetschern, aber auch bei den auf Asyl spezialisierten Rechtsanwälten gefunden und Dokumente übersetzt werden. Und nicht zu vergessen: Vielen Klägern liegt nichts an einem raschen Verfahren. Trotz der personellen Verstärkung wird es also ein paar Jahre dauern, bis der Verfahrensberg abgebaut ist, da muss man Realist sein. Immer unter der Voraussetzung, dass nicht wieder mehr Asylbewerber kommen.

Wie fallen diese Verfahren im Schnitt aus? In den Medien wird oft von 40 Prozent Erfolgsquote in der ersten Instanz gesprochen, dabei sind aber nicht die eingestellten und zurückgezogenen Verfahren berücksichtigt.

Wir selbst führen keine Statistiken über Erfolgsquoten. Nur das Bundesamt für Statistik veröffentlicht diese, aber man sollte das mit Vorsicht genießen. Schließlich werden, wie Sie sagen, viele Verfahren eingestellt oder zurückgezogen. Ist das dann eine erfolgreiche Klage? Dazu kommen die Klagen, die nur auf einen besseren Schutzstatus zielen und sich nicht gegen einen ablehnenden Asylbescheid richten. Auch schwankt die Schutzquote, wenn sich in einem Herkunftsland die Situation bessert, wie jetzt etwa im Irak nach dem Sieg über den IS. Das bedeutet andererseits, dass dann wieder die Zahl der Klagen der Iraker gegen negative Asylbescheide steigt.

Die meisten Asylverfahren enden in der ersten Instanz, also bei den Verwaltungsgerichten. Warum ist das so?

Auch bei der Berufungsinstanz des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs steigt zwischenzeitlich die Zahl der Verfahren, weil die Welle erst mit Verzögerung ankommt. 2015 waren es noch 452 Asyleingänge, 2017 dann mehr als 2000 und heuer sind es schon nach vier Monaten etwa 1000 Verfahren. Aber das Rechtsmittelrecht im Asylrecht ist seit der ersten Flüchtlingswelle Anfang der 90er Jahre sehr restriktiv. Viele Berufungen werden gar nicht zugelassen oder bleiben erfolglos. In anderen Rechtsgebieten sieht das Gesetz deutlich mehr Zulassungsgründe vor.

Abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber werden von Unterstützern versteckt, teils im Kirchenasyl. Wie geht es Ihnen und Ihren Kollegen mit dieser Art Misstrauensvotum eines Teils der Gesellschaft?

Diese Art von Unterstützung halte ich nicht für angebracht. In anderen Rechtsgebieten werden Gerichtsentscheidungen schließlich auch beachtet. Es wäre gut, wenn dies auch im Asylverfahren so wäre. Behörden und Gerichte entscheiden nach Recht und Gesetz, nach bestem Wissen und Gewissen, sie machen sich viel Arbeit. Wir können die Intention idealistischer Unterstützer zwar verstehen, aber genau dafür gibt es rechtsstaatliche Verfahren mit mehreren Instanzen und dazu sogar noch Härtefallkommissionen.

 

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther