Obwohl sich Angela Merkel für „Die Mitte“ hält, lief ihr bei der Bundestagswahl genau die bürgerliche Mitte weg. (Foto: Imago/Müller-Stauffenberg)
Wahl-Studie

Sorge um die bürgerliche Mitte

Die etablierten Parteien verloren nicht nur Nationalkonservative und Protestwähler an die AfD, sondern auch große Teile der „Bürgerlichen Mitte“, praktisch das Rückgrat der Gesellschaft. CDU und CSU verloren rund 15 Prozentpunkte in diesem Milieu.

Die etablierten Parteien haben bei der Bundestagswahl laut einer Studie nicht nur bei den Konservativen Wähler verloren, sondern auch massiv in der bürgerlichen Mitte. Demnach haben 40 Prozent der Wahlberechtigten dieser Gruppe ihre Stimme gar nicht abgegeben oder die AfD gewählt. CDU/CSU verloren in dieser Gesellschaftsgruppe bei der Wahl vor gut zwei Wochen 15 Prozentpunkte, während die AfD um den gleichen Wert zulegte.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. „Die etablierten Parteien verlieren in der bürgerlichen Mitte deutlich an Terrain. Der Kampf um die Mitte hat sich massiv verschärft“, erklärte der Autor der Studie, Robert Vehrkamp. Die „Bürgerliche Mitte“ in Deutschland als soziologisch definierte Gruppe umfasste 2015 laut dem „Sinus“-Institut für Markt- und Sozial-Forschung rund 9,8 Millionen Menschen oder 13,9 Prozent der Bevölkerung Deutschlands über 14 Jahren. Damit ist diese Gruppe neben den „Hedonisten“ und den „Traditionellen“ eine der stärksten unter den zehn von „Sinus“ definierten soziologischen Gruppen.

Bürgerliche Mitte: Leistungsorientiert, gesetzestreu, fleißig

Die „Sinus“-Definition der „Bürgerlichen Mitte“ lautet: „Der leistungs‐ und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream: generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung; Wunsch nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen.“ Mit anderen Worten: Die bürgerliche Mitte ist – neben wenigen anderen Gruppen – praktisch das Rückgrat der Gesellschaft: diejenigen, die sich freiwillig an Gesetze halten und durch fleißige Arbeit gesellschaftlich aufsteigen wollen. Die „Bürgerliche Mitte“ gehört sozial gesehen der mittleren und unteren Mittelschicht an und unterscheidet sich vor allem dadurch von den „Etablierten Konservativen“ (obere Mittel- und Oberschicht) und den „Traditionellen“ (Unterschicht), mit denen sie ansonsten die Werte wie Leistungsbereitschaft und Orientierung am Lebensstandard teilen. Diese drei Gruppen sind auch traditionelle Stammwähler von CDU und CSU.

In der bürgerlichen Mitte gibt es eine Erosion, darum müssen sich die etablierten Parteien kümmern. Sonst werden sie das verloren gegangene Terrain nicht wieder zurückgewinnen.

Robert Vehrkamp, Autor der Bertelsmann-Studie

Die „Bürgerliche Mitte“ ist auch sehr fest im kirchlichen Leben verankert, erklärt das „Sinusmilieu-Pastoral-Lexikon“ von kath.de: „Da sich die Bürgerliche Mitte in Vereinen, Kindergartenbeiräten und ebenso in kirchlichen Gremien engagiert, sind sie die tragende Gruppe der Pfarrei. Zudem sind sie familienorientiert und daher an dem Sozialisationssystem der Pfarrei über Krabbelgruppen, Kindergarten, Erstkommunionvorbereitung, Messdiener, Firmung, Ehesakrament bis hin zur Beerdigung mit ihrem Lebensentwurf am nächsten.“

Tiefer Riss

Allerdings gibt es genau in dieser gesellschaftlich überaus wichtigen Gruppe eine wachsende Überforderung und Abstiegsängste. „In der bürgerlichen Mitte gibt es eine Erosion, darum müssen sich die etablierten Parteien kümmern. Sonst werden sie das verloren gegangene Terrain nicht wieder zurückgewinnen“, sagte Studienautor Vehrkamp. Der neue Riss in dieser Schicht erstreckt sich laut der neuen Bertelsmann-Studie zwischen denen, die gesellschaftliche und kulturelle „Modernisierungen“ befürworten oder ablehnen. Mit „Modernisierungen“ dürften neben den sozialen Folgen der Digitalisierung auch gesellschaftliche Umbrüche gemeint sein – wie etwa massiver Zuzug von Moslems oder die Homo-Ehe. Die AfD hat genau bei diesen Modernisierungs-Ablehnern der bürgerlichen Mitte den stärksten Zuspruch.

Die AfD wurde ganz überwiegend von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturellen Modernisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen.

Robert Vehrkamp

Mehr noch: 65 Prozent aller AfD-Wähler kommen aus Milieus, die eher modernisierungsskeptisch sind. Damit habe die AfD im Parteienspektrum ein „Alleinstellungsmerkmal“, heißt es in der Studie. „Die AfD wurde ganz überwiegend von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturellen Modernisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen“, betont Vehrkamp. Die Wähler aller anderen Parteien im Bundestag sind dagegen in der Mehrheit Befürworter von gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierungen: Bei der CDU/CSU sind es 52 Prozent, bei der SPD 56, der FDP 59, der Linken 62 Prozent und den Grünen 72 Prozent.

CDU-Linkskurs macht auch bürgerliche Mitte heimatlos

Allein dieser Wert zeigt den über Jahrzehnte währenden Linksruck der CDU, der sich mittlerweile auch soziologisch messen lässt: Angela Merkels Kurs hat im Endeffekt nicht nur die Konservativen, sondern auch die bürgerliche Mitte politisch heimatlos gemacht. Als Folge findet sich die „Bürgerliche Mitte“ in beiden möglichen Bundes-Koalitionen kaum wieder: Eine große Koalition aus Union und SPD würde demnach nur noch 42 Prozent und ein Jamaika-Bündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen nur 39 Prozent aller Wahlberechtigten aus der „Bürgerlichen Mitte“ repräsentieren.