Der innen- und rechtspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Dr. Volker Ullrich. (Bild: CSU-Landesgruppe/Tobias Koch)
Standpunkt

Traut den Menschen mehr zu!

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Der Staat darf nicht alles regeln, was geregelt werden kann – nicht einmal dann, wenn es in guter Absicht geschieht. Ansonsten schwächt er unser auf Eigenverantwortung setzendes Menschenbild. Von Volker Ullrich

Man muss nicht lange im Grundgesetz blättern. Bereits in Artikel 2 heißt es, dass jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat. Neben der unantastbaren Würde des Menschen steht dieses Grundrecht am deutlichsten für unser Menschenbild. Der Mensch ist frei geschaffen und mit einer unveräußerlichen Freiheit ausgestattet. Und doch steht der Mensch nicht für sich. Er ist als soziales Wesen eingebettet in die Gesellschaft. Freiheit kann also nur gelebt werden, wenn sie geschützt wird und in der Freiheit und den Rechten des anderen ihre Grenze findet. Den Rahmen dafür hat die staatliche Ordnung zu setzen. Aber mehr noch: Der Staat bestimmt ebenso die Regeln für ein soziales Zusammenleben, weil die reine Beschränkung auf die Gewährung von Freiheit zu wenig wäre.

Für den Staat gelten Grenzen

Aber wie weit dürfen und sollen diese Regeln gehen? Soll nicht nur das geregelt werden, was geboten ist, sondern auch jenes, was erwünscht scheint? Unsere Gesellschaft hilft gewiss denjenigen, die Hilfe nötig haben, und sorgt für soziale Teilhabe an der Gesellschaft. Das ist übrigens das, was ein libertäres Menschenbild elementar vom christlichen Menschenbild unterscheidet. Wir sehen den Menschen ganzheitlich und wissen, dass Gemeinwohl mehr als nur eine rhetorische Dimension hat.

Eine der zen­tralen Fragen unserer Zeit ist die Vereinbarung von Interessen des Gemeinwohls mit der individuellen Freiheit. Dennoch brauchen wir eine ehrliche und offene Debatte, ob manches nicht doch aus der Balance geraten ist. Wie sehr darf der Gesetzgeber seinen Bürgern gesellschaftlich wünschenswerte oder als positiv erachtete Verhaltensweisen vorschreiben oder zumindest nahelegen? Es gibt Grenzen, die der Staat, auch nicht subtil, überschreiten sollte, wenn er das auf Eigenverantwortung setzende Menschenbild nicht schwächen möchte.

Freiheit zur Entscheidung setzt Information voraus. Auch eine fehlende oder nur unzureichende Aufklärung beschneidet selbstbestimmtes Handeln.

Volker Ullrich

Im Bereich von Gesundheit und Ernährung werden Stimmen besonders laut, die eine starke Anleitung zu gesundheitsfördernden Verhaltensweisen einfordern. Keiner bestreitet, dass eine zuckerreiche Ernährung, oftmals in Form von Fast-Food, zu Krankheiten und Übergewicht führt. Aber wie sehr gibt diese Feststellung dem Staat das Recht, Werbung für solche Produkte insgesamt zu verbieten oder sie als besonders schädlich zu kennzeichnen? Brauchen wir Lebensmittelampeln, die plakativ bewerten und damit einordnen, was wir kaufen? Oder können wir den Menschen nicht selbst überlassen, wie sie ihre Ernährung einordnen? Dafür spricht viel, weil Eigenverantwortung zum Leben gehört. Dann muss der Verbraucher aber auch eine klare Kenntnis von dem haben, was er kauft. Freiheit zur Entscheidung setzt Information voraus. Auch eine fehlende oder nur unzureichende Aufklärung beschneidet selbstbestimmtes Handeln. Transparenz und Offenheit sind demnach unabdingbar. Nur daraus wird am Ende ein Rahmen, in dem der Einzelne selbst entscheiden kann.

Die Gefahr der Manipulation

Anders verhält es sich, wenn durch Handeln oder Nichthandeln Dritte betroffen sind. Die intensive Debatte um die Impfpflicht entsteht aus dem Umstand, dass oftmals nur eine Impfung Dritte vor Krankheiten schützen kann. Damit ist eine Impfpflicht in der Abwägung nicht unzumutbar, sondern sie bewahrt durch einen verhältnismäßig geringen Eingriff die körperliche Unversehrtheit anderer. Aus gleichen Erwägungen heraus hat der Staat auch das Rauchen in Räumlichkeiten eingeschränkt, weil Passivrauchen in der Öffentlichkeit unzumutbar auf andere einwirkt.

Die Diskussion wäre aber unvollständig, wenn nicht auch ein anderer Aspekt angesprochen würde. Wie sehr werden unsere Wahrnehmungen und damit auch unsere Empfindung durch subtile Manipulationen oder durch gezielte Informationen von privater Seite beeinflusst? Gemeint ist damit nicht die Verführung zum Griff nach den Süßigkeiten an den Supermarktkassen. Das eigentliche Problem liegt tiefer. Es ist im Bereich unserer Kommunikation bei den sozialen Netzwerken angesiedelt, die für viele Menschen zum Ort der Information und Diskussion geworden sind.

Das Zusammenspiel zwischen Algorithmen und großen Datenmengen schafft völlig neue Herausforderungen für Freiheit und Individualität.

Volker Ullrich

Wie sehr wird aber unser Meinungsbild durch Algorithmen bestimmt, welche die Wahrnehmung der Welt filtern oder gar noch Emotionen befeuern, weil diese wirkmächtiger sind als sachliche Information? Oder werden wir beim Online-Kauf noch objektiv beraten oder berechnen bereits Algorithmen einen ganz individuellen Preis, je nach dem Standort der IP-Adresse oder den Daten über bereits getätigte Käufe? Was muss der Staat also leisten, um der oftmals subtilen, aber einschneidenden Wirkung von Algorithmen die Idee der Souveränität und Selbstbestimmung des Einzelnen entgegenzusetzen. Die Forderung nach Offenlegung der Algorithmen mag nur oberflächlich betrachtet helfen. Die Lösung liegt in der Regulierung der großen Plattformen selbst und in der Durchbrechung von monopolartigen Strukturen.

Soziale Überwachung in China

Das Zusammenspiel zwischen Algorithmen und großen Datenmengen schafft indes völlig neue Herausforderungen für Freiheit und Individualität. Ein Blick nach China zeigt die ganze Dimension. Das dort vorgesehene System eines Social-Scorings will jedem Bürger – man müsste besser vom digitalen Untertanen sprechen – eine Punktzahl zumessen. Diese kann je nach Akzeptanz oder Unerwünschtheit sozialen Verhaltens steigen oder fallen. Für das Überschreiten einer roten Ampel oder ungesunde Ernährung bis hin zu politisch als nicht opportun empfundenen Äußerungen werden Punkte abgezogen, mit all den gravierenden Folgen für die soziale Existenz. Im Ergebnis ist dies ein totalitäres Menschenbild im modernen Gewand.

Wir brauchen wieder eine stärkere emotionale Verankerung des Bürgers in der Mitte der Gesellschaft.

Volker Ullrich

Daraus leitet sich eine der großen Fragen unseres Jahrhunderts ab: Welche Gesellschaftsordnung ist im digitalen Zeitalter erfolgreicher? Jene, die auf Freiheit und Eigenverantwortung in einer Gesellschaft mit sozialem Zusammenhalt setzt, oder ein autoritär überwachendes System, welches im Mantel einer vermeintlichen Freiwilligkeit Zwang und Unterordnung einfordert? Die Antwort ist für uns offenkundig. Dennoch muss für dieses Modell der Freiheit geworben und eingetreten werden. Im digitalen Zeitalter müssen wir scheinbare Gewissheiten neu formulieren und für ihre Geltung eintreten, weil damit unser Menschenbild gesichert wird.

Die Pflicht, den Menschen zu vertrauen

Die Schlussfolgerung daraus ist die Pflicht des freiheitlichen Staats und seiner Akteure, den Menschen zu vertrauen. Und aus Vertrauen muss ein Zutrauen werden. Unterschätzen wir nicht die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Einschätzung und Beurteilung. Wir würden viel verlieren, wenn die Menschen spüren, dass der Staat sie subtil in eine Richtung drängt, um ein Verhalten zu erzwingen. Damit wird oft das Gegenteil erreicht. Im Privaten reagieren Menschen darauf nicht selten mit Ablehnung oder Rückzug. Nichts anderes könnte sich auch im staatlichen Bereich ergeben, mit all den negativen Folgen, die wir für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben oder die Beteiligung an Wahlen gerade verhindern wollen.

Wir brauchen wieder eine stärkere emotionale Verankerung des Bürgers in der Mitte der Gesellschaft. Das funktioniert nur über den Weg der Ermutigung. Dazu gehört nicht nur die Bereitschaft, nicht alles zu regeln, was geregelt werden kann, sondern auch die Entschlossenheit, einmal getroffene Regulierungen wieder zurückzunehmen. Das fordert Mut und die Bereitschaft zu politischer Verantwortung. Aber es wäre ein wichtiges Zeichen, auf welches gerade im Bereich der mittelständischen Wirtschaft, der Verbände oder Vereine und damit in der Gesellschaft insgesamt inständig gewartet wird. Wir verlieren nicht Schutz und Sicherheit, sondern schaffen damit den Raum, den eine offene und freiheitliche Gesellschaft braucht.

Volker Ullrich ist CSU-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerunion.