Antisemitismus der Neuzeit: Hakenkreuze auf einem jüdischen Friedhof in Herrlisheim bei Colmar 2004. (Bild: Picture alliance)
Judenhass

Keinen Millimeter Raum

72 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz: Immer noch kommt es auch in Bayern zu antisemitischen Übergriffen. Die Staatsregierung geht energisch gegen jede Art von Judenhass vor – egal aus welcher Richtung geschürt wird. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

Die Welt gedenkt heute dem Holocaust: Am 27. Januar 1945 erreichten die Spitzen der Roten Armee bei großer Kälte das Vernichtungslager Auschwitz. Was die Soldaten sahen, war so unvorstellbar, dass neben allen verfügbaren Sanitätern auch sofort Kriegsberichterstatter zur Beweissicherung angefordert wurden. Riesige Leichenberge ebenso wie einzelne Tote überall, daneben aber auch fast verhungerte und völlig ausgemergelte Menschen, mehr tot als lebendig, mehr Skelett als Mensch. Auf allen Vieren krochen sie den Befreiern entgegen. Sie lagen apathisch herum, in Lumpen gekleidet, mit eingefallenen Gesichtern und kahlen Köpfen. 7650 Überlebende, darunter auch Hunderte Kinder, teilweise nicht einmal sechs Jahre alt, wurden befreit. Die Hälfte von ihnen starb jedoch in den folgenden Wochen an den Folgen der erlittenen Qualen.

Skelette von Menschen kamen uns entgegen.

Anatoly Shapiro, sowjetischer Major

Das ab 1941 errichtete Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war die größte Todesfabrik der SS, und ist heute das Synonym für den Holocaust. Hier wurden 1,1 Millionen Menschen, hauptsächlich Juden aus ganz Europa, aber auch sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Homosexuelle und Oppositionelle buchstäblich industriell vernichtet.

Mütter mit kleineren Kindern, Schwangere, Kranke und ältere Menschen wurden in der Regel sofort in den Gaskammern umgebracht, der an der Rampe „selektierte“ Rest sollte sich zu Tode arbeiten. Die meisten starben später aber ebenfalls im Gas, durch Erschießung, Schläge, Folter, Hunger, Krankheiten oder im Verlauf medizinischer Versuche. KZ-Ärzte unternahmen in Auschwitz entsetzliche Experimente an den Gefangenen, einer der Täter war der berüchtigte SS-Arzt Josef Mengele. 58.000 Häftlinge wurden kurz vor der Befreiung gezwungen, sich auf den sogenannten Todesmärschen zu weiter westlich gelegenen Lagern zu schleppen. Wer nicht mehr weiter konnte, wurde erschossen. Der erste sowjetische Soldat, der „die Hölle auf Erden“ betrat, Major Anatoly Shapiro, selbst ein ukrainischer Jude, berichtete: „Skelette von Menschen kamen uns entgegen. Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt. Sie konnten nicht sprechen, nicht einmal die Köpfe wenden.“ Bittere Ironie der Geschichte: Shapiro emigrierte 1992 wegen des massiven russischen Antisemitismus in die USA.

72 Jahre später

„Nie wieder!“, diese Botschaft verbreitete der jüdische KZ-Überlebende Max Mannheimer unermüdlich. Bis zu seinem Tod im September 2016 war der Augenzeuge vor allem in bayerischen Schulen unterwegs, um zu mahnen und zu erinnern. Dabei wollte er, der fast seine ganze Familie in den Gaskammern verloren hatte, den Deutschen keine Schuldgefühle eintrichtern. Mannheimer hatte ein anderes Ziel: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dafür, dass es nicht wieder geschieht, dafür schon!“

Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dafür, dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.

Max Mannheimer

Ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt, wie berechtigt Mannheimers Mahnungen bis heute sind. In Bayern wurden im Jahr 2015 drei antisemitisch motivierte Gewaltdelikte registriert, alle durch Rechtsextreme. So beleidigten in Regensburg zwei Personen zwei israelische Staatsangehörige antisemitisch und traktierten sie mit Faustschlägen und Fußtritten. 2014 gab es eine Gewalttat mit antisemitischem Hintergrund, 2013 fünf, 2012 eine und 2011 zwei. 2016 waren es neben zwei Körperverletzungen auch ein Mord und ein Fall von Totschlag, die antisemitischen Tätern zugeordnet wurden.

Hitlerbart und Hakenkreuze

Die Zahl der anderen Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, wie etwa Beleidigung, Sachbeschädigung oder Volksverhetzung, schwankte seit 2011 zwischen 99 und 166 pro Jahr, stieg jedoch 2016 auf 172. Meist werden Synagogen, jüdische Friedhöfe oder Stolpersteine mit Hakenkreuzen, SS-Runen oder antisemitischen Sprüchen beschmiert, was selten verwertbare Spuren hinterlässt. So wurde im April 2015 der Ort Floß nahe des ehemaligen KZ Flossenbürg in der Nacht vor einem Gedenkgottesdienst mit NS-Symbolen und Parolen verschmiert, darunter auch das Wort „Judenhass“. Im Juni darauf schändeten Unbekannte die Ausstellung „Jüdisches Leben in München“ mit eingebrannten Hitlerbärtchen auf einigen Fotos.

Der Antisemit nimmt dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er existiert.

Henryk M. Broder

Fast alle dieser Straftaten werden Rechtsextremen zugerechnet, jedoch stieg seit 2013 die Zahl der „politisch motivierten Ausländerkriminalität“, meist von radikalen Muslimen, von fünf antisemitischen Straftaten 2013 auf elf im Jahr 2016. Hinzu kommt die unbekannte Zahl der Vorfälle, die nicht angezeigt werden. „Der Antisemit nimmt dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er existiert“, warnte jüngst der Publizist Henryk M. Broder vor dem Innenausschuss des Bundestages.

120.000 Juden leben in Deutschland. Ihre Vertreter berichten von regelmäßigen Drohbriefen und aggressiven Anrufern. Juden erzählen, dass sie insbesondere von Muslimen auf offener Straße bespuckt, beschimpft und bedroht werden. Schüler, Betrunkene, aufgeheizte Sportler und Fans verwenden „Du Jude!“ oder Schlimmeres als Schimpfwort. In sozialen Medien oder bei Universitätsveranstaltungen wird offen gegen Israel gehetzt. Florian Gleibs, Inhaber des bekannten jüdischen Restaurants „Schmock“ in München, hat im Herbst sein Lokal geschlossen. Regelmäßig sei er für die Politik Israels verantwortlich gemacht, als „Kindermörder“ und mit Sprüchen wie „Wir vergasen Euch“ beschimpft worden, erklärte der Gastronom. Sein Auto wurde zudem zerkratzt und bespuckt, weil darauf ein Davidstern zu sehen ist. „Wenn man weiß, es wird nur noch schlimmer, hat man keine Lust mehr“, so Geibs.

Früher hat es schon geheißen: ‚Die Juden kommen‘. Das ist aber deutlich besser geworden.

Maurice Schreibmann

Sport setzt Emotionen frei, oft auch schlechte. Der jüdische Sportclub „TSV Maccabi München“ ist offen für Menschen aller Nationen und Glaubensrichtungen. Ein Großteil der 1200 Mitglieder sind keine Juden mehr. Dennoch ist die Religion immer wieder ein Thema. „Einige türkische Kinder wurden von ihren Landsleuten genötigt, aufzuhören“, berichtet TSV-Geschäftsführer Maurice Schreibmann dem Bayernkurier. Und die Jugendmannschaften von Maccabi spielen nicht im Stadtbezirk München, sondern im Landkreis. Dort sind sie nicht mehr so vielen antisemitischen Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt – insbesondere durch Spieler mit Migrationshintergrund, und hier besonders Türken. „Früher hat es schon geheißen: ‚Die Juden kommen‘. Das ist aber deutlich besser geworden“, sagt Schreibmann. „Heute sind es ganz normale Beleidigungen.“ Denn, so Schreibmann, sportlicher Erfolg sorge auch für Anerkennung. Dass es besser wurde, geschah aber auch, weil der Bayerische Fußballverband und die Clubs hart gegen Antisemiten durchgreifen. Als bei einem Auswärtsspiel von Maccabi ein palästinensischer Spieler „Juden ins Gas!“ rief, schloss ihn sein Verein sofort aus.

