Muslima mit Burkas sitzen auf einer Bank in der Innenstadt München. (Bild: imago/Ralph Peters)
Integration

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Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Bayerns Integrationsbeauftragte Kerstin Schreyer möchte sich besonders um Frauen mit Migrationshintergrund kümmern. Sie warnt davor, die Zuwanderungsdebatte auf Flüchtlinge und den Islam zu reduzieren.

Seit einhundert Tagen amtiere ich als Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung. Das ist ein guter Zeitpunkt für eine erste Bestandsaufnahme. In den vergangenen Wochen und Monaten habe ich ganz Bayern bereist, unzählige Menschen kennengelernt und Gespräche geführt und mir ein Bild gemacht vom Stand der Integration in Bayern. Wo liegen die großen Herausforderungen der Zukunft? Was läuft gut und wo können wir noch besser werden? Welche Akzente möchte ich setzen?

Was macht Bayern zum Land der gelingenden Integration?

Nun wäre es sicher vermessen, von einer ersten Zwischenbilanz zu sprechen. Aber zwei Erfahrungen habe ich bereits gemacht. Zum einen habe ich erlebt, wie gut Integration in Bayern funktioniert. Der Freistaat ist das Land der gelingenden Integration. Aber warum integrieren sich Menschen mit Migrationshintergrund hier schneller und leichter als anderswo? Sind es die ausgeprägte kulturelle Identität des Freistaats und un­ser Wertefundament, die den Menschen, die zu uns kommen, die Orientierung erleichtern, die keinen Zweifel daran lassen, in was sie sich da integrieren? Ist es die hervorragende wirtschaftliche Lage, die die Integration in den Arbeitsmarkt und damit Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe befördert? Oder ist es zuvorderst unser lebendiges Vereinswesen, das ausgeprägte bürgerschaftliche Engagement vieler Menschen im Freistaat, das jedem An­schluss ermöglicht, der Kontakt zur „Mehrheitsbevölkerung“ sucht? Das alles spielt eine Rolle und trägt seinen Teil zur gelingenden Integration bei.

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Aufgabe mit vielen Facetten

Zum anderen habe ich die Erfahrung gemacht, dass Integration ein Thema ist, das unendlich viele Facetten hat. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes in meinem Amt „ressortübergreifend“ tätig, denn es gibt kaum einen Bereich in der Politik, der nicht von den Migrationsbewegungen unserer Zeit und der Notwendigkeit, Menschen zu integrieren, betroffen ist. Ob es nun um die Integration in Kindergarten und Schule, um Spracherwerb, Bildung und Ausbildung, die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Raumplanung und Wohnungsmarkt, interkulturelle Kommunikation und Sensibilität in unseren Behörden, Gesundheitsvorsorge oder Religion geht – das sich durch Zuwanderung und die demographische Entwicklung verändernde Gesicht der Gesellschaft hat Auswirkungen auf nahezu alle Politikfelder.

Es gibt kaum einen Bereich in der Politik, der nicht von den Migrationsbewegungen betroffen ist.

Kerstin Schreyer, Integrationsbeauftragte

Aus diesem Grund verstehe ich mich auch ganz bewusst als „Integrationsbeauftragte“ und eben nicht als „Flüchtlings- oder Islambeauftragte“. Leider gewinnt man in den Debatten gegenwärtig immer wieder den Eindruck, dass es nur noch um die Bedürfnisse von und den Umgang mit Asylbewerbern und Flüchtlingen oder aber um die Frage geht, ob „der“ Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht. Dabei gerät allzu schnell in Vergessenheit, dass von den hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund nur ein Bruchteil als Flüchtling oder Asylbewerber zu uns gekommen ist oder bei uns lebt. Wo finden sich die knapp neunzig Prozent der Menschen mit nichtdeutschen Wurzeln wieder, die ganz regulär als Arbeitnehmer und mit ihren Familien hier leben?

Wie wollen wir zusammenleben?

Natürlich fühle ich mich auch für Asyl- und Flüchtlingspolitik zuständig und selbstverständlich ist der Umgang mit dem Islam ein Thema, das für die Zu­kunft Bayerns von herausragender Bedeutung ist – aber diese Bereiche sind eben nur ein Teil des Ganzen. Das eigentliche Bild ist viel größer. Und es ist ein Bild, bei dem man nicht den Fehler begehen sollte, mit Blick auf das Detail das große Ganze aus dem Sichtfeld zu verlieren. Natürlich sind Arbeit, Wohnung, Bildung und Ausbildung, Gesundheit, Infrastruktur elementar für gelingende Integration. Noch wichtiger ist aber sich über die Grundlagen des Zusammenlebens Gedanken zu machen. Was macht unsere Gesellschaft aus, was hält sie zusammen? Und da fällt mir – im Unterschied zu manchen Kollegen auf der politischen Linken – mehr ein als nur das Grundgesetz. Es ist auch unsere gemeinsame Kultur, und es sind vor allem die für mich nicht verhandelbaren Werte, die unsere Gesellschaft, die Bayern zu dem machen, was es ist. Es sind die Umgangsformen, un­sere Art zu leben, es ist die Wertschätzung von Toleranz, Menschenwürde, individueller Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Freiheit.

Keine Toleranz bei Fehlentwicklungen

Und diese Werte zeigen sich auch in unserem Umgang mit den Menschen, die aus anderen Kulturräumen zu uns kommen. Ich finde es unerträglich, wenn sich vermeintlich liberale Menschen nicht daran stören, dass manche Frauen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund hier auch nach dreißig Jahren noch kein Deutsch sprechen und von ihren Familien oder Teilen ihrer Community an gesellschaftlicher Teilhabe und Integration gehindert werden. Die Toleranz für solche Fehlentwicklungen geht mir deut­lich zu weit. Deshalb habe ich es mir auch zum Anliegen gemacht, mich besonders um diese Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund zu kümmern. Denn sie haben dieselben Chancen verdient wie alle anderen. Zudem sind Frauen häufig auch der Schlüssel zur Integration ihrer Familien – und damit der nachfolgenden Generationen. Wenn wir sie erreichen, wenn wir sie gewinnen, gelingt auch die Integration der Kinder und Jugendlichen. Und das ist, angesichts der demographischen Entwicklung – und dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel – in unser aller Interesse. Deshalb steht dieses Thema ganz oben auf meiner Agenda.