Die griechische Küstenwache bringt rund 60 aus der Ägäis gefischte Flüchtlinge auf die Insel Lesbos in den Hafen Mytilene. (Bild: Imago/Zuma Press)
Flüchtlingspakt

Türkei droht mit Kündigung

Die Visumfreiheit für Türken bei Reisen in die EU droht zur Belastungsprobe für Europa und Deutschland zu werden, nicht nur wegen massiver Bedenken in der EU. Ankara will sich nicht an den Flüchtlingspakt halten, sollte die Visapflicht nicht aufgehoben werden. Das ist genau das, wovor die Hauptinitiatorin des Deals, Bundeskanzlerin Angela Merkel, von ihren Kritikern gewarnt wurde.

In der EU und auch in Deutschland wachsen die Zweifel an der im Flüchtlingspakt vorgesehenen Visafreiheit für Türken (der Bayernkurier berichtete). Und die Türkei machte jetzt das, wovor alle Kritiker des Deals gewarnt hatten: Sie drohte, den insbesondere von Kanzlerin Angela Merkel angestrebten Pakt aufzukündigen, wenn es nicht die erwünschte Visafreiheit bekomme. Der Satz der Bundesregierung kurz nach dem EU-Gipfel, nur keine Sorge, man sei nicht erpressbar, erweist sich nun wie erwartet als voreilig.

Falls nicht, kann natürlich niemand erwarten, dass die Türkei sich an ihre Verpflichtungen hält.

Ahmet Davutoglu, türkischer Ministerpräsident

Staatspräsident Recep Erdogan blies mal wieder die Backen auf: „Mehr noch als die Türkei die Europäische Union benötigt, braucht die Europäische Union die Türkei.“ Ministerpräsident Ahmet Davutoglu forderte laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, dass die EU ihre Zusage voll umsetzen müssen. „Falls nicht, kann natürlich niemand erwarten, dass die Türkei sich an ihre Verpflichtungen hält“, drohte Davutoglu. Die Zeitung „Die Welt“ hatte unter Berufung auf Diplomaten berichtet, die für Juni geplante Visafreiheit solle nach dem Willen zahlreicher EU-Länder – darunter Deutschland und Frankreich – nicht unbeschränkt gelten. Stattdessen solle sie etwa an die Rücknahme von Flüchtlingen und die Einhaltung von Menschenrechten gekoppelt sein.

Das Problem in der Praxis

Dabei hängt diese Visafreiheit zusätzlich an 72 Bedingungen, von denen laut dem CSU-Europaabgeordneten Markus Ferber noch etwa 40 offen sind. Er befürchtete im Interview mit dem Bayernkurier zudem, dass sich eine neue Welle von türkischen und kurdischen Flüchtlingen auf den Weg nach Deutschland machen könnte, da sie hier die größten türkischen und kurdischen Gemeinden außerhalb der Heimat vorfänden. Ferber verwies auch auf den Flüchtlingsansturm aus dem West-Balkan, nachdem dort die Visafreiheit eingeführt wurde. Und die Menschen dann abschieben, das würden wieder die grün-roten Bessermenschen verhindern: „Dann werden uns Pro Asyl, die Linken und die Grünen mitteilen, dass es in der Türkei staatliche Verfolgung gibt. Und dann müssen wir bei jedem Türken im Einzelfall prüfen, ob er ein Kurde ist oder ob individuelle Verfolgung vorliegt.“

Es kann nicht sein, dass wir wegen türkischen Erpressungsversuchen diese Entscheidung durchs Parlament peitschen müssen.

Markus Ferber

Die neusten Erpressungsversuche des Türken kritisierte Markus Ferber und erklärte: „Die Türkei irrt gewaltig, wenn sie glaubt, dass die Visafreiheit für Reisen in die EU im Juni tatsächlich in Kraft tritt. Die Visafreiheit hängt an 72 Punkten, von denen die Türkei viele noch nicht erfüllt. Erst wenn diese Kriterien erfüllt sind, beschäftigt sich das Europäische Parlament mit der Frage. Und eines ist klar: politischen Rabatt wird es in dieser Frage für die Türkei nicht geben. Es kann nicht sein, dass wir wegen türkischen Erpressungsversuchen diese Entscheidung durchs Parlament peitschen müssen.“

Die 72 Hürden

Laut Davutoglu hat die Türkei sogar schon 58 der 72 Bedingungen erfüllt. Die übrigen 14 Punkte sollten bis Mai erfüllt werden. Beim Flüchtlingsgipfel im März hatte die Türkei sich verpflichtet, nach Griechenland übergesetzte Flüchtlinge wieder zurückzunehmen. Dafür stellte die EU der Regierung in Ankara neben 6 Milliarden Euro für die vielen Flüchtlinge in der Türkei und einer Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses Visumfreiheit ab Ende Juni in Aussicht. Zudem nimmt die EU für jeden von Griechenland zurückgeschickten Syrer einen anderen Syrer aus der Türkei legal auf.

Die EU-Kommission sieht noch nicht alle Voraussetzungen erfüllt, um Türken ab Ende Juni Visafreiheit in der Europäischen Union zu gewähren. Sie forderte die türkische Regierung am Mittwoch auf, bis Ende April alle 72 Voraussetzungen dafür zu erfüllen. Nur dann werde am 4. Mai ein Vorschlag zur Befreiung von der Visumspflicht vorgelegt. Nach Ansicht der EU-Kommission hinkt die Türkei noch bei der Beschleunigung von Asylverfahren, dem Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt, der Gleichbehandlung aller EU-Bürger bei der visafreien Einreise in die Türkei, dem Datenschutz und bei der Umsetzung von Grundrechten hinterher. Auch müsse die Regierung in Ankara die Visumspflicht für jene Länder einführen, aus denen besonders viele Migranten kämen.

Fehlendes Drohpotential?

Die Frage ist nun, wie hoch Ankaras Drohpotential tatsächlich ist, weil zum einen auch Griechenland endlich seine Verpflichtung wahrnimmt, seine Grenzen zu schützen. Zum anderen dürften die gesunkenen Flüchtlingszahlen in erster Linie an den geschlossenen Grenzen auf der Balkanroute liegen, wo Österreich im Verbund mit anderen Staaten für eine gesicherte und vor allem weitgehend geschlossene Grenze gesorgt hat. Die Bilder der in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge haben sich über die sozialen Netzwerke sehr schnell verbreitet und sorgen auch dafür, dass sich viel weniger Flüchtlinge auf den Weg machen. Allerdings ist fraglich, was passiert, wenn die Türkei ihre Ägäisgrenze gar nicht mehr kontrollieren würde.

Verteidigungsministerin in Athen und Ankara

Nach ihrem Kurzbesuch in Athen reiste unterdessen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nach Izmir an der türkischen Mittelmeerküste weiter, wo ein Treffen mit dem türkischen Verteidigungsminister Ismet Yilmaz geplant war. In der Ägäis überwacht die Nato seit Anfang März die Flüchtlingsrouten zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln Lesbos und Chios. Inzwischen sind sieben Schiffe im Einsatz, darunter der deutsche Versorger „Bonn“ als Flaggschiff. Seit Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei, mit dem sich die Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland verpflichtet, sind die Flüchtlingszahlen in der Ägäis drastisch gesunken – dies dürfte aber auch noch an dem schlechten Wetter dort und der geschlossenen Balkanroute liegen. Im April waren es nach UN-Angaben „nur“ noch rund 130 pro Tag. Vor dem Abkommen waren es noch zehn Mal so viele.

Das sind europäische Grenzen, nicht nur griechische Grenzen.

Panos Kammenos, griechischer Verteidigungsminister

Es ist ein komplizierter Einsatz, da das Misstrauen zwischen den Nato-Partnern Türkei und Griechenland nach vielen Streitigkeiten in der Vergangenheit über Zypern sowie die gemeinsame Seegrenze extrem hoch ist. Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos warf der türkischen Luftwaffe nach dem vorangegangenen Treffen mit von der Leyen die Verletzung des griechischen Luftraums vor. „Das sind europäische Grenzen, nicht nur griechische Grenzen“, sagte er. Auch der Einsatz selbst verläuft nicht ohne Probleme. Noch immer kann der Nato-Verband mit seiner Aufklärungstechnik nicht alle Flüchtlingsrouten überwachen, sondern nur die zu den nördlichen Inseln Lesbos und Chios. Die südliche Ägäis fehlt noch. Die Nato gibt ihre Informationen über Flüchtlingsbewegungen an die türkischen und griechischen Behörden weiter. Die Küstenwachen beider Länder greifen dann ein.

(dpa/Welt/avd)