Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, vor der Synagoge auf dem Münchner Sankt-Jakobs-Platz. (Bild: Imago/HRSchulz)
Heimat

Als Jüdin in Bayern zuhause

Was bewegt Juden nach dem Zweiten Weltkrieg dazu in Deutschland zu bleiben? Charlotte Knobloch bekam diese Frage kürzlich von ihrer Enkelin gestellt. Im Interview erzählt sie, warum sie ihre deutsche Heimat liebt und seit 1945 in Bayern lebt.

Charlotte Knobloch liebt ihre Heimat. Trotz des Terrors und der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten, die sie als jüdisches Kind miterlebte. Eine Tatsache, die ihre Enkelin verwundert zur Kenntnis nahm angesichts des Holocaust. In einem vier Seiten langen Brief stellte die Schülerin die Frage: „Warum lebst du überhaupt in diesem Land?“ Knoblochs Antwort: Deutschland sei inzwischen ein freiheitliches demokratisches Land. „Wir fühlen uns gleichberechtigt und akzeptiert und wir sagen, wir sind hier und wir bleiben auch hier“, sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur in München anlässlich ihres 85. Geburtstages am 29. Oktober.

Die Zeitzeugen des Nationalsozialismus und des Holocaust sterben langsam aus. Bald wird es keine mehr geben. Wer wird die Erinnerung wachhalten, wenn es keine Menschen mehr gibt, die von ihren Erfahrungen berichten können?

Knobloch: Ich setze viel Hoffnung in die jungen Leute, die ich kennenlerne. Als ich vor 10, 15 Jahren mit Schülern diskutiert habe, hat man schon gemerkt, dass einige dachten, was will die denn, wir haben doch nichts damit zu tun. Viele wollten sich mit dem Thema nicht befassen, aus einer Abwehrhaltung heraus. Das kann ich heutzutage nicht mehr so oft feststellen. Ich finde, dass die jungen Leute heute, übrigens unabhängig von der Schulform, von ihren Lehrern besser vorbereitet werden. Man merkt, dass sie sich mit dem Thema befasst haben. Das ist sehr wichtig.

Warum?

Wenn sich die Bildungseinrichtungen und die Jugendlichen nicht intensiv mit dem Thema befassen und mit der Art und Weise der Vermittlung, hat das keinen Wert. Dann könnte wieder eine gewisse Abwehrhaltung entstehen: Wir haben damit nichts zu tun, wir sind nicht schuldig. Man muss sehr bewusst mit den jungen Menschen sprechen und ihnen dieses Schuldgefühl abnehmen. Ich merke, dass die jungen Leute heute viel freier an diese Themen herangehen. Manchmal stellen sie Fragen, die im Unterricht nicht besprochen werden, zum Beispiel, warum die Juden nicht einfach alle ausgewandert sind. Das sind legitime Fragen.

Der Nationalsozialismus ist im bayerischen Gymnasium erst in der 9. Klasse Thema im Geschichtsunterricht. Auch politische Themen kommen erst in höheren Klassen dran. Ist das nicht etwas spät?

Sicher. Die politische Bildung der jungen Menschen sollte schon viel früher beginnen, von mir aus schon im Kindergarten. Da sind die brisanten gesellschaftlichen Themen bereits alle vorhanden, darauf kann man aufbauen. Mich stört das, wenn es Jugendliche gibt, die nicht wissen, was sie mit Auschwitz anfangen sollen. Es gibt auch junge Menschen die nicht wissen, was die DDR war. Mit diesen Themen kann man Schüler nicht von heute auf morgen konfrontieren, das muss man aufbauen. Auch die Liebe und den Respekt vor dem eigenen Land und vor den Menschen, die dieses Land nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben. Und wenn sie nur mal mit der Fahne rumlaufen und man ihnen schrittweise vermittelt, welche Werte man damit verbindet. Man muss auch erklären, dass es Menschen mit einer anderen Hautfarbe gibt oder einer anderen Religion, die aber genauso wertvoll sind. Das sind Themen, die kann man nicht nur erlernen, die muss man fühlen.

Wann haben Sie und ihr Mann bei ihren Kindern damit begonnen, ihnen von der Vergangenheit, insbesondere dem Holocaust, zu erzählen?

Wir wollten unsere Kinder mit der Vergangenheit, die wir erlebt haben, nicht belasten. Wir haben damit recht getan. Meine Enkelin lebt in Israel. Da fahren die zehnten Klassen nach Auschwitz. Sie hatte mir danach einen vier Seiten langen Brief geschrieben und die Überschrift war: „Warum lebst du überhaupt in diesem Land?“.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe ihr geschrieben, dass ich ihre Frage vollkommen berechtigt finde. Aber wenn Deutschland nach dem Krieg judenfrei geworden wäre, dann hätte Hitler noch nachträglich einen Erfolg verbucht. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass Menschen sich ändern. Es ist sehr viel geleistet worden in Deutschland. Das war in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg nicht so ersichtlich, aber ab den 1970er, 1980er Jahren gab es für diese furchtbare Zeit des Nationalsozialismus mehr Aufmerksamkeit. Wir wussten, dass wir im Land der Mörder lebten, so wurde das damals genannt. Aber wir wissen auch, dass die Mörder heute nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Thesen zu verbreiten, sondern dass wir in einem freiheitlich-demokratischen Land leben.

Wo steht die jüdische Gemeinschaft in München heute?

Die Eröffnung der neuen Hauptsynagoge am St.-Jakobs-Platz war ein Meilenstein. Die Begeisterung der allermeisten Münchner ist bis heute ungebrochen. Das hat mich total überrascht. Wenn der Fremdenverkehrsbus vorne vorbeifährt und gesagt wird, „und das ist unsere Synagoge“, dann weiß ich, wir sind auf sehr gutem Weg und schon sehr, sehr weit gekommen. Dann kann man schon sehr zufrieden sein über die Akzeptanz, die ich davor nicht kannte. Im Herzen der Stadt neben dem Marienplatz plötzlich so eine wunderbare Synagoge. Wir fühlen uns gleichberechtigt und akzeptiert und wir sagen, wir sind hier und wir bleiben auch hier.

Charlotte Knobloch: Ein Leben in Bayern

Charlotte Knobloch wurde 1932 in eine jüdische Familie in München hineingeboren. Um sie vor der Deportation zu schützen, brachte sie ihr Vater auf einem Bauernhof in Mittelfranken unter. 1945 holte er seine Tochter wieder nach München zurück, wo sie 1951 heiratete und drei Kinder bekam. Seit 1985 ist Knobloch Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2006 bis 2010 war sie auch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Im BAYERNKURIER-Magazin (Ausgabe 01/2017) warnt die Präsidentin vor dem Erstarken antisemitischer Tendenzen und verlangt mehr Unterstützung der Zivilgesellschaft. Ein wehrhafter Staat dürfe sich nicht Verfassungs- und Freiheitsfeinden ausliefern. Lesen Sie hier mehr: „Wir sind Bayerns fünfter Stamm„.