Zugegeben: Kritik aus den eigenen Reihen ist nichts Neues für Winfried Kretschmann. Der baden-württembergische Ministerpräsident ist nicht der „klassische Grüne“ – alleine schon sein aus tiefem katholischen Glauben erwachsenes Wertefundament kommt beim linken Flügel der Partei traditionell schlecht an. Jetzt hat sich Kretschmann in einem Zeitungsartikel zur politischen Lage in Deutschland geäußert – und dabei auch nicht mit Kritik an „seinen“ Grünen gespart.
„Kulturelle Hegemonie“ der Grünen trägt indirekt zu AfD-Erfolgen bei
In einem Gastbeitrag für Die Zeit geht der Ministerpräsident hart mit den Grünen und deren Ruf als „Vorschrifts- und Verbotspartei“ ins Gericht. „Anstatt Vorgaben für das gute Leben und die individuelle Lebensgestaltung zu machen, sollten wir uns auf den Kampf für eine gute Ordnung der Dinge konzentrieren“, mahnt Kretschmann dort. Die „gesellschaftliche Modernisierung“, die die Grünen nach Kretschmanns Ansicht anstreben, gehe vielen Menschen offenbar deutlich zu schnell. Zwar seien grüne Grundwerte wie der Atomausstieg oder alternative Familienmodelle mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Doch es gibt auch diejenigen, die diese Modernisierungen nicht wollen“, schreibt der baden-württembergische Regierungschef.
Anstatt Vorgaben für das gute Leben und die individuelle Lebensgestaltung zu machen, sollten wir uns auf den Kampf für eine gute Ordnung der Dinge konzentrieren.
Winfried Kretschmann
Aus dieser Überforderung entstehe ein „Gefühl des Kontrollverlusts und die Sehnsucht nach der alten Ordnung“, so Kretschmann. Daher müsse die Politik deutlich machen, „dass die neuen Freiheiten in der Lebensgestaltung ein Angebot und keine Vorgaben sind“. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Die Politik der Grünen nimmt die Leute nicht mit – und fördert damit Protestwähler, die sich dann womöglich für die AfD entschieden. Die „kulturelle Hegemonie“ der Grünen habe indirekt zum Aufstieg der AfD beigetragen, sagt Kretschmann.
Kretschmann verteidigt die „klassische Ehe“ – und erntet einen Shitstorm
Individualismus dürfe nicht zum Egoismus werden, schreibt Winfried Kretschmann weiter – und fängt sich mit dem Satz, der dann kommt, einen veritablen Shitstorm seiner Parteifreunde ein. „So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so.“
Gut, dass Winfried kaum Einfluss auf unser Bundesprogramm hat.
Rasmus Andresen, Fraktionsvize der Grünen in Schleswig-Holstein
Schon rein statistisch hat der baden-württembergische Ministerpräsident damit Recht. In rund 70 Prozent der knapp 8,1 Millionen deutschen Familien sind die Eltern verheiratet. Ein Blick in die sozialen Netzwerke beweist: Während Kretschmann bei Nicht-Grünen mit diesen Aussagen durchaus punkten kann – und seiner Partei dadurch auf der bürgerlichen Seite mehr Profil verschafft – ruft Kretschmanns Verteidigung der klassischen Ehe bei vielen Grünen-Mitgliedern Empörung hervor. Denn die Äußerung widerspricht der grünen Gender-Doktrin, die in immer absurderen Ausschweifungen unter das Volk gebracht werden soll – man erinnere sich nur an die politisch korrekten Wortkreationen mit Sternchen, das inflationäre Binnen-I, die Ampelfrauen, weiblich quotierte Straßennamen, gendergerechte Spielplätze oder geschlechtsneutrale Toiletten. Sprache zu verordnen, die Menschen damit zwangszubeglücken, das ist genau das, was Kretschmann beklagt.
Die Jugendorganisation der Partei aber, die Grüne Jugend, äußerte sich auf Twitter zu der Ehedebatte und verglich Kretschmann mit Erika Steinbach (CDU) – unter Grünen eine nahezu verhasste Persönlichkeit. Den Nachwuchspolitikern zufolge macht Kretschmann einen Fehler, wenn er die „heterosexuelle Ehe zur Norm und zur berechtigterweise bevorzugten Lebensform“ erkläre. Damit stelle er sich auch „gegen emanzipatorische Kämpfe“ und befeuere „den gesellschaftlichen Rollback“. Auch der schleswig-holsteinische Fraktionsvize Rasmus Andresen kritisierte Kretschmanns Äußerungen und teilte mit, es sei „gut, dass Winfried kaum Einfluss auf das Bundesprogramm“ habe. Und dann folgt das Totschlagargument: „Seine Aussagen sind Kniefall vorm Rechtspopulismus.“
Kretschmann kennt die Kritik aus den eigenen Reihen
Kretschmann selbst lässt sich von Gegenwind aus den eigenen Reihen ohnehin selten beirren. Seit März regiert er in Baden-Württemberg mit einer grün-schwarzen Koalition – ein Schritt, der beim linken Parteiflügel schon damals Empörung hervorgerufen hatte. Im Beitrag für Die Zeit ruft Kretschmann seine Parteifreunde jetzt dazu auf, ihre Kernthemen anders zu vermitteln. „Wir müssen eine neue Tonlage finden, getragen von Klarheit und Respekt“, so der 68-Jährige. „Wenn wir unsere Politik ohne Besserwisser-Gestus erklären, verständlich in der Sprache, klar in der Sache und mit einem festen Wertekompass, dann bin ich zuversichtlich.“ Zuversichtlich, dass dies der richtige Weg für die Partei ist, sind außer Winfried Kretschmann aber bislang offenbar nur wenige in den Reihen der Grünen.