„Welche Rolle muss unser Land in der Sicherheitspolitik spielen?“
Auf Drängen der CSU hin hat das Bundesverteidigungsministerium ein neues Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr vorgelegt. Sich weltweit auftürmende sicherheitspolitische Risiken verlangen dringend danach. Die Bundeswehr soll mehr Geld erhalten und kann auch im Innern Amtshilfe leisten. Weißbuch-Prognose: Russland bleibt eine Herausforderung für Europas Sicherheit.
Weißbuch Verteidigung

„Welche Rolle muss unser Land in der Sicherheitspolitik spielen?“

Auf Drängen der CSU hin hat das Bundesverteidigungsministerium ein neues Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr vorgelegt. Sich weltweit auftürmende sicherheitspolitische Risiken verlangen dringend danach. Die Bundeswehr soll mehr Geld erhalten und kann auch im Innern Amtshilfe leisten. Weißbuch-Prognose: Russland bleibt eine Herausforderung für Europas Sicherheit.

Ein schöner Erfolg für die CSU: 2014 hielt die Landesversammlung des Außen- und Sicherheitspolitischen Arbeitskreises (ASP) der CSU es für dringend geboten, das damals schon acht Jahre alte Sicherheitspolitische Weißbuch durch ein neues zu ersetzen. Der ASP-Landesvorsitzende Florian Hahn gab die CSU-Anregung sogleich an seine Fraktionskollegin weiter, an Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Es dauerte keine 14 Tage, dann ereilte ihn in New York eine SMS vom Absender vdL: „Eine gute CSU-Idee, wir werden das Weißbuch auf den Weg bringen.“

Welche Rolle soll, ja muss unser Land in der Sicherheitspolitik spielen?

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen

Jetzt liegt das Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr vor, und der Fertigstellungstermin könnte nicht besser gewählt sein. Denn soviel Sicherheitspolitik war noch nie, könnte man sagen. Von allen Seiten prasseln auf die Deutschen mehr sicherheitsrelevante Themen ein, als ihnen lieb sein kann: Brexit, Nato-Gipfel, Ukraine, Syrien, Völkerwanderung und dazu nicht enden wollender islamistischer Großterror, zuletzt in Nizza. Und alles hat Auswirkungen auf Deutschland. Dass gleichzeitig der Bundestag der Bundeswehr zwei Auslandsmandate erteilt, wird über alle dem kaum noch registriert. Unguter Kontrast: Es passiert zwar immer mehr Sicherheitspolitik, aber Deutschland kann immer weniger mithalten. Denn die Bundeswehr hat jetzt einen schon 25 Jahre währenden Schrumpfungsprozess hinter sich. Da ist eine Trendwende fällig – und das Weißbuch soll sie markieren.

Die Sicherheit maritimer Versorgungswege und die Garantie der Freiheit der hohen See sind für eine stark vom Seehandel abhängige Exportnation wie Deutschland von herausragender Bedeutung.

Seit einigen Jahren schon diskutiert das Land über Deutschlands neue Rolle in der Welt, über größere sicherheitspolitische Verantwortung und über Führung, der sich das größte EU-Land immer weniger entziehen kann. Doch die Ereignisse entwickeln sich dabei schneller als die Diskussion: Die Auslandseinsätze häufen sich. In Litauen ist Deutschland soeben lead-nation eines multinationalen Nato-Kontingents in Bataillonsstärke geworden. Als das „oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ und als „wesentlicher Leitfaden für die sicherheitspolitischen Entscheidungen und Handlungen unseres Landes“ will das Weißbuch jetzt sozusagen das große strategische Gesamtkonzept nachliefern – und endlich einmal vorausschauen: Das Weißbuch soll keine bloße Zustandsbeschreibung geben, erläutert Géza Andreas von Geyr, Leiter der Abteilung Politik im Verteidigungsministerium und maßgeblicher Koordinator bei der Verfassung des Grundlagendokuments. Das Verteidigungsministerium hofft vielmehr, die großen sicherheitspolitischen Trends für die nächsten fünf bis zehn Jahre richtig erfasst zu haben. Was nicht heißen soll, dass es bis zum Erscheinen des nächsten Weißbuchs wieder zehn Jahre dauern wird. Denn die Weltpolitik beschleunigt sich eher, als dass sie sich verlangsamt.

Standort und Interessen

„Politik ist die Wissenschaft, mit angemessenen Mitteln, stets in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen zu handeln. Um in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen handeln zu können, muss man sie kennen. Und um zu dieser Kennntis zu gelangen, bedarf es des Studiums, der Sammlung der Gedanken und des Fleißes.“ Friedrich der Große hat das 1752 in seinem politischen Testament formuliert – und der Preußenkönig verstand etwas von Politik und von den eigenen Interessen.

Aus unserer geographischen Lage in der Mitte Europas folgen unsere Interessen.

Anfang aller Politik, erst recht Sicherheitspolitik, sind Selbstkenntnis und Selbsteinordnung. Damit beginnt denn auch das Weißbuch. Es beschreibt Deutschland als eine weltoffene, global vernetzte Exportnation, die auf Offenheit und Vernetzung extrem angewiesen ist, auf gesicherte Versorgungs- und Handelswege, stabile Märkte und funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme. Daraus und aus „unserer geographischen Lage in der Mitte Europas“ folgen Deutschlands Werte und sicherheitspolitische Interessen: „Schutz der Bürger sowie der Souveränität und territorialen Integrität unseres Landes“ und der „unserer Verbündeten“; Aufrechterhaltung einer „regelbasierten internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts“; freier und ungehinderter Welthandel, der Wohlstand und Prosperität sichern soll; verantwortlicher Umgang mit begrenzten Ressourcen in der Welt; Festigung der europäischen Integration und der transatlantischen Partnerschaft. Ganz groß schreibt das Weißbuch aus all diesen Gründen „Verlässlichkeit und Bündnistreue“.

Komplexes und volatiles sicherheitspolitisches Umfeld

Keine leichten Aufgaben in einer Welt, die aus den Fugen ist, um mit Shakespeares Hamlet zu reden, oder, wie es das Weißbuch formuliert, „in einem sicherheitspolitischen Umfeld“, das „noch komplexer, volatiler, dynamischer und damit immer schwieriger vorhersehbar geworden“ ist. Das Weißbuch konjugiert denn auch das ganze globale Spektrum der Sicherheitsherausforderungen durch: Vom transnationalen Terror, über Cyber-Gefahren per Internet, wachsende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, gefährdete Transport- und Handelslinien, fragile Staaten im „Krisenbogen von Nordafrika über die Sahelzone, das Horn von Afrika, den Nahen und mittleren Osten bis nach Zentralasien“ bis zu Pandemien und Seuchen – und natürlich: unkontrollierte und irreguläre Migration.

Unkontrollierte und irreguläre Migration in hoher Zahl kann Gefährdungen sowohl für die unmittelbar betroffene Region als auch für Europa und Deutschland mit sich bringen. Gesellschaftliche Instabilität kann die Folge sein.

Schade, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel das Weißbuch im vergangenen Völkerwanderungssommer noch nicht zur Hand hatte. Sie hätte Weiterführendes lesen und vielleicht bedenken können: „Unkontrollierte und irreguläre Migration in hoher Zahl kann Gefährdungen sowohl für die unmittelbar betroffene Region als auch für Europa und Deutschland mit sich bringen. Aufnahmekraft und Integrationskraft können überfordert werden, gesellschaftliche Instabilität kann die Folge sein.“

Russland: Nicht Feind, aber Herausforderung

Eine gute Seite widmet das Weißbuch dem neuen, alten Sicherheitsproblem Russland. Moskau habe auf der Krim und im Osten der Ukraine die Bereitschaft gezeigt, „die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben“. Was tiefgreifende Folgen für die Sicherheit in Europa hat „und damit auch für die Sicherheit Deutschlands“. Das Verteidigungsministerium wagt eine Russland-Prognose: „Ohne eine grundlegende Kursänderung wird Russland somit auf absehbare Zeit eine Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent darstellen.“ Wichtig ist den Autoren: Russland ist dennoch kein „Feind“, sondern eine „Herausforderung“.

Nato zuerst

Aus all dem leitet sich ab, dass Deutschland niemals allein, sondern nur gemeinsam mit den Partnern sicherheitspolitisch handeln und gestalten kann: „Bündnissolidarität ist Teil deutscher Staatsräson.“ Die Nato kommt dabei in einem langen sechsseitigen Kapitel an erster Stelle vor sieben Seiten für die Europäische Union: „Die Nordatlantische Allianz ist unverzichtbarer Garant deutscher, europäischer und transatlantischer Sicherheit.“ Deutschland verlässt sich auf das Bündnis und „umgekehrt können alle unsere Bündnispartner auf den Beistand Deutschlands bauen. Dabei ist unerheblich, gegen wen und aus welcher Richtung ein möglicher Angriff erfolgt.“ Interessante Details: Nukleare Abschreckung bleibt eine Notwendigkeit, der Aufbau einer Raketenabwehr ist „eine wesentliche und auch für die kollektiv geschützte Sicherheit unseres Landes wichtige Aufgabe“.

Die Nordatlantische Allianz ist unverzichtbarer Garant deutscher, europäischer und transatlantischer Sicherheit.

Die EU ist „konstitutiver Bestandteil der politischen Identität unseres Landes“. Ihre Bedeutung „für die Durchsetzung gemeinsamer europäischer Ziele und Interessen wird weiter zunehmen“. Ausdrücklich als Fernziel strebt Deutschland „eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion“ an. Das Wort von der „Europäischen Armee“ fällt an keiner Stelle. Immer wichtiger für Deutschland werden neuartige Allianzen, Koalitionen der Willigen, „Ad-hoc-Kooperationen“ als „Instrumente der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung“ sowie bilaterale Verbindungen und Partnerschaften innerhalb Nato und EU. Eigens erwähnt werden „unsere engen deutsch-israelischen Beziehungen und das Eintreten für das Existenzrecht Israels als unverrückbarer Bestandteil deutscher Politik“.

Etwas mehr Geld für die Bundeswehr

Was bedeutet das alles für die Bundeswehr? Die „Landes- und Bündnisverteidigung einschließlich der Abschreckung“ tritt wieder in den Vordergrund. Gleichzeitig hat sich aber die Zahl der weltweiten Einsätze der Bundeswehr erhöht. Die Anforderungen haben sich tiefgreifend verändert, die Reaktionsfristen werden immer kürzer. Immerhin: „Einsätze werden nicht mehr zwingend in großen Kontingenten durchgeführt.“ Die Bundeswehr bleibt auf Operationen im Bündnisrahmen ausgerichtet – von „Multinationalität und Integration schreibt das Weißbuch. Dazu muss sie hochwertig ausgerüstet, schnell verfügbar und durchhaltefähig sein. Und sie braucht strategische Verlegungsfähigkeit – die ihr mangels Transportflugzeugen allerdings vollständig fehlt. Interessant: eine personelle Obergrenze wird nicht genannt. Die Bundeswehr will flexibel bleiben.

Stärkere Akzentuierung von Landes- und Bündnisverteidigung einschließlich der Abschreckung.

Das alles kostet Geld, das der Bundeswehr noch nicht ausreichend zur Verfügung steht, wie das Weißbuch etwas gewunden zugibt: „Derzeit ist die Bundeswehr hinsichtlich ihrer Strukturen und Ressourcen zur Erfüllung dieser Zielsetzungen noch nicht in dem angestrebten Umfang aufgestellt.“ Umso glücklicher ist das Verteidigungsministerium jetzt, ab 2016 „eine Trendwende bei der Finanzausstattung der Bundeswehr“ ankündigen zu können. Die Erfüllung der schon alten Nato-Anforderung, für die Verteidigung zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzuwenden, ist allerdings noch nicht in Sicht.

Einsatz im Innern

Eine besonders spannende Seite widmet das Weißbuch ziemlich weit hinten „Einsatz und Leistungen der Bundeswehr im Innern“. Nach Artikel 35 des Grundgesetzes können die Streitkräfte „im Rahmen der Amtshilfe“ eben auch „im Inland“ tätig werden, heißt es da. Ausdrücklich zugelassen „ist der Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Hilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen“ – zu letzteren zählt das Weißbuch auch „terroristische Großlagen“. Vom Bundesverfassungsgericht geklärt wurde, dass die Streitkräfte „zur Unterstützung der Polizeikräfte“ unter engen Voraussetzungen „auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können“. Das alles auf Anforderung eines Landes oder auf Anordnung der Bundesregierung. Wichtig: Beim Einsatz im Innern geht es um die Zusammenarbeit mit Bundes- und Landesbehörden. Das muss natürlich geübt werden – und die Bundeswehr übt es ab jetzt auch. Spannend: Das Koalitionskabinett in Berlin hat natürlich das ganze Weißbuch ausdrücklich abgesegnet und damit auch jene Seite über den Einsatz im Innern.

Die Bundeswehr wird den Einsatz im Innern ab jetzt auch üben.

Damit darf ein alter skurriler Streitpunkt als abgeräumt gelten. Eine wichtige Klärung ist erfolgt – ganz im Sinne einer alten Forderung der CSU. Zur für die Kenntnis der eigenen Interessen notwendigen „Sammlung der Gedanken“ hat vor 260 Jahren der alte Fritz gemahnt – im neuen Verteidigungsweißbuch ist sie erfolgt.