Bundesentwicklungsminister Gerd Müller beim Besuch einer vom Bund unterstützten Kinder- und Familienschutzzone für syrische Flüchtlinge in Jordanien. (Bild: Imago/epd)
Migration

Epochale Herausforderung

In München diskutierten Gerd Müller und Ursula von der Leyen vernetzte Sicherheitspolitik im Mittleren Osten und in Afrika: Wegschauen ist keine Option mehr. Verteidigungsministerium und Entwicklungshilfeministerium arbeiten so eng zusammen wie noch nie.

Die Bundeswehr kann zwar mit den Nato-Partnern in Afghanistan intervenieren und einer Bedrohung Herr werden. Aber sie kann dann nicht den gescheiterten Staat nachhaltig auf einen besseren Weg bringen – politisch, wirtschaftlich, sozial. Dazu braucht es Entwicklungshilfe – oder Entwicklungszusammenarbeit wie man heute lieber sagt. Die Entwicklungshelfer wiederum können gar nicht anfangen zu arbeiten, wenn es vor Ort nicht ein Minimum an Sicherheit gibt und brauchen dafür eben die Soldaten. Das ist kurz zusammengefasst, das was man in der Außen- und Sicherheitspolitik unter „vernetztem Ansatz“ versteht: Alle arbeiten zusammen: Sicherheitspolitiker, Entwicklungspolitiker, Diplomaten  und am besten noch die Wirtschaft, um in einer Krisenregion Sicherheit zu erhalten und sie zu stabilisieren – in Afghanistan, im Irak oder in Mali.

Team-Arbeit im Kabinett: Gerd Müller und Ursula von der Leyen

Um solche Zusammenarbeit einmal aus erster Hand erläutern zu lassen, haben die Internationale Kommission und der Außen- und Sicherheitspolitische Arbeitskreis (ASP) der CSU Entwicklungshilfeminister Gerd Müller und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in den Münchner BMW-Pavillon am Lehnbachplatz zum CSU-Sicherheitskongress geladen: „Globalen Wandel gestalten – Welchen Beitrag leistet der vernetzte Ansatz?“. Die Veranstalter haben ganz bewusst ein neues Veranstaltungsformat gewählt, mitten in der Stadt, um den Wählern das Expertenthema nahe zu bringen. Der Erfolg gibt ihnen Recht: 400 Gäste folgten auf zwei Etagen Müllers und von der Leyens Ausführungen.

Erste spannende Erkenntnis: Die beiden Minister meinen es ernst. Vernetzung beginnt am Kabinettstisch. Und da arbeiten jetzt mit Müller und von der Leyen zwei Minister und zwei Ministerien so eng zusammen, wie es in der Geschichte ihrer beiden Häuser noch nie vorgekommen ist. Beide wissen, was sie an einander haben, schätzen den dynamischen Stil des Kollegen und verlassen sich aufeinander. In München traten Müller und von der Leyen sichtbar als Team auf. Den Soldaten und den Entwicklungshelfern kann es nur zu Gute kommen, wenn die Ressortchefs den kurzen Kommunikationsdraht pflegen: Wenn Müller und von der Leyen am Kabinettstisch etwas gemeinsam wollen, dann werden sie es auch bekommen.

Nach dem Krisen-Jahr 2015: Wegschauen ist keine Option mehr

Die große Migrantenkrise des vergangenen Jahres hat alles verändert, in Europa und in unser aller Nachdenken über heillose Regionen im Mittleren Osten oder in Afrika. Der Blick ist ein anderer geworden auf die lange Liste der sicherheitspolitischen Herausforderungen. Müller listet sie alle auf: gescheiterte Staaten, Krieg, Terror, Religionskonflikte, Bevölkerungsexplosion, Ernährungskrisen, Wasserverknappung, Rohstoffkonflikte, Epidemien, organisierte Kriminalität. Unvorhergesehenes kann dazu kommen. Wegschauen ist keine Option mehr. Der Westen muss proaktiv handeln, vor Ort, wenn ihm Sicherheit und Stabilität zuhause lieb sind. Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen, betont Gerd Müller. Was vor allem eines heißt: „Wenn wir die Probleme nicht dort lösen, wo sie sind, dann kommen die Probleme zu uns.“

Wenn wir die Probleme nicht dort lösen, wo sie sind, dann kommen die Probleme zu uns.

Entwicklungshilfeminister Gerd Müller

Die Probleme vor Ort lösen. Das unternimmt Müllers Entwicklungshilfeministerium schon lange. Der Minister zählt auf, was Deutschland alles leistet: In den vergangene zwei Jahren wurden die Mittel für die Hilfe in Krisenregionen verdreifacht; Deutschland ist einer der wichtigsten Finanziers des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Eindrucksvoll: Von deutschem Steuergeld werden über die UN-Organisation Unicef 7000 syrische Lehrer bezahlt, die in syrischen Flüchtlingslagern 100.000 Kinder unterrichten. Die syrischen Flüchtlinge sollen eine Bleibe-Perspektive erhalten, sagt Müller. Von ihnen selber hat er sich sagen lassen, dass sie unbedingt in der Nähe ihrer Heimat bleiben wollen.

Müller will Rückführungsprogramme ausbauen

Im Irak ist es in den vergangenen drei Monaten gelungen, 130.000 Flüchtlingen den Neuanfang in der Heimat zu ermöglichen. Mit 5000 Euro kann sich dort eine Familie Wohnung oder Haus wieder herrichten. Jeder Euro bewirkt dort, vor Ort, so viel wie 30 oder 50 Euro für einen Migranten in Deutschland.

Jeder in die Rückführung von Migranten investierte Euro ist also vielfaches bares Geld wert. „Deshalb werde ich die Rückführungsprogramme ausbauen“, verspricht Müller. Schon bald will er dazu ein ausgefeiltes Programm vorlegen. In München hat er schon einmal einige Eckpunkte offenbart: Zunächst geht es um Flüchtlinge, die sich noch in der Krisenregion selber befinden. Sie brauchen Hilfen für den Wiederaufbau. In Deutschland geht es dann etwa um die syrischen Kriegsflüchtlinge: Müller ist überzeugt, dass die meisten von ihnen wieder in Heimat zurückkehren wollen, wenn nur der Krieg beendet ist. Dann muss ihnen geholfen werden. Und schließlich sind da all jene vor allem afrikanischen Wirtschaftsmigranten, die keine Asyl- und Bleibeperspektive in Deutschland haben. Auch denen will Müller ein Programm anbieten: Gutschein, Rückführung, Ausbildung zuhause. Auf diese Weise seien schon Tausende zur Rückkehr bewegt worden.

Afrikas Bevölkerungsexplosion: bedrohliche Zahlen

Hilfe vor Ort und Rückführungsprogramme sind dringend. Denn das Thema Migration ist für die Europäer „eine epochale Herausforderung“, warnt Müller. Der Minister erinnert an bedrohliche demographische Zahlen: Bis zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung Afrikas auf 2,4 Milliarden Einwohner verdoppeln. Nigeria zählte 1992 etwa 100 Millionen Einwohner (1950: 38. Millionen). Heute sind es 190 Millionen. Im Jahr 2050 wird Nigeria mit 450 Millionen das drittbevölkerungsreichste Land der Erde sein. Im nördlichen Nachbarland Niger, das heute 20 Millionen zählt (1950: 2,5 Millionen; 2050: 70 Millionen) hat jede Frau im Schnitt sieben Kinder oder mehr. In Nigers westlichem Nachbarland Mali, ergänzt Ministerin von der Leyen, ist das Durchschnittalter der 17-Millionen-Bevölkerung (1950: 4,3 Millionen) 16 Jahre. 50 Prozent der Malier leben von weniger als 1,25 Dollar am Tag. Anderswo in Afrika ist es ähnlich oder schlimmer. Gerd Müller wird darum demnächst eine Art Marshall-Plan für Afrika vorlegen.

Wenn ich das nicht schaffe, dann kommen die zu Euch.

Ägyptens Staatspräsident Abd al-Fattah as-Sisi

Südlich der Sahara wächst der der Wanderungsdruck nach Norden: In Libyen befinden sich derzeit mindestens 200.000 afrikanische Migranten, weiß Müller: „Aber wir können dort keine Stabilität herbeiführen, weil es keine Sicherheit gibt“. Große Sorgen muss den Europäern auch Libyens Nachbarland Ägypten machen, warnt er: Dort strebt die Bevölkerung auf die 100 Millionen zu (1950: 21 Millionen), und zwei Drittel der Bevölkerung sind ohne Ausbildung und Arbeit. Präsident Abd al-Fattah as-Sisi weiß, dass genau hier seine Hauptaufgabe liegt. „Wenn ich das nicht schaffe, dann kommen die zu Euch“, zitiert ihn in München der deutsche Entwicklungshilfeminister.

Deutsche Verantwortung in der Welt

„Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen“, zitiert die Verteidigungsministerin Bundespräsident Joachim Gauck. Im Februar 2014 hat der das vor der Münchner Sicherheitskonferenz so formuliert. Die Weltpolitik hat ihm prompt Recht gegeben: Keinen Monat später annektierte Moskau die Krim – und von da an ging es weltpolitisch Berg ab, könnte man sagen. Moskau begann in der Ukraine einen „hybriden Krieg, der bis heute andauert“; drei Monate später eroberte die Terrorarmee des Islamischen Staat Mosul und setzte einen regelrechten Genozid an der irakischen Minderheit der Jesiden ins Werk. Auch hier galt sofort: Wegschauen ist keine Option mehr. Das Jahr 2015 und die Migrantenkrise zeigten dann auch für von der Leyen endgültig, dass solche sicherheitspolitischen Abstürze sofort auch Deutschlands Probleme sind..

Von der Leyen hat aus alledem Schlussfolgerungen zur vernetzten Sicherheitspolitik gezogen, zuhause und in der Krisenregion: Eine militärische Intervention braucht kluge Kooperation mit den Akteuren der Region. Die Menschen vor Ort wissen besser als der Westen, was sie brauchen, und sind bereit für ihre Heimat zu kämpfen – wie etwa die Kurden im Irak. Deutschland hat genau darum zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert an die kurdischen Peschmergas. Fast vom ersten Tag an hat auch Gerd Müllers Ministerium die Kurden bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützt, und die Bundeswehr hat tonnenweise Hilfsgüter geliefert – vernetzter Ansatz ganz praktisch. Wenn militärische Intervention Erfolg haben soll, muss sofort die Diplomatie auf die Akteure vor Ort einwirken und Konflikte entschärfen – um etwa der Ideologie des Islamischen Staates den Nährboden zu entziehen.

Deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungsunion

In Afrika, so von der Leyen, sind die Europäer zusammen gefordert: „Es braucht die Kraft eines ganzen Kontinents – Europas – um auf die Probleme Afrikas eine Antwort zu gerben.“ In labilen Sahelzonenstaat Mali etwa tut Deutschland schon viel: Müllers Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert gute Regierungsführung und investiert in Malis Landwirtschaft. Deutsche Polizeikräfte bauen Malis Polizei auf, die Bundeswehr hat zwei Drittel der malischen Armee ausgebildet. Berlin ist für Mali der viertgrößte bilaterale Geldgeber. Aber all das reicht nicht. Europa muss gemeinsam ran und in Afrika gemeinsam Sicherheit schaffen. Von der Leyen: „Das wird Milliarden und Abermilliarden kosten.“

Der Mittlere Osten und Afrika liegen vor unserer Haustüre, und die Amerikaner werden mehr von uns verlangen.“

Gerd Müller

Die Europäer werden darum beim Thema Sicherheit und Verteidigung enger zusammenarbeiten müssen. Womöglich macht die britische Brexit-Entscheidung das nun leichter. Denn die Briten, so von der Leyen, haben bislang jede Initiative in diese Richtung blockiert. Jetzt wird in Brüssel das Projekt einer deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungsunion studiert. Darüber wird bald etwas zu hören sein. Vernetzter Ansatz über den Rhein hinweg. Das ist auch darum zwingend, weil die USA in jedem Fall von den Europäern mehr Geld und mehr Einsatz fordern werden, ganz egal wer dort am 8. November zum Präsidenten gewählt werde, erinnert Müller: „Der Mittlere Osten und Afrika liegen vor unserer Haustüre, und die Amerikaner werden mehr von uns verlangen.“ Und schließlich werden die Europäer dringend zu einer gemeinsame Flüchtlings-, Asyl- und Ausländerpolitik finden müssen.

Vernetzung beim Thema Cyber-Krieg

Um ganz andere vernetzte Zusammenarbeit geht es beim Thema Cyber-Kriegführung. Jeden Tag erlebt die Bundeswehr 6500 Cyber-Angriffe auf ihre digitalen Netze. Die Angreifer wollen Daten absaugen, Kommunikation manipulieren und Infrastruktur zerstören, etwa auch im Energie- oder im Finanzsektor. Sorgen bereitet der Ministerin der Mangel an Experten auf dem Gebiet – bei der Bundeswehr, aber auch in der Wirtschaft. Im Cyber-Angriffsfall wird man darum die Experten aus beiden Bereichen zusammenführen müssen. Interessant: In Übungen geschieht das schon.