Datenschutz vor Opferschutz? Gerade beim Kindesmissbrauch muss dieser falsche Ansatz beendet werden. (Bild: Imago/Blickwinkel/ McPHOTO/Begsteiger)
Kinderschänder

Opferschutz vor Datenschutz

Kommentar 2017 konnten laut BKA in 8400 Kinderporno-Fällen die Täter nicht ermittelt werden, weil den Ermittlern die gespeicherten Daten fehlten. Das ist eine Schande und ein Armutszeugnis: Der Datenschutz muss endlich hinter dem Opferschutz zurücktreten.

Es ist eine ungeheuerliche Zahl. BKA-Chef Holger Münch sprach von 8400 Fällen von Kinderpornographie, die im letzten Jahr nicht hätten aufgeklärt werden können. Dem Morgenmagazin von ARD und ZDF sagte Münch, die deutschen Behörden bekämen insbesondere aus den USA pro Jahr mehrere tausend Hinweise mit E-Mail- oder IP-Adressen auf mögliche Kinderporno-Fälle. Die Ermittlungen scheiterten dann häufig daran, dass in Deutschland „nicht mehr gespeichert“ sei, welcher Computer zur Tatzeit hinter einer bestimmten IP-Adresse stand.

Jedes Bild steht für ein missbrauchtes Kind

Um es ganz klar zu sagen: in 8400 mutmaßlichen Kinderpornographie-Fällen konnten die Täter nicht ermittelt werden, weil Deutschland sich den Luxus leistet, seine Daten besser zu schützen, als seine Kinder. Wenn der Datenschutz aber zum Täterschutz wird und auch noch Kinder die Opfer sind, dann hat er eine Grenze überschritten. Jedes Bild, jedes Video steht für ein missbrauchtes Kind, für eine zerstörte Kinderseele. Um das zu verhindern, sollten wir jedes Mittel einsetzen, auch die Vorratsdatenspeicherung. Bei der Vorratsdatenspeicherung müssten die Netz-Provider bestimmte Daten für einen definierten Zeitraum speichern. Darauf kann die Polizei zurückgreifen, wenn ein Verdacht auf Straftaten besteht. In mehr als neun von zehn Fällen ist laut BKA-Chef die IP-Adresse zentral, also die Frage, von welchem Computer eine Tathandlung ausgeht. Wenn diese IP-Adresse nicht gespeichert werde, könne man mit Hinweisen oft kaum mehr etwas anfangen. Doch oberste Gerichte in Deutschland und Europa haben die anlasslose Vorratsdatenspeicherung mehrfach als grundrechtswidrig verurteilt, derzeit laufen noch Klagen gegen das jüngste Gesetz.

Ein Beispiel: Im vergangenen Oktober veröffentlichte das BKA das Bild eines vierjährigen Mädchens, das schwerem sexuellen Missbrauch ausgesetzt war. Es war die letzte Maßnahme, weil alle anderen Ermittlungsansätze nicht zum Erfolg führten. Stunden später wurde der Täter aus dem persönlichen Umfeld des Kindes festgenommen und das unfassbare Leid des Opfers fand wenigstens körperlich ein Ende. Seelisch nicht. Das Kind wird den Rest seines Lebens mit dieser Last leben müssen.

Jetzt stelle man sich vor, dieses letzte Mittel wäre der Zugriff auf gespeicherte Daten gewesen. Doch diese Daten existieren nicht mehr, der Missbrauch geht weiter. Und weiter. Und weiter. Dann kommt das nächste Kind an die Reihe. Und noch eines. Ich möchte den Datenschutzbeauftragten sehen, der den Eltern der Opfer später ins Gesicht sagen wird, ja, wir hätten den Missbrauch früher beenden können, aber unsere Datensicherheit ist so ein hohes Gut! Ich möchte den Politiker und den Juristen sehen, der den Eltern der Opfer ins Gesicht sagen wird, ja, wir hätten den Missbrauch früher stoppen können, aber wir haben wegen entgegenstehender Urteile und aus Misstrauen in unseren funktionierenden Rechtsstaat eine solche Ermittlungsmöglichkeit nicht eingeführt. Schließlich sollten sich auch all die Big-Brother-Ängstlichen eine Frage stellen: Wenn mein Kind das Opfer von Pädophilen würde, würde ich dann immer noch fordern, die Daten der Täter zu schützen?

Vernunft statt Angst

Wir müssen unsere Angst vor dem Big-Brother-Staat, den George Orwell in „1984“ beschrieben hat, endlich auf ein vernünftiges Maß zurückführen. Deutschland ist ein Rechtsstaat. Auf die gespeicherten Daten darf nur auf richterlichen Beschluss zugegriffen werden, und nur bei schweren Delikten. Es wird nicht auf den Inhalt der Gespräche zugegriffen, sondern nur auf die Bewegungsmuster etwa von Smartphones oder bei Computern auf IP-Adressen. Die Menschen geben schon jetzt freiwillig auf Facebook, Youtube und Instagram oft ihre persönlichsten Daten preis, posten Strandbilder und persönliche Meinungen. Und beinahe jeder, der etwa Google Maps nutzt, lässt bereits zu, dass der Dienst seine Standortdaten verwendet. Warum also nicht auch die Strafverfolgungsbehörden? Die Daten würden nach einer angemessenen Zeitspanne, die sicher länger als derzeit sein muss, wieder gelöscht werden. Wer nichts verbrochen hat, hat nichts zu befürchten.

Natürlich kann es zu Pannen kommen, natürlich wecken viele Daten auch Begehrlichkeiten. Natürlich müssen darum diese Daten bestmöglich gesichert, müssen Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs-, Presse- und andere Berufsgeheimnisse geschützt werden. Nur: Keiner mit einem dieser Berufe kann sich doch sicher sein, dass seine Internetaktivitäten nicht schon heute durch andere Staaten oder sonstige Interessierte mitgelesen werden, die niemandem Rechenschaft schulden. Es gibt keine Sicherheit im Internet. Aber wir haben nicht nur einen Rechtsstaat, wir haben auch Medien und Strafverfolgungsbehörden, die Datenmissbrauch aufdecken.

Unwucht beseitigen

In einem Land, in dem Steuersünder manchmal länger im Gefängnis sitzen als Kinderschänder, in dem Täter und Daten offenbar wichtiger sind als Opfer, in einem solchen Land läuft etwas falsch. Wir sollten endlich dafür sorgen, diese Unwuchten in unserem Rechtssystem zu beseitigen. Das Internet wird immer häufiger dazu benutzt, auch schwerste Straftaten zu begehen. Wir können dabei entweder weiter zuschauen oder uns darauf einstellen und entsprechend handeln.