Der kommunale Aufstand – unten gegen oben
In Städten und Gemeinden begehren die Verantwortlichen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung auf. Kommunale Spitzenverbände fordern eine schärfere Asylpolitik. Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter vollzieht einen Richtungswechsel und fordert die Begrenzung der Zuwanderer-Zahlen. Die Debatte, ob man das nun Obergrenze oder Kontingent nenne, hält er für "nervtötend".
Flüchtlinge

Der kommunale Aufstand – unten gegen oben

In Städten und Gemeinden begehren die Verantwortlichen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung auf. Kommunale Spitzenverbände fordern eine schärfere Asylpolitik. Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter vollzieht einen Richtungswechsel und fordert die Begrenzung der Zuwanderer-Zahlen. Die Debatte, ob man das nun Obergrenze oder Kontingent nenne, hält er für "nervtötend".

Die Diskrepanz zwischen Kommunal- und Bundespolitik in der Flüchtlingsfrage wird immer auffälliger – quer durch die Parteien, abgesehen von der CSU. Je direkter Verantwortliche mit den Problemen von Unterbringung, Versorgung und Beschulung von Asylbewerbern konfrontiert sind, desto klarer sprechen sie sich für eine wirksame Begrenzung des Zuzugs aus. In einem Interview mit der Welt am Sonntag kritisierte nun Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) die Große Koalition von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD): „Auch ich bin enttäuscht von der Bundesregierung, dass es nach wie vor mehr um eine parteipolitische Gewinn-Verlust-Rechnung geht, als um die konzertierte Zusammenarbeit aller demokratischen Parteien.“

15.000 Flüchtlinge an 80 Standorten

Bislang hat die bayerische Landeshauptstadt, in der 400.000 ausländische Bürger leben, rund 15.000 Flüchtlinge aufgenommen. Dies sei verkraftbar, findet Reiter. Aber: „Alle erwarten, dass die Regierung einen Plan hat, wie die Zahl der Flüchtlinge reduziert werden kann. (…) Wenn wir Integration schaffen wollen, dann brauchen wir eine spürbare Entlastung.“ Es müsse „ultima ratio“ bleiben, dass er Menschen in Turnhallen unterbringe. Momentan leben in München Flüchtlinge an mehr als 80 Standorten, darunter in der Bayernkaserne, den ehemaligen Großraumbüros des Leuchtenherstellers Osram am Mittleren Ring oder in einem vormaligen Siemens-Bürogebäude an der Hofmannstraße in Obersendling. Reiter fordert nun allerdings eine „spürbare Reduzierung der Flüchtlingszahlen“. Im Jahr 2016 dürften sie nicht gleich bleiben wie 2015. Ob man nun von einer „Obergrenze“ spreche oder von „Kontingenten“, diese Debatte bringt laut Reiter nichts. „Das ist nervtötend, besonders für diejenigen, die operative Verantwortung tragen wie die Oberbürgermeister oder Landräte.“

Es freut mich, dass unsere richtigen Ansichten mittlerweile auch den Oberbürgermeister überzeugt haben.

Josef Schmid, Zweiter Bürgermeister von München

Für eine Großstadt wie München seien die Probleme womöglich leichter zu schultern als für kleinere Gemeinden auf dem Land, sagte der Sozialdemokrat. Zwar könne er verstehen, dass es die Neuankömmlinge auf Arbeitssuche in die Ballungsräume ziehe. Für München sei das aber auf Dauer nicht zu verkraften. Deshalb werde eine Wohnsitz-Auflage, also die bindende Zuweisung eines Wohnsitzes, „wahrscheinlich notwendig“.

Reiters Stellvertreter, CSU-Bürgermeister Josef Schmid, reagierte zufrieden auf die jüngsten Äußerungen des Münchner OBs: „Es freut mich, dass unsere richtigen Ansichten mittlerweile auch den Oberbürgermeister überzeugt haben.“ Reiters grundsätzliches Verständnis für mobile Migranten auf Arbeitssuche teilt Schmid jedoch nicht: „Auch dort, wo Wohnungen leer stehen, gibt es Arbeit.“

Der Gesinnungswandel von OB Reiter überrascht

Nicht ganz vergessen haben dürfte die CSU auch die Äußerungen von Reiter noch im Spätsommer. Damals hatte CSU-Bürgermeister Schmid in einem Interview mit dem „Merkur“ im August einen Hilferuf der Stadt im Hinblick auf die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge ausgesandt. Die Boom-Stadt München, die ohnehin mit dem Wohnungsmangel zu kämpfen habe, habe bald keinen Platz mehr für die vielen Asylbewerber. München habe zwar kein Geld-, wohl aber ein Raumproblem.

Reiter war damals noch für die Realität nicht zu haben: Falls Schmid im Namen der Stadt gesprochen habe, sei dies eine Kompetenzüberschreitung gewesen, so der OB. Im Übrigen warne er davor, die Hilfsbereitschaft der Münchner, mit einer „Das Boot ist voll“-Rhetorik aufs Spiel zu setzen. Schmid liege „komplett daneben“. Die Stadt würde sich selbstverständlich weiterhin um jeden kümmern, der komme, sagte Reiter in der „Süddeutschen Zeitung„. In der jetzigen Situation würden derartige Aussagen Angst und Fremdenhass weiter schüren.

Die beginnende Radikalisierung hat ihre Ursache vor allem darin, dass im Namen einer an sich richtigen Willkommenskultur die Vernunft über Bord geworfen wurde.

Josef Schmid

Schmid hatte schon damals den klareren Blick für die nahe Zukunft: Dass der OB ihm vorwerfe, die Verknüpfung des Themas Wohnen mit dem Thema Flüchtlinge sei „unsäglich“ und gefährde den „gesellschaftlichen Frieden in München“, sei eine unverschämte Unterstellung, so der CSU-Politiker. „Die Illusion des Oberbürgermeisters Dieter Reiter, dass München unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann, wird spätestens in 1-2 Jahren an den Realitäten scheitern“, ergänzte der CSU-Fraktionsvorsitzende im Stadrat, Hans Podiuk. Ganz so lange hat es dann offenbar nicht gedauert. „Nach derzeitiger Prognose müsste München bis Ende 2017 weitere circa 32.000 Menschen aufnehmen, was in einer Boom-Town wie unserer Stadt – angesichts der sowieso bestehenden Wohnungsnot – zu einer Überforderung führen würde.“ Und im Februar 2016 warf Schmid beim traditionellen Schwabinger Fischessen der CSU dem OB in Sachen Flüchtlingspolitik mangelnden Realitätssinn vor und sprach von Lagerfeuerromantik. „Die beginnende Radikalisierung hat ihre Ursache vor allem darin, dass im Namen einer an sich richtigen Willkommenskultur die Vernunft über Bord geworfen wurde. Willkommenskultur wurde zum Selbstzweck. Willkommenskultur wurde zur Ideologie. Und das ist falsch!“ In seiner Rede forderte Schmid zum wiederholten Male eine Obergrenze. „Selbst die leistungsfähige Stadt München wird es nicht schaffen, jedes Jahr mehrere Tausend zusätzliche Sozialwohnungen für Flüchtlinge zu bauen. Oder sie schafft es auf Kosten der eigenen Bevölkerung. Das ist mit der CSU nicht zu machen!“

Kommunale Spitzen gegen Berlin

Flankiert wird Reiters Vorstoß durch Forderungen, welche die kommunalen Spitzenverbände gerade in einem gemeinsamen Papier aufgestellt haben, aus denen die Zeitungen der Funke Mediengruppe zitieren. Der Deutsche Städtetag, der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund erwarten ein schärferes Vorgehen gegen kriminelle Asylbewerber. Straffällig gewordene Flüchtlinge sollten künftig bei jeder Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ausgewiesen werden, sofern die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt ist. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum Asylpaket II sieht eine solche Abschieberegelung ab einem Jahr Freiheitsstrafe bislang nur bei bestimmten Straftaten vor, etwa bei Tötungs- oder Sexualdelikten.

Die Verbände der deutschen Kommunen fordern auch, dass der Anspruch von Asylbewerbern auf Geldleistungen daran geknüpft wird, dass sich der Schutzsuchende dauerhaft in der ihm zugewiesenen Einrichtung aufhält. In der Praxis sei oft zu beobachten, dass sie nach der Auszahlung ihre Unterkünfte verließen und erst zum nächsten Zahlungstermin wieder zurückkehrten.

Eine breite Front formiert sich also von der kommunalen Ebene gegen die Flüchtlingspolitik auf Bundesebene. Diese Konfrontation zieht sich quer durch die politischen Parteien. Erst vergangene Woche hatte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) seine Parteispitze in Berlin aufgebracht, als er sie aufforderte, ihre Realitätsferne abzulegen: Es sei nicht die Zeit für „Pippi-Langstrumpf- oder Ponyhof-Politik“, auch über Grenzzäune und bewaffnete Grenzsicherung dachte Palmer in einem Interview nach. Eine Tabuverletzung im grünen Lager, für die ihn Parteichefin Simone Peter an den rechten Rand zu schieben versuchte (der Bayernkurier berichtete).

(GD/avd)