Zuwanderung übers Mittelmeer: Migranten werden sicher in die italienischen Häfen gebracht. (Bild: Imago/Italy Photo Press)
Migrantenkrise

Politik für die Schlepper?

Berlins Angebot, mehr Migranten aus Griechenland und Italien zu übernehmen, ermutigt neue Flüchtlingsströme und hilft den Schleppern, kritisiert Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Die Zahl der Flüchtlingsboote über die zentrale Mittelmeer-Route schwillt wieder an: Italiens Aufnahmelager sind am Limit, Griechenlands Hotspots überfüllt.

Bittere Vorwürfe aus Wien: Im Interview mit der Welt am Sonntag wirft Österreichs Außenminister Sebastian Kurz der Regierung in Berlin und Bundeskanzlerin Angela Merkel implizit vor, durch falsche Migranten-Politik das Geschäft der Schlepper und Schleuser zu fördern und weitere Flüchtlingsströme auszulösen.

Vorwürfe aus Wien

Kurz kritisiert Merkels Ankündigung, künftig monatlich mehrere hundert Migranten jeweils aus Italien und Griechenland nach Deutschland zu holen, scharf als „falsche Politik“. Das Ziel sei offenbar, die beiden südeuropäischen Staaten zu entlasten. Aber eine solche Politik werde leider genau das Gegenteil erreichen, so Kurz. Denn dadurch würden vermutlich noch mehr Flüchtlinge nach Griechenland und Italien kommen und diese Länder noch stärker belasten. Kurz: „Solange man den Migranten das Gefühl gibt, dass es sich lohnt, nach Italien und Griechenland zu kommen, weil man am Ende in Deutschland landen kann, fördert man das Geschäft der Schlepper und löst weitere Flüchtlingsströme aus.“ Klares Urteil des österreichischen Außenministers: „Diese Politik ist falsch.“

Wer künftig auf hoher See gerettet wird, sollte nicht auf das Festland von Italien oder Griechenland gebracht, sondern nach Libyen, Ägypten oder in andere Transitländer zurückgestellt werden.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz

Die EU-Flüchtlingspolitik müsse sich radikal ändern, fordert Kurz: „Wir brauchen ein neues europäisches Asylsystem, das illegale Migration und Massenzustrom von Flüchtlingen nicht wie bisher fördert, sondern verhindert.“ Wer künftig auf hoher See gerettet werde, solle nicht nach Italien oder Griechenland gebracht, sondern nach Libyen, Ägypten oder in andere Transitländer zurückgestellt werden. Kurz: „Das Ziel der europäischen Politik muss nicht die Umverteilung von Flüchtlingen in Europa sein, sondern die EU-Außengrenzen zu schützen, um illegale Migration zu unterbinden.“

Wir haben jetzt das Phänomen, dass viele Boote, die sich von Libyen aus auf den Weg machen, Schlauchboote sind, die gar nicht im Stande sind, bis zur italienischen Küste durchzukommen. Das heißt, hier wird von den Schleppern mit der Rettung auf hoher See schon kalkuliert.

Sebastian Kurz

Migrantenzahlen steigen wieder

Aktuelle Meldungen und Zahlen geben Kurz recht. Die Migrantenkrise droht, wieder an Tempo und Druck zu gewinnen. Allein am vergangenen Montag (3. Oktober) wurden auf der zentralen Mittelmeer-Route wieder 6055 Migranten aus 32 Schlauchbooten, fünf Kähnen und von zwei Flößen „gerettet“ – aus Gewässern nur 55 Kilometer vor Tripolis. Ein EU-Rettungsschiff nahm dabei 725 Migranten aus einem einzigen Gummi-Schlauchboot auf. Tags darauf nahmen EU-Schiffe über 4600 Migranten auf, wieder unmittelbar vor der libyschen Küste – über 10.000 zumeist schwarzafrikanische Migranten in nur zwei Tagen.

Dazu Sebastian Kurz: „Wir haben jetzt das Phänomen, dass viele Boote, die sich von Libyen aus auf den Weg machen, Schlauchboote sind, die gar nicht im Stande sind, bis zur italienischen Küste durchzukommen. Die haben nur fünf oder zehn Liter Benzin getankt. Das kann sich nicht ausgehen. Das heißt, hier wird von den Schleppern mit der Rettung auf hoher See schon kalkuliert.“ Die EU und Frontex, bedeutet das, bekämpfen vor der Küste Libyens nicht die Schlepper, sondern betreiben deren Geschäft, heizen es regelrecht an, schon lange.

Im ersten Quartal 2016 war der Migrantenstrom über die zentrale Mittelmeer-Route stärker als in irgend einem ersten Quartal seit 2007, dem Beginn der Frontex-Aufzeichnung.

Frontex

Drei Viertel aller Migranten, die im ersten Quartal 2016 die zentrale Mittelmeer-Route über Libyen nach Italien nahmen, kamen aus Westafrika, berichtet die EU-Grenzschutzagentur Frontex in ihrem Quartalsbericht. Besonders auffällig war die starke Zunahme von Migranten aus Nigeria: Während ein Jahr zuvor neun Prozent der illegalen Migranten auf dieser Route aus Nigeria kamen, waren es in den ersten Monaten diesen Jahres 18 Prozent. Beunruhigend: „Im ersten Quartal 2016 war der Migrantenstrom über die zentrale Mittelmeer-Route stärker als in irgend einem ersten Quartal seit 2007, dem Beginn der Frontex-Aufzeichnung.”

In Libyen warteten 235.000 Personen nur auf eine Gelegenheit, nach Italien zu kommen, warnte Mitte September der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Martin Kobler. Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Drian sprach vor einigen Monaten gar von 800.000 Migranten, die an Libyens Mittelmeerküste auf die Chance zur Überfahrt nach Europa warteten.

Italiens Aufnahmesystem am Rande der Implosion

Was etwa dazu geführt hat, dass jetzt in Italien die Migranten-Situation außer Kontrolle zu geraten droht, berichtet die Pariser Tageszeitung Le Figaro. Seit Jahresanfang haben 142.000 Migranten Siziliens und Italiens Küsten erreicht. In der letzten Septemberwoche wurde in italienischen Auffanglagern und Registrierungszentren die Schwelle von 160.000 Migranten überschritten. Le Figaro: „Italiens Hilfs- und Aufnahmesystem ist am Rande der Implosion.“

In seinem andauernden Streit mit Brüssel über Roms Haushaltsdefizit erinnert Renzi oft an die Einwanderungskosten, um größere Flexibilität einzufordern.

Le Figaro

Zwei Faktoren verschärfen in Italien die Lage: Weil die Nachbarländer Frankreich, Schweiz und Österreich die Grenzen scharf kontrollieren, können die Migranten nicht mehr weiter nach Norden ziehen. Zugleich hat Rom offenbar schon seit Monaten Zahlungen an die Betreiber der Lager eingestellt. Italienischer Presse zufolge ist Rom mit Zahlungen über 600 Millionen Euro im Rückstand. Bis Ende des Jahres wird sich die Schuld um weitere 400 Millionen Euro erhöhen. Dahinter steckt kein verwaltungstechnisches Problem, sondern ein politisches, deutet Innenminister Angelino Alfano an: „Wenn der Finanzminister uns das Geld gibt, dann werden wir zahlen.“ Rom nutze die Migrantenkrise gegen Brüssel als Druckmittel im Dauerstreit um das italienische Haushaltsdefizit, deutet Le Figaro an und zitiert Premierminister Matteo Renzi: „Wir haben die Hotspots gebaut und die Grenzen geschlossen, Europa hat Italien gegenüber eine große Schuld aufgehäuft.“

Griechenland: Über 60.000 Migranten

Zuspitzung auch in Griechenland: Auf den griechischen Ägäis-Inseln kamen von Montag (3. Oktober) auf Dienstag 280 illegale Migranten an, innerhalb von vier Tagen über 600. Eine Woche zuvor waren es im gleichen Zeitraum nur 90 gewesen – eine Steigerung um 500 Prozent. Auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Kos, Leros und Samos befinden sich jetzt fast 15.000 Migranten – doppelt so viele wie es auf den Inseln Aufnahmeplätze gibt. Auf der Insel Chios (50.000 Einwohner) werden mehr als 4000 Migranten gezählt – bei einer Kapazität von 1100 Plätzen in zwei Auffanglagern. Die Stimmung auf der Insel wird explosiv: Vor kurzem demonstrierten dort Tausende gegen die prekäre Situation.

Griechenland muss mehr zurückführen. Dann können auch mehr Schutzbedürftige von der Türkei nach Deutschland geholt werden.

Thomas de Maizière, Bundesinnenminister

Athen will nun Migranten, die eigentlich in die Türkei zurückgeführt werden sollen, auf das Festland bringen, kündigte Griechenlands Europaminister Nikos Xydakis an: „Wir werden in Kürze damit beginnen, eine große Zahl von Migranten auf das Festland zu bringen, um die Inseln in der Ost-Agäis zu entlasten.“ Problem: In Griechenland sitzen schon mindestens 60.000 Migranten fest. Nur etwa 500 der illegalen Migranten konnten seit Abschluss des Migranten-Abkommens zwischen der EU und Ankara in die Türkei zurückgeführt werden, berichtet wieder Le Figaro. Bundesinnenminister Thomas de Maizière forderte denn auch Athen dringend auf, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei effektiver umzusetzen: „Griechenland muss mehr zurückführen. Dann können auch mehr Schutzbedürftige von der Türkei nach Deutschland geholt werden.“ Unterdessen lehnte Xydakis eine Rücknahme von Migranten, die über Griechenland in andere EU-Länder gekommen sind, strikt ab − eine Verletzung des Schengener Abkommens und der Dublin-Regeln. Zugleich wächst der Druck auf die geschlossene Balkanroute: Kürzlich überquerten in einer einzigen Nacht über 200 Migranten den griechisch-türkischen Grenzfluss Evros.

Deutschland: 91.331 Asylanträge und 18.100 Neuankömmlinge im August

Neue Rekordzahlen meldet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) auch für Deutschland: Im vergangenen August wurden hierzulande 91.331 Asylanträge gestellt – gegenüber 36.422 im August 2015 oder 57.816 im Rekord-Monat November des Jahres 2015. Insgesamt wurden von Januar bis einschließlich August 2016 beim Bundesamt 577.065 Asylanträge gestellt, gegenüber 476.649 Anträgen im gesamten Jahr 2015. Als Ursache für die weiterhin stark wachsende Zahl von Asylbewerbungen bei eigentlich geringeren Migrantenankünften gibt das Bundesamt an, dass Ende 2015 zwischen 300.000 und 400.000 Migranten zwar schon registriert waren, aber noch keine Asylanträge hatten stellen können. Diese Fälle werden noch immer abgearbeitet.

Mindestens 500.000 Syrer werden per Familienzusammenführung nach Deutschland kommen.

Laut Angaben des Bundesinnenministeriums wurden von Anfang Januar bis Mitte Dezember diesen Jahres 210.000 Migranten in Deutschland neu registriert – knapp 120.000 davon allein im Januar und Februar, vor Schließung der Balkanroute. Seither kommen jeden Monat etwa 13.000 bis 14.000 Migranten hinzu. Offenbar bei steigender Tendenz: Wiederum nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind im August rund 18.100 Migranten neu eingereist. Überhaupt nicht berücksichtigt sind bei all diesen Zahlen 500.000 Syrer, die, wie die Wochenzeitung Die Zeit kürzlich mit Verweis auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erinnerte, per Familienzusammenführung nach Deutschland kommen sollen „Es gibt über diesen Punkt [Familienzusammenführung, A.d.V.] in Deutschland keine Debatte“, notierte Mitte Juli Frankreichs Polizeipräsident verwundert in einem Bericht für Innenminister Bernard Cazeneuve (Le Figaro).

EU-Verträge erlauben eine Obergrenze − Berlin muss nur wollen

Die von Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer geforderte Migranten-Obergrenze von 200.000 ist damit nach wie vor höchst aktuell. Eine solche Obergrenze für Flüchtlinge und Asylbewerber kann mit EU-Recht vollständig vereinbar sein, erläuterte jetzt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung mit Blick auf Österreich. Das Nachbarland hat Anfang des Jahres für 2016 zwar keine Obergrenze, aber einen „Richtwert“ für die maximale Zahl von Asylbewerbern fixiert: 37.500 oder 1,5 Prozent der Bevölkerung innerhalb von vier Jahren.

Dieser Titel berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.

Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Um die Sache Brüssel-fest zu machen hat Wien einen einfachen Trick benutzt: Ein kaum zweieinhalb Zeilen langer Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union überlässt den Mitgliedstaaten die Zuständigkeit „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Österreichs Parlament, der Nationalrat, hat darum kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das der Regierung in Wien das Recht gibt, per Verordnung festzustellen, dass die Öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit gefährdet seien – etwa wenn mehr als 37.500 Asylbewerber kommen. Die österreichische Bundesregierung darf sich dann über EU-Richtlinien und Verordnungen hinwegsetzen. Deutschland könnte ähnlich verfahren. Berlin müsste nur wollen.