Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, vor der Synagoge auf dem Münchner Sankt-Jakobs-Platz. (Foto: imago/HRSchulz)
Antisemitismus

„Wir sind Bayerns fünfter Stamm“

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, warnt vor dem Erstarken antisemitischer Tendenzen und verlangt mehr Unterstützung der Zivilgesellschaft. Ein wehrhafter Staat dürfe sich nicht Verfassungs- und Freiheitsfeinden ausliefern.

Der Antisemitismus ist nicht tot – auch nicht in Deutschland, auch nicht in Bayern. Er ist keine deutsche Erfindung, aber in deutschem Namen hat er mit dem Holocaust, der fast vollständigen Vernichtung jüdischen Lebens in Europa, die katastrophalste Ausprägung in der Geschichte der Menschheit. Nach 1945 glaubten einige, dass es nie wieder Rassismus, völkischen Nationalismus oder Antisemitismus geben würde – ein schrecklich naiver Irrtum. Wenngleich sich die Frage stellt: Wenn Auschwitz den Menschen nicht von mörderischem Hass heilen konnte, was dann?

Alltägliche Anfeindungen

In Deutschland ist es gelungen, auf den Trümmern eines in jeder Hinsicht am Boden liegenden, zerstörten Landes – militärisch, politisch, wirtschaftlich, moralisch – eine weltweit geachtete, stabile und tragfähige freiheitliche Demokratie, eine international vorbildliche rechts- und sozialstaatliche Republik zu errichten. Doch trotz aller Errungenschaften der letzten Jahrzehnte blieb der Antisemitismus – auch wenn man es nicht wahrhaben wollte und will – fest verankert. Und nun, sieben Jahrzehnte nach der Befreiung der Vernichtungslager, wird er wieder immer öfter und ungenierter artikuliert, ist bereits wieder salonfähig, mancherorts Mainstream.

Tabu statt Umdenken

Damit gehen (mindestens) zwei Erkenntnisse einher: 1.) Es gab weit weniger echtes Umdenken, was die Einstellungen gegenüber Juden betrifft, als gehofft. Vielmehr gab es nur eine Tabuisierung einschlägiger Äußerungen. 2.) Diese Tabuisierung antisemitischer Äußerungen in der Öffentlichkeit, die für die deutsche Situation seit Kriegsende kennzeichnend war, wird längst durch eine mittlerweile bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichende Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken unterlaufen. Dabei spielt zunehmend eine mit Antisemitismus unterfütterte Kritik am Staat Israel sowie die Abwehr von behaupteten Schuldvorwürfen hinsichtlich der Schoa eine zentrale Rolle.

Die völkisch-nationalistischen, rassistischen und menschenverachtenden Parolen der neuen und alten Rechten sind gespickt mit antisemitischen Ressentiments und Stigmata.

Charlotte Knobloch

Der Antisemitismus hat viele weitere Ausprägungen. Dieses vielschichtige Phänomen muss differenziert betrachtet werden. Soll Judenfeindschaft erfolgreich bekämpft werden, muss das auf vielen Ebenen mit unterschiedlichen Ansätzen und Stoßrichtungen geschehen. Zunächst bedarf es einer ehrlichen Analyse, haben wir doch in Wahrheit weit weniger erreicht, sind wir gesellschaftlich längst nicht so weit, wie wir es gerne beteuern – das betrifft im Übrigen nicht nur den Antisemitismus.

Rechtsradikale auf dem Vormarsch

Der Rechtspopulismus und -radikalismus und mithin auch jene Form des Antisemitismus, die im rechtsextremistischen Spektrum zum konstitutiven Bestandteil der Ideologie gehört, sind europaweit auf dem Vormarsch. Hierzulande haben Pegida und Co. die Straßen vielerorts – gerade in den neuen Bundesländern – erobert, der AfD den Weg in die Parlamente gebahnt und die Meinung- und Deutungshoheit für sich beansprucht – mit erschreckendem Zuspruch und Erfolg. Die völkisch-nationalistischen, rassistischen und menschenverachtenden Parolen der neuen und alten Rechten sind gespickt mit antisemitischen Ressentiments und Stigmata.

Auch im linken politischen Spektrum gibt es einen traditionellen Antisemitismus, der mit Antiimperialismus, -kapitalismus und -amerikanismus Hand in Hand geht

Charlotte Knobloch

Aber auch die extreme linke Szene ist mit ihrer Verachtung gegen unser Staatswesen eine wachsende Gefahr für die freiheitliche Demokratie. Und auch im linken politischen Spektrum gibt es einen traditionellen Antisemitismus, der mit Antiimperialismus, -kapitalismus und -amerikanismus Hand in Hand geht. Dies zeigt sich vor allem in einer übermäßigen, obsessiven Kritik an Israel im öffentlichen Diskurs, die meist von einem einseitigen Feindbild bezüglich der Verantwortung für den Nahostkonflikt geprägt ist.

Antisemitische Parallelwelten

Besonders gefährlich ist der regelrechte Judenhass unter hier lebenden Muslimen. Dieser wurde über Jahrzehnte als Folklore verharmlost und in falschverstandener Toleranz verschwiegen – zu Lasten der Juden in Deutschland, die sich angesichts der wachsenden Bedrohung vielfach allein und unverstanden sahen.

Versäumte Integration hat vielerorts zu Parallelwelten geführt, in denen andere Werte und Gesetze gelten, die mit unseren christlich-jüdischen Überzeugungen ebenso unvereinbar sind wie mit unseren rechtsstaatlichen Prinzipien. Antisemitismus ist in diesen Milieus eine absolute Selbstverständlichkeit, seit Jahren öffentlich zu beobachten bei den „Al Quds“- und „Nakba“-Tagen, die stets zu antisemitischen Paraden werden. Vorläufiger Höhepunkt: Die antisemitischen Exzesse im Sommer 2014. Vor dem Hintergrund des Gaza-Konflikts gingen Hunderttausende auf die Straßen. Vordergründig demonstrierten sie gegen Israel, aber das eigentliche Feindbild waren unüberhörbar und unübersehbar die Juden als solche. Auf deutschen Straßen wurden widerliche Hass-Parolen skandiert – blanker, kalter Antisemitismus, absolut inakzeptabel. Leider blieben sowohl das harte Durchgreifen der Behörden als auch der breite Aufschrei in der Zivilgesellschaft aus.

Judenhass als Inhalt der Erziehung

Der Hass auf Juden und Israel ist in den Herkunftsländern der meisten Muslime in Deutschland fester Bestandteil der Sozialisierung, der Erziehung und der Bildung. Das gilt freilich auch für die Mehrzahl der Flüchtlinge, die in jüngster Zeit zu uns gekommen sind.

Wer unsere Werte nicht anerkennt, wer Rechtsstaat, Gleichberechtigung und Religionsfreiheit nicht respektiert, kann nicht mit uns leben.

Charlotte Knobloch

Daher fordere ich eindringlich, dass die Vermittlung unserer westlichen Werte und die unbedingte Abkehr von Frauen-, Christen- und Judenfeindlichkeit, von Homophobie und antiliberalen und antidemokratischen Einstellungen zur Voraussetzung eines Bleiberechts in unserem Land gemacht werden. Wer unsere Werte nicht anerkennt, wer das staatliche Gewaltmonopol missachtet, wer Rechtsstaat, Gleichberechtigung und Religionsfreiheit nicht respektiert, wer unsere Prinzipien und Lebensweise verachtet, kann nicht mit uns leben – kann kein Teil von unserem „Wir“ werden. Und ein wehrhafter Staat darf sich nicht selbst Verfassungs- und Freiheitsfeinden ausliefern.

Dank an Bayerns Politik

Ich wünsche mir, dass wir in der Mitte der Gesellschaft, die leider vom Phänomen des Antisemitismus nicht frei ist – zu einem breiten Wertekonsens finden. Gott sei Dank hat die jüdische Gemeinschaft gute und verlässliche Freunde – allen voran den Bayerischen Ministerpräsidenten, sein Kabinett und die gesamte politische Elite im Freistaat. Aber ich wünsche mir im Kampf gegen Antisemitismus einen noch stärken Zuspruch aus der Zivilgesellschaft. Die Juden sind der „Fünfte Stamm“ Bayerns. Mia san auch mia – und mia g’hörn doch alle zam!