Die Väter des Grundgesetzes haben Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen. (Foto: Wolfram Göll)
Grundgesetz

Neuwahlen? So einfach geht das nicht!

Aus dem Chaos der Weimarer Republik haben die Väter des Grundgesetzes die Konsequenz gezogen, dass vor Regierungsstürzen und Neuwahlen sehr hohe Hürden zu überwinden sind. Vorgezogene Neuwahlen gehen praktisch immer mit einer Verfassungskrise einher.

Die Jamaika-Unterhändler von CDU, CSU, FDP und Grünen haben eine große Verantwortung geschultert: Die Positionen der vier Parteien sind nur sehr schwer miteinander in Einklang zu bringen. Vor allem scheinen die Grundauffassungen der drei bürgerlichen Parteien und die der Grünen Welten zu trennen. Die SPD hatte sich bekanntlich unmittelbar nach dem Desaster bei der Bundestagswahl mit 20,5 Prozent in den Schmollwinkel zurückgezogen und jeder Regierungsverantwortung eine Absage erteilt.

SPD-Chef Schulz erneuerte diese Flucht aus der Realität erst kürzlich wieder: Er bekräftigte, dass die SPD auch bei einem Scheitern der Jamaika-Gespräche nicht für eine große Koalition zu haben sei. Dann müsse es eben Neuwahlen geben, so der Mann aus Würselen. Doch so flapsig sollte niemand mit dem Begriff Neuwahlen umgehen – nicht nur, weil die AfD es kaum erwarten kann, die „Altparteien“ als gescheitert und regierungsunfähig vorzuführen. In der jüngsten INSA-Umfrage erreicht die AfD bundesweit derzeit 13,5 Prozent. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel reibt sich schon die Hände: „Wir als AfD haben keine Angst, sondern würden uns über Neuwahlen sehr freuen – denn augenscheinlich ist keine der anderen Parteien fähig, den Wählerauftrag zu erfüllen und eine vernünftige Regierungskoalition zu bilden.“

Vertrauensfrage nur nach Kanzlerwahl

Zudem hat das Grundgesetz vor Neuwahlen hohe prozedurale Hürden gestellt. Aus dem Scheitern der Weimarer Republik zogen die Väter des Grundgesetzes 1948 die Konsequenz, die vorzeitige Auflösung des Parlaments und den Sturz der Regierung so schwer wie nur irgend möglich zu machen. Die Auflösung des Bundestages ist nach Artikel 68 GG nur zu haben, wenn der amtierende Kanzler in einer Vertrauensfrage unterliegt. Dann kann er den Bundespräsidenten bitten, binnen 21 Tagen den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. In allen drei Fällen, in denen dies bisher geschah, 1973, 1983 und 2005, saßen allerdings die Kanzler Willy Brandt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder rechtlich gesehen fest im Sattel – sie waren vom Bundestag zuvor ins Amt gewählt worden; Helmut Kohl übrigens am 1. Oktober 1982 per konstruktivem Misstrauensvotum gemäß Artikel 67 GG nach dem Seitenwechsel der Genscher-FDP. Zudem handelte es sich 1983 und 2005 eigentlich um fingierte Niederlagen, da die christlich-liberale Regierung Kohls und das rot-grüne Bündnis von Schröder durchaus eine Mehrheit gehabt hätten; allerdings enthielten sich genügend Abgeordnete der jeweiligen Koalition bei der Vertrauensfrage absprachegemäß der Stimme, dass es zu einer Niederlage und in der Folge zu einer Neuwahl kommen konnte.

Die rechtlichen Möglichkeiten

Problem in der jetzigen Lage: Die momentane „Gro-Ko“-Bundesregierung ist seit der Konstituierung des neuen Bundestages Ende Oktober nicht mehr offiziell im Amt, sondern nur geschäftsführend. Sie ist vom neuen Bundestag nie gewählt worden, also kann dieser ihr auch nicht das Vertrauen entziehen. Daher müsste zuerst eine Kanzlerwahl gemäß Artikel 63 GG stattfinden. Falls dabei zweimal keine absolute Mehrheit zustande kommt, was ja kaum der Fall sein dürfte, wenn es keine Koalitionseinigung gibt, kann ein Kanzler – oder eine Kanzlerin – im dritten Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt werden. Im Fall einer bloßen relativen Mehrheit aber hat der Bundespräsident die Möglichkeit, den Gewählten entweder zum Kanzler zu ernennen – und damit faktisch eine Minderheitsregierung – oder aber dies zu verweigern und binnen 60 Tagen Neuwahlen auszurufen.

Wir als AfD haben keine Angst, sondern würden uns über Neuwahlen sehr freuen.

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel

Egal, in welchem Szenario sich der Bundespräsident am Ende wie entscheiden würde: Nach Auffassung von Staatsrechtlern muss er dabei immer abwägen, was für Deutschland und seine Bürger insgesamt das Beste ist – also beispielsweise Minderheitsregierung gegenüber Neuwahlen mit allen denkbaren Folgen. Dabei müsste Frank-Walter Steinmeier auch besonders im Blick haben, dass alle demokratischen Parteien im Bundestag dadurch ihr Scheitern beweisen würden – sowohl CDU, CSU, FDP und Grüne, deren Gegensätze sich dann ja offensichtlich als unüberbrückbar erwiesen hätten, als auch die derzeit geradezu demonstrativ starrsinnige SPD, die mit ihrer grundsätzlichen Verweigerung von staatspolitischer Verantwortung endgültig klargemacht hätte, dass sie im Zweifelsfall das Wohl der Partei vor das Wohl des Landes stellt.

Protestwahl führt zu Dilemma

Es bedarf wenig prophetischer Gabe, dass in einem solchen Fall des Scheiterns die Verärgerung der Bürger über die demokratischen Bundestagsparteien riesig wäre. Lachende Dritte wären dann vermutlich erneut die Populisten von rechts und links, also AfD und Linkspartei. Andererseits wäre aber auch eine klare Botschaft der demokratischen Parteien an die Adresse der Protestwähler überfällig: Nämlich dass deren kurzsichtige Protesthaltung, also die Schwächung der Volksparteien und die Stärkung der Extreme, entweder unsinnige Koalitionen erzwingt, die im Grunde niemand will – oder aber Deutschland am Ende gar in die Unregierbarkeit und damit ins Chaos stürzt. Darauf wies übrigens auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann bei der Landesversammlung der Jungen Union in Erlangen hin.