Der treueste Leser: Albin Schäfer, 85, CSU-68er und Alt-Abonnent, am Briefkasten mit seinem "Bayernkurier". (Foto: G.Dolak)
Parteiorgan

Prinzip Tanzkapelle

Länger als jeder andere, seit Mai 1968, hat Albin Schäfer den „Bayernkurier“ abonniert. Der Unterfranke rockt – und fordert das auch von der CSU. Dass sie nun ihre Parteizeitung einstellt, kann er nicht nachvollziehen. Ein Abschied in Moll.

Auch die CSU hat ihre 68er. Die Welt scheint sich zu beschleunigen in diesen ersten Monaten des Revoluzzerjahres 1968. Im Vietnam-Krieg startet der Norden überraschend die Tet- Offensive gegen die US-Truppen. In der Tschechoslowakei wagen die Reformkommunisten um Alexander Dubcek den „Prager Frühling“. In Frankfurt steckt eine Gruppe um die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin zwei Kaufhäuser an.

CSU-68er am Briefkasten

In Gemünden bei Würzburg steckt derweil, während an der Pariser Sorbonne heftige Studentenunruhen beginnen, der Leiter der örtlichen Hypobank-Filiale einen Brief in den Postkasten. Anschrift: Lazarettstraße 33 in München. Albin Schäfer, damals 33 und CSU-Mitglied, schließt sein Abonnement des „Bayernkurier“ ab – heute das am längsten laufende des Parteiorgans. Abo-Nummer 7432709. „Die Gesellschaft war im Umbruch und ich noch ein junger Kerl“, erinnert sich der heute 85-Jährige.

Seither sind mehr als fünfzig Jahre vergangen. Seine Bankfiliale am Marktplatz ist längst geschlossen. Wenn der Pensionär Schäfer Bargeld braucht, geht er zur Tankstelle beim Bahnhof unten am Main. Er bedauert „auch sehr, dass der ,Bayernkurier‘ jetzt eingestellt wird“. Wie er künftig an Informationen gelangt, dafür hat er allerdings bereits einen Plan.

Dass diese Zeitung eingestellt wird, tut mir leid.

Albin Schäfer, Bayernkurier-Abonnent

Leidenschaftlich verfolgt er im Krisen- und Revoltenjahr 1968 die Debatten im Bundestag: Strauß, Wehner, Brandt, Schiller. Die erste Ausgabe, die in Schäfers Briefkasten ankommt, betitelt der „Bayernkurier“ mit „Kampf um Berlin“. Hinter den „angeblichen Studentenunruhen“ vermutet die CSU-Wochenzeitung den Versuch von „schlampigen Kommunarden, berufslosen Dauerstudenten und anarchistisch-asozialen Elementen“, eine neue Räterepublik zu errichten. Neu-Leser Schäfer schätzt den „kämpferischen Tonfall“, wie er heute sagt. Der macht auch vor dem Koalitionspartner in Kanzler Kiesingers Großer Koalition nicht halt. Unter der Überschrift „Letztes Aufgebot mit SED-Hilfe“ erfährt Schäfer, SPD-Verkehrsminister Georg Leber unterbinde unverständlicherweise nicht, dass die Bundesbahn „kommunistisch infiltrierte Sternmarschierer“ zu Demos gegen die umstrittenen Notstandsgesetze transportiert.

Wo der Feind steht, vermag die Redaktion 1968 klar zu verorten: links. Aber sie lässt auch unangenehme Kontroversen zu, beispielsweise zwischen dem Bayerischen Bauernverband und der Münchner Staatsregierung über die richtige Landwirtschaftspolitik. Und liefert im Feuilleton von Schäfers erster „Bayernkurier“-Ausgabe eine erschütternde Langzeitbetrachtung des seit 1961 laufenden Contergan-Skandals.

Das eigene Leben und die große Politik – für den Neu-Abonnenten finden sie bei der Lektüre zusammen. Im Juni liest Schäfer auch die Aufforderung des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß: „Demokratie braucht eine starke und zuverlässige Regierung und eine stabile Ordnung, ebenso wie eine tatkräftige Mitarbeit der Bürger.“ Alle Demokraten müssten „lernen, zu regieren und nicht nur zu opponieren“. Seinen Leser in Gemünden muss der Autor freilich nicht mehr motivieren. Außerparlamentarische Opposition ist die Sache des konservativen Katholiken nicht – Schäfer engagiert sich bereits seit 1966 im Stadtrat.

Tanzmusiker, Banker, Lokalpolitiker

Dabei will er ursprünglich gar nicht in das Gremium. Der CSU-Ortsvorsitzende, ein guter Bekannter, braucht 14 Vorschläge für die Wahlliste. „Ich schreib dich drauf, damit sie voll wird“, überredet der ihn. Weil die Menschen in dem kleinen Städtchen am Main den Nachbarn Schäfer vom Bankschalter her, aus der Blaskapelle von den Faschingsbällen kennen, aus der Kirche und vom Kindergarten, geschieht per Kumulation Überraschendes: „Die Leute haben mich vorgehäufelt. Ich habe gedacht, mich laust der Affe.“

Auch seine Ehefrau Anita ist wenig begeistert. Jetzt hat der Bankangestellte mit den ausufernden musischen Neigungen womöglich noch weniger Zeit für die Familie, die fünf gemeinsamen Kinder. Und auch der neu gewählte Volksvertreter geht eher skeptisch zu den Ratsversammlungen. „Im Stadtrat hat mich das zu wenig befriedigt“, erinnert er sich, „immer bloß ja oder nein sagen bei den Abