Wo ist die Mitte? Gedrückte Stimmung in der CDU-Zentrale nach dem Wahldebakel (v.l.n.r): Julia Klöckner, Angela Merkel, Reiner Haseloff und Guido Wolf. (Bild: Imago/Stefan Zeitz)
Die Zukunft der CDU

„Konservative Politik ist zutiefst menschenfreundlich“

Interview Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Der Historiker Andreas Rödder nennt die Themen, mit denen die Union die gesellschaftliche Mitte zurückgewinnen kann, und erklärt, warum es gefährlich ist, Debatten den Radikalen zu überlassen. Den Umgang der CDU mit den jüngsten Wahlniederlagen nennt er "frivol".

Herr Prof. Rödder, Jüngst hat die CDU-Spitze nach Analysen des Meinungsforschers Matthias Jung verkündet, nicht die AfD sei die Gefahr für die Union, sondern die Grünen als „große bürgerliche Kraft der Mitte“. Ist das nicht eine komplett falsche Schlussfolgerung?

Das ist normative, ja tendenziöse Empirie, die man zunächst einmal zurechtrücken muss. Starken Zulauf hatten die Grünen nur in Baden-Württemberg – und das in erster Linie wegen Winfried Kretschmann, der als unangepasster, aufrechter Konservativer durchgehen konnte, der aber nicht gewählt wurde, weil er so grün ist. Nehmen Sie allein das Ergebnis in Rheinland-Pfalz, da haben die Grünen mit einem hart linken Kurs 5,3 Prozent erreicht und einen Absturz um mehr als 10 Prozent erlebt. Dort hat die CDU in erster Linie an die AfD verloren. Übrigens hat die CDU die entscheidenden Stimmen in beiden Ländern im Gefolge des Bundestrends verloren. Die schweren Niederlagen für die CDU als Zustimmung für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin auszugeben, wie es nach den Landtagswahlen geschehen ist, habe ich als geradezu frivol empfunden.

Wie erleben Sie als Parteimitglied die CDU? Laut einer aktuellen Umfrage ordnet sie eine Mehrheit links von der Mitte ein.

Umfragedaten gegenüber bin ich immer zunächst einmal skeptisch, denn sie sind volatil und oft von interessierter Seite gemacht. Das Problem ist ein grundsätzlicheres: wofür steht die CDU? Diese Debatte ist zuletzt in den siebziger Jahren geführt worden, dann kam die lange Regierung Kohl, und danach ist eine programmatische Neuorientierung in der Parteispendenaffäre untergegangen. Die CDU kommt aus ihrer Haut als Kanzlerwahlverein nur schwer heraus. Aber es ist dringend geboten, dass die CDU offen über eine moderne und zeitgemäße Weiterentwicklung christdemokratischer Politik debattiert, statt von oben vorgegebene und vermeintlich alternativlose „Modernisierungen“ zu exekutieren.

Wie sieht moderner Konservatismus heute aus?

Es klingt vielleicht irritierend: aber es gibt keine ewigen konservativen Werte. Es ist das Dilemma des Konservativen, dass er heute verteidigt, was er gestern noch bekämpft hat – denken Sie nur an die Demokratie, heute und vor 200 Jahren.

Klingt ein wenig wie der Adenauer-Spruch „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“?

Sagen wir es lieber so: Konservatismus ist eine Haltung zum Wandel. Der Konservatismus ist historisch als Gegenbewegung zum Wandel entstanden, und daher weiß er auch, dass der Wandel unumgänglich ist – ohne Wandel kein Konservatismus. Das ist der entscheidende Unterschied, der in der Öffentlichkeit so oft verwischt wird – und mit dem eine wichtige politische Strömung diskreditiert wird: Wer will, dass sich nichts ändert, ist ein Traditionalist, wer einen früheren Zustand wiederherstellen will, ein Reaktionär. Der Konservative hingegen weiß, dass der Wandel unumgänglich ist, und daher will er ihn so gestalten, dass er für die Menschen verträglich ist. Wenn konservative Politik bedeutet, den Wandel menschenwürdig zu gestalten, dann ist Konservatismus eine zutiefst menschenfreundliche Politik.

Was ist darunter zu verstehen?

Konservatives Denken hat drei Grundlagen: Erstens das Menschenbild, das von der Unvollkommenheit des Menschen ausgeht. Konservative wollen daher keinen perfekten Menschen erschaffen oder erziehen, auch keine perfekte Gesellschaft, oder die Welt nach einem bestimmten Modell umgestalten. Denn Konservative wissen: Was wir heute für richtig halten, kann morgen schon als falsch gelten. In den sechziger Jahren war die „autogerechte Innenstadt“ der letzte Schrei – die Pläne für den Flächenabriss in Schwabing lagen schon vor. Dem Konservativen geht es um behutsame Verbesserung. Und drittens gilt: Zivilgesellschaft und Eigenverantwortung gehen vor dem Staat, dazu die Verbindung von bürgerlichen Freiheiten und sozialer Verantwortung, sprich: die gute alte Subsidiarität.

Hört sich irgendwie nicht mehr so ganz nach der aktuellen CDU an …

Die CDU hat sich gesellschaftspolitisch ganz dem grünen Muster von Antidiskriminierung, Diversität (Unterscheidung sowie Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen; Anm. d. Red.), Gleichstellung und Inklusion angeschlossen. Das hat auf der einen Seite erhebliche Freiheitsgewinne mit sich gebracht. Als Homosexueller leben Sie in Deutschland heute wesentlich besser als vor 30 Jahren. Keine Frage, der Konservative von heute ist für die Gleichberechtigung von Homosexuellen – was er sich vor 30 Jahren nie hätte vorstellen können. Aber Freiheitsgewinne werden immer auch mit Freiheitsverlusten erkauft. Heute müssen Sie sich als die Vollzeitmutter von der Bundesfamilienministerin gleich welcher Partei sagen lassen, dass diese ihr Familienbild als problematisch empfindet. Wenn Vollzeitmütter jetzt sagen, ich lasse mir doch meine Selbstbestimmung nicht staatlich vorschreiben, dann muss die CDU sich fragen lassen, wieso sie eigentlich dafür keine Adresse mehr ist. Deshalb ist die angesprochene Debatte in der Union notwendig. Wenn diese nicht mehr stattfindet, dann reagiert die Partei nur noch auf Ereignisse oder folgt den Deutungsvorgaben, die andere gemacht haben.

Hat Angela Merkel zu schnell konservative Grundlagen und Werte aufgegeben?

Timing ist in der Tat wichtig. Lord Salisbury, der als britischer Premierminister im späten 19. Jahrhundert in einer Zeit mit ähnlich schnellem Wandel lebte, sagte einmal den klugen Satz: es geht darum, den Wandel zu verzögern, bis er harmlos ist. Anders gesagt: den Wandel so gestalten, dass er für die Menschen verträglich ist. In den letzten zehn Jahren sind viele Dinge sehr abrupt verlaufen, etwa bei der Energiewende. Auch die wichtigen Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik fielen abrupt und ohne Erklärungen. Die Bastapolitik der Alternativlosigkeit plus die politische Rhetorik der Geschlossenheit aber lässt alle diejenigen einigermaßen ratlos zurück, die nicht unmittelbar folgen wollen.

Franz Josef Strauß hat 1978 gesagt: „Konservativ heißt nicht nach hinten blicken, konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren.“ Dem langjährigen Bundestagspräsidenten und CDU-Politiker Eugen Gerstenmaier wird das Zitat zugeschrieben: „Konservativ sein heißt nicht, die Asche zu behüten, sondern die Flamme zu schüren.“ Welches Zitat ist eher richtig?

Strauß hatte recht mit dem ersten Teil: dass es nicht um eine Orientierung nach rückwärts geht – das wäre Traditionalismus. Konservativ zu sein ist aber auch kein Freibrief für Fortschritt um jeden Preis – hier war Strauß schon ein Kind der Technikgläubigkeit in den 50er und 60er Jahren. Vielmehr geht es um einen behutsamen Fortschritt unter Erhalt des Bewahrenswerten. Bei Gerstenmaier ist richtig, dass Konservative nicht auf Teufel komm raus an überkommenen Strukturen festhalten, sondern eine Idee immer wieder neu durchbuchstabieren müssen.

Sie waren als Schattenbildungsminister für Julia Klöckner im Einsatz, daher die Frage: Wie sollte konservative Bildungspolitik aussehen?

Eine zeitgemäße christdemokratische Bildungspolitik geht von der Idee echter Chancengerechtigkeit aus, die konsequenterweise zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Das ist ganz grundsätzlich der Unterschied zwischen „Gleichberechtigung“ und „Gleichstellung“, der im öffentlichen Sprachgebrauch viel zu weit zurückgedrängt worden ist, und damit der Unterschied zwischen christdemokratischer und linker Bildungspolitik. Zugleich habe ich gelernt, dass formale Chancen nicht gleichbedeutend mit realen Chancen sein müssen. Es bringt nichts, einem Migrantenkind ohne praktischen Zugang zu Bildungsressourcen zu sagen, es könne doch Abitur machen. Wir müssen erkennen: die deutschen Bildungsreformen, von denen ich übrigens ganz persönlich so elementar profitiert habe, haben nicht alle Bevölkerungsgruppen erreicht. Das nachzuholen, das große Bildungsversprechen der Bundesrepublik neu zu beleben, das das ist schon alle Mühe wert.

Was müsste die CDU in der Familienpolitik anders machen?

In der Familienpolitik hat die CDU viel zu lange versäumt, Kinderbetreuung für erwerbstätige Frauen in den Blick zu nehmen. Nach 2005 aber ist sie ins andere Extrem verfallen und hat nur noch die gleichgestellte Familie gefördert, in der beide Elternteile möglichst umfangreich erwerbstätig sind und Kinder aushäusig untergebracht werden – eine massive Verengung von Familienpolitik! Wirkliche christdemokratische Politik zielt darauf, alle Familienmodelle zu fördern. Und mehr noch: wenn gender mainstreaming darauf zielt, gesellschaftliche Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen zu beseitigen, dann wäre es doch ein echter konservativer Coup zu sagen: Mittlerweile ist eine andere Kategorie der sozialen Ungleichheit mindestens ebenso ausgleichsbedürftig, nämlich die zwischen Erwachsenen mit Kindern und kinderlosen Erwachsenen. Also betreiben wir family mainstreaming, den proaktiven Nachteilsausgleich für Familien, von den Fahrpreisen im ÖPNV über das Familiengeld bis zu familienfreundlichen Arbeitszeiten und Karriereverläufen, so dass Eltern nicht benachteiligt werden – das wäre ein großes Feld für eine moderne konservative und gemeinwohlorientierte Familienpolitik!

Was denken Sie über Merkels Flüchtlingspolitik?

„Wir schaffen das“ und die Aufnahme der Flüchtlinge aus Budapest im September waren eine großartige humanitäre Geste. Aber dann ist die Ausnahme zum moralisch überhöhten Dauerzustand geworden, hat sich verselbständigt und immer mehr Flüchtlinge angezogen. Einmal mehr hat sich meine zentrale historische Erfahrung bewahrheitet: Eine Idee wird immer dann schädlich, wenn sie sich von den Realitäten löst. Das ist das eine. Das andere Problem sind die inneren Widersprüchlichkeiten: Deutschland profitiert von der Politik Österreichs und der Balkanstaaten, über die sich Berlin moralisch erhebt, aber der Deal mit der Türkei ist etwas ganz anderes als der „humanitäre Imperativ“ vom Herbst 2015.

Hat die Kanzlerin mit den offenen Grenzen die gesellschaftliche Mitte radikalisiert?

Jedenfalls hat sie eine Polarisierung der deutschen Öffentlichkeit zwischen einer moralisch überheblichen Linken und einer wahlweise enttäuschten oder fremdenfeindlichen Rechten zugelassen, und dazwischen droht die bürgergesellschaftliche Mitte zu erodieren. Zugleich erleben wir eine Radikalisierung der intellektuellen Debatten. Da ist die Rede von einem neuen „1968 von rechts“, zugleich ziehen Begriffe wie „Altparteien“ oder „Systemparteien“ ein, die einen unguten, undemokratischen Geist atmen. Auf längere Sicht bestimmen diese Debatten den Rahmen des öffentlich Sagbaren, das, was wir für falsch und richtig halten – und diesem Rahmen folgt letztlich auch die Politik. Hier liegt die große Gefahr, wenn die CDU den Meinungsbildungsprozess der bürgerlichen Mitte preisgibt, weil sie nur noch exekutiv folgt und nicht mehr diskutiert und kritisiert. Ich weiß, die Demoskopen sagen immer, Streit verliert Wahlen. Aber ohne Debatten nimmt das Gemeinwesen Schaden und die Ordnung erodiert – wie in der Weimarer Republik. Ich will keine vorschnellen Parallelen ziehen – aber die Mahnung sollten wir vor Augen haben, und wir sollten unsere Demokratie nicht fahrlässig für garantiert erachte.

Sie haben Angela Merkel persönlich erlebt. Wie schätzen Sie sie ein?

Frau Merkel ist stark in der nüchternen Analyse der Lage, einschließlich der Risiken, die einer Situation innewohnen, und trifft dann Entscheidungen, die sie für alternativlos hält und erklärt. Das heißt aber: Sie denkt nicht in Szenarien und Alternativen, das ist ihre Schwäche. Was sonst aber soll demokratische Politik sein, als die Entscheidung zwischen Alternativen? Zugleich ist es nicht so, dass sich ihre Politik nicht verändern würde, im Gegenteil, das gilt für die Euro-Rettungspolitik ebenso wie für die Energiepolitik oder die Flüchtlingspolitik. Diese Kurswechsel sind lange Zeit ihrem nüchternen Pragmatismus zugeschrieben worden, werden nun aber zunehmend als Inkonsistenz kritisiert.

2008 schrieben Sie, es gäbe noch keine gesellschaftliche Übereinkunft für eine „Leitkultur“. Ist das heute anders?

Nach 2008, nach der Weltfinanzkrise und dem Glaubwürdigkeitsverlust des Neoliberalismus, hat sich gezeigt, dass wir durchaus eine Leitkultur haben: die grüne Leitkultur von Antidiskriminierung, Gleichstellung, Inklusion und Diversität, die gegenwärtig massiv unter Beschuss gerät, weil sie moralisch überhöht und ideologisch überzogen worden ist. Jede Gesellschaft braucht Grundvorstellungen dessen, was für falsch und für richtig gehalten wird. Diese unterliegen dem Wandel und müssen immer wieder neu ausgehandelt werden. Es braucht wieder die goldene Mitte. Darum nochmal: Wir müssen die CDU-Ideen neu beleben.

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther