Der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). (Foto: Imago/epd)
Bundestag

Schärfere Atmosphäre spürbar

Wolfgang Schäuble (CDU) ist zum Bundestagspräsidenten gewählt worden, Hans-Peter Friedrich (CSU) erhielt das beste Ergebnis aller Vizepräsidenten. Die konstituierende Sitzung des 19. Deutschen Bundestages verlief deutlich konfrontativer als gewohnt.

Mit 501 Stimmen hat der 19. Deutsche Bundestag den bisherigen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zum neuen Bundestagspräsidenten gewählt. 173 Abgeordnete votierten in der konstituierenden Sitzung gegen Schäuble. Zu Schäubles Stellvertretern wurden Hans-Peter Friedrich (CSU, 507 Ja-Stimmen), Thomas Oppermann (SPD, 396), Wolfgang Kubicki (FDP, 489), Claudia Roth (Grüne, 489) und Petra Pau (Linke, 456) gewählt. Das schwache Ergebnis für Oppermann gilt nach Auffassung von Insidern als Denkzettel für seine überaus suspekte Rolle in der Edathy-Affäre Anfang 2014, die zum Rücktritt Hans-Peter Friedrichs als Landwirtschaftsminister geführt hatte.

Demokratischer Streit ist notwendig, aber es ist Streit nach Regeln.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU)

Der AfD-Vizepräsidenten-Kandidat Albrecht Glaser fiel in drei Wahlgängen durch – mit 115, 123 und 114 Stimmen. Die Tatsache, dass Glaser jeweils deutlich mehr Stimmen erhielt als die 92 der AfD-Fraktion, erzeugte Raunen im Plenum. Denn alle Fraktionen hatten angekündigt, Glaser abzulehnen – wegen seiner Aussagen, der Islam sei aufgrund des Herrschaftsanspruchs der Scharia keine Religion und verdiene daher nicht den staatlichen Schutz der Religionsfreiheit nach Artikel 6 des Grundgesetzes. CDU/CSU-Fraktionschef Kauder begründete die Ablehnung zudem damit, dass die AfD auch Schäuble wegen dessen früherer Euro-Rettungspolitik ablehne.

Vorbild für die Gesellschaft

Der neugewählte Bundestagspräsident Schäuble ermahnte die Abgeordneten zu „Respekt und Fairness“.  Der Grundkonsens gehöre genauso wie die Auseinandersetzung zur parlamentarischen Demokratie. „Streit darf nicht nur sein, sondern es geht nur über Streit“, sagte Schäuble. „Demokratischer Streit, den müssen wir aushalten.“ Aber es müsse sich um „Streit nach Regeln“ handeln. Politische Gegner dürften nicht aufeinander einprügeln: „Das sollten wir auch nicht verbal tun“, so Schäuble. Die Debattenkultur im Bundestag müsse prägend für die ganze Gesellschaft sein. Demokratische Verfahren müssten eingehalten werden, die so zustande gekommenen Entscheidungen dürften „nicht als illegitim oder verräterisch“ denunziert, sondern müssten von allen respektiert werden, forderte Schäuble. Im Parlament schlage „das Herz unserer Demokratie“, so der Bundestagspräsident.

Ich warne davor, Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder zu stigmatisieren.

Alterspräsident Hermann-Otto Solms (FDP)

Alterspräsident Hermann Otto Solms (FDP) appellierte an die Abgeordneten, Selbstbewusstsein und Fairness zu zeigen. „Der Bundestag wählt seine Regierung und nicht die Regierung ihren Bundestag“, sagte Solms. „Die Entscheidung der Bevölkerung haben wir zu akzeptieren“, so der FDP-Politiker. „Ich warne davor, Sonderregelungen zu schaffen, auszugrenzen oder zu stigmatisieren. Wir alle haben das gleiche Mandat, gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten.“ Alle strittigen Themen gehörten in den Bundestag, wo der Streit demokratisch ausgetragen werden müsse. Außerdem mahnte Solms eine Reform des Wahlrechts an: Zur Not solle das alte Wahlrecht mit einer verfassungsändernden Mehrheit wieder in Kraft gesetzt werden.