Protest gegen Israel

Immer wieder verschärfen Ereignisse im Ausland die Lage auch im Freistaat. Im Jahr 2014 skandierten Radikale auf einer Demonstration gegen den Gaza-Krieg in München Parolen wie „Tod den Juden“. In Berlin rief der Mob „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf‘ allein!“ und attackierte zwei Israelis. In Nürnberg stürmten Hunderte Muslime nach der Kundgebung eine Fastfood-Filiale. Dabei skandierte die Menge Losungen wie “Kindermörder Israel”. Konzerne wie die Fastfood-Kette würden von Juden geführt, lautete die abstruse Behauptung.

Anfang 2015 entsetzte die Charlie Hebdo-Attacke in Paris die Weltöffentlichkeit. Sie traf auch einen koscheren Supermarkt, in dem vier Kunden ermordet wurden. Kurz danach folgten die Angriffe auf ein Kulturzentrum und eine Synagoge in Kopenhagen, bei denen zwei Menschen starben. Der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster riet daraufhin, „in Problemvierteln“ mit vielen Muslimen auf das Tragen der Kippa zu verzichten und eine andere Kopfbedeckung zu wählen.

Rechtsextreme sind die Haupttäter

Antisemitismus ist fester Bestandteil rechtsextremer Ideologien, das belegen auch die zahlreichen Straftaten. „Die Juden“ gelten als Weltverschwörer sowie als Verkörperung alles „Bösen“. Heute wird dabei häufig der Staat Israel als angeblicher Kolonial- oder Apartheidstaat angegriffen. Die Partei „Dritter Weg“ etwa veröffentlichte auf ihrer Webseite einen Flyer mit Handlungshinweisen zum „Israel-Boykott“.

Viele jüdische Gemeinden haben deshalb große Bedenken gegen das Anwachsen von rechtsradikalen und –populistischen Parteien in Europa. Ein Beispiel dafür ist die AfD: Zwar positioniert sich deren Parteiführung als “Retter des deutschen Judentums“ gegen den Islam. Jedoch scheren etliche kleinere Funktionäre immer wieder mit antisemitischen Äußerungen aus, zuletzt Björn Höcke. Er sagte über das Holocaust-Mahnmal in Berlin: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Nach 1945 habe eine „systematische“ Umerziehung“ begonnen, so Höcke. Von „dämlicher Bewältigungspolitik“ war die Rede, mehr positive Geschichte solle gelehrt werden. Darum forderte der AfD-Mann eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Nicht sein erster Ausfall: Schon im September 2015 bezeichnete er Christentum und Judentum als „Antagonismus“, das kann Widerstreit, Gegensatz oder auch Feindschaft heißen. Deshalb könne er „mit dem Begriff des christlich-jüdischen Abendlands nichts anfangen“.

Für den CSU-Stadtrat Marian Offman sind Islamhass und Judenhass lediglich „zwei Seiten derselben Medaille“. Damit könnte er Recht haben: Laut eines Berichts der Süddeutschen Zeitung unterhält die Münchner Pegida „Kontakte zu denjenigen Männern, die 2003 ein Bombenattentat auf die Grundsteinlegung für das jüdische Gemeindezentrum auf dem Jakobsplatz geplant hatten“.

Die linksradikalen Antisemiten

Spätestens seit den Zeiten der RAF existiert aber auch ein linksradikaler Antisemitismus. Auch er tarnt sich als Antizionismus, kritisiert einseitig Israel und ignoriert die legitimen Sicherheitsinteressen des Landes. „Die irakischen Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels“, behauptete etwa der Grüne Hans-Christian Ströbele 1991 während des Golfkriegs. Linke Abgeordnete wie Annette Groth nahmen an den von türkischen Radikalen organisierten „Gaza-Flotillen“ teil, die die israelische Blockade brechen wollten. Gerne wird auch die Existenzberechtigung des angeblich „imperialistischen“ Landes infrage gestellt. Über weit fragwürdigere und undemokratische Länder wie Russland, China oder Iran wird dagegen geschwiegen oder hinweggesehen, ebenso über die brutalen Anschläge der Palästinenser, die auch vor Frauen und Kindern nicht Halt machen. Linke Antikapitalisten bedienen zudem gerne die Verschwörungstheorie von der jüdischen Beherrschung der Weltfinanzmärkte. Mehr als ein Drittel aller Linksextremen ist der Meinung, „Juden haben zu viel Einfluss“, so eine Studie der Freien Universität Berlin.

Hetze in türkischen Medien

Man muss nicht nach Frankreich blicken, um zu sehen, wie weit verbreitet Judenhass unter Muslimen ist. Um den Faktor zwei bis fünf sei europaweit der Antisemitismus in der muslimischen Bevölkerung höher, sagt etwa der Historiker Günther Jikeli, der umfassend zu diesem Thema geforscht hat. Ziel sind hier ebenfalls regelmäßig „Zionisten“ oder der Staat Israel. Ein besonders unerträgliches Beispiel ist der jährliche „Al Quds Tag“ (Jerusalem-Tag), an dem mitten in Deutschland zur Vernichtung Israels aufgerufen wird. Auf der Al Quds-Demonstration 2015 wurde „Tod Israel, verflucht seien die Juden und Sieg für den Islam“ skandiert.

Insbesondere Araber, Türken und die türkische Milli-Görüs-Bewegung mitsamt all ihren Ablegern fallen hier immer wieder negativ auf, das berichten Sicherheitsbehörden wie auch Juden. Ein Beispiel: 2014 organisierte der „Dachverband türkischer Vereine in Kempten e.V.“ die Versammlung „Stoppt das Morden im Gaza-Streifen“. Dabei wurden mehrere Transparente mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“ sichergestellt. Zu dieser Haltung tragen laut Antisemitismusbericht 2012 des Deutschen Bundestages auch viele arabische und türkische TV-Sender bei, die in Deutschland über Satellit meist frei empfangbar sind. Auch in der „in Deutschland vertriebenen türkischen Presse finden sich immer wieder Beispiele für antisemitische Ausfälle“. So wurde in der Zeitung „Millî Gazete“ der Zionismus als der „hauptverantwortliche Feind“ für den Niedergang des Osmanischen Reiches und die Besatzung der islamischen Welt benannt.

Unter den Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, stammen sehr viele aus Ländern, in denen Israel zum Feindbild gehört.

Josef Schuster

Besorgt blicken Juden in Deutschland auf die vielen, überwiegend muslimischen Flüchtlinge. Zentralrats-Präsident Schuster warnt vor einer drohenden Zunahme von „arabischstämmigem, importiertem“ Antisemitismus. „Unter den Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, stammen sehr viele aus Ländern, in denen Israel zum Feindbild gehört. Sie sind mit dieser Israelfeindlichkeit aufgewachsen und übertragen ihre Ressentiments häufig auf Juden generell.“ Schuster warnt vor einer gefährlichen Entwicklung: „Wir sehen bei radikalisierten Muslimen sicherlich erhebliche antisemitische Tendenzen, eine vor Jahren kaum vorstellbare Allianz aus radikalisierten Muslimen auf der einen Seite, Links- und Rechtsextremen auf der anderen Seite.“

Für Rechtsradikalismus und Antisemitismus ist in Bayern kein Millimeter Platz.

Horst Seehofer

Bayern bekämpft den Antisemitismus jeder Couleur präventiv und repressiv mit allen Mitteln.

Erst vor wenigen Tagen eröffnete die Staatsregierung eine Informationsstelle gegen Extremismus in Nürnberg. Von Bayern ging die Initiative zum NPD-Verbot aus und die Staatsregierung fördert jüdische Einrichtungen, wo immer dies möglich ist. „Jüdisches Leben soll bei uns auch in Zukunft blühen und gedeihen“, so Ministerpräsident Horst Seehofer bei der Feier zum 10-jährigen Bestehen der Münchner Synagoge. „Unsere Grundwerte sind nicht verhandelbar. Dazu gehört der Kampf gegen Antisemitismus und Intoleranz genauso wie die Existenz und Sicherheit Israels. Für Rechtsradikalismus und Antisemitismus ist in Bayern kein Millimeter Platz.“