„Jamaika“ stimmte bereits gemeinsam

Der 19. Deutsche Bundestag hat ein völlig anderes Gesicht als der vorhergehende: 289 der 709 Abgeordneten sind neu im Parlament, das sind knapp 41 Prozent. Wegen der hohen Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten ist das Parlament aufgebläht, mit 709 Mitgliedern ist er nach dem Volkskongress in China das zweitgrößte Parlament der Welt – und gleichzeitig das größte frei gewählte Parlament. Mit sechs Fraktionen und sieben Parteien ist er auch ungewöhnlich zersplittert. Vor allem wegen des erstmaligen Einzugs der AfD, der Schwächung der Volksparteien und der Stärkung der Ränder lief die konstituierende Sitzung anders ab als sonst: Bereits nach der Rede des Alterspräsidenten Hermann-Otto Solms (FDP) wurde über drei Geschäftsordnungs-Anträge von SPD, AfD und Linkspartei abgestimmt – eine Mehrheit aus CDU/CSU, FDP und Grünen verwies diese Anträge in den Ältestenrat.

Das Bild dieser ersten Abstimmungen der neuen Legislaturperiode nahm nach Auffassung vieler Beobachter bereits die geplante „Jamaika“-Koalition vorweg. Umgekehrt stimmten in zwei Fällen SPD, Linke und AfD gemeinsam gegen die Überweisung der Anträge in den Ältestenrat, was im Plenum für Raunen sorgte. Nur der AfD-Antrag wurde allein von der AfD gegen die überwältigende Mehrheit des Hauses unterstützt.

AfD wirft sich in Opfer-Pose

Unüblich war die Nominierung des 76 Jahre alten Hermann Otto Solms als Alterspräsident. Der älteste Abgeordnete des Bundestags ist nämlich der 77-jährige Wilhelm von Gottberg (AfD), langjähriger Präsident der Landsmannschaft Ostpreußen und Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen. Doch noch der alte Bundestag hatte sich auf eine Änderung der Geschäftsordnung verständigt und den am längsten amtierenden Abgeordneten als Alterspräsidenten definiert – dieser wäre Wolfgang Schäuble gewesen, der seit 1972 im Bundestag sitzt. Doch nachdem Schäuble als Bundestagspräsident nominiert worden war, bat er den seit 1980 mit einer Unterbrechung amtierenden Abgeordneten Solms, das Amt des Alterspräsidenten zu übernehmen.

Wichtiger als alles andere ist, dass die demokratischen Parteien im Blick auf die Wähler der AfD keinen Zweifel daran lassen: Wir haben verstanden.

Historiker Heinrich August Winkler

Dieses Manöver diente der AfD dazu, den etablierten Parteien vorzuwerfen, sie hätten der Partei die Parlamentseröffnung durch ein „durchsichtiges Manöver“ vorenthalten. Auf diese Weise stilisierte sich die AfD erneut zum Opfer der „Systemparteien“. Einen Vorgeschmack auf diese neue, scharfe Tonlage im Bundestag lieferte der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann: Er stellte die AfD in seiner Rede in eine Reihe mit Nazi-Opfern, als er darauf hinwies, dass nur Hermann Göring 1933 die seit 1848 bestehende Tradition der Alterspräsidenten in deutschen Parlamenten unterbrach, um die Kommunistin Clara Zetkin zu verhindern.

Wunsch nach harten Debatten

Der Historiker Heinrich August Winkler warnte in der Bild-Zeitung, die Debattenkultur werde sich massiv verändern. Die AfD „mit ihren nationalistischen, antiwestlichen, antiliberalen Tiraden“ erinnere stärker an die Deutschnationalen der Weimarer Zeit als an die NSDAP, so Winkler. Daher sei es sachlich und taktisch falsch, die AfD als Neonazis zu brandmarken, schrieb der der SPD angehörende Historiker unter Verweis auf den früheren Grünen-Chef Joschka Fischer. Vielmehr komme es aber darauf an, wie die übrigen Parteien darauf reagierten, so Winkler. Sie müssten klar machen: „Wir haben verstanden“, denn sie hätten es sich im Parlament „oft zu einfach gemacht“ und Probleme der Bevölkerung „geleugnet, verdrängt oder schöngeredet“ – vor allem bei innerer Sicherheit, Integration und Migration.

Ganz ähnlich argumentierte der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider: Wenn im Familien- und im Kollegenkreis harte Debatten über strittige Fragen geführt werden, diese aber im Bundestag ausfielen, verlören die Politiker an Glaubwürdigkeit. „Der Bundestag muss wieder zur Bühne der politischen Auseinandersetzungen werden, und nicht TV-Shows oder Einzelinterviews“, so Schneider. Scharfe Kritik übte Schneider – die neue Oppositionsrolle der SPD demonstrierend – an Bundeskanzlerin Merkel: Ihr konsensorientierter Politikstil sei „der Hauptgrund dafür, dass wir jetzt eine rechtspopulistische Partei im Bundestag sitzen haben“. Damit verschwieg Schneider freilich die Mitverantwortung der bisher mit Merkel koalierenden SPD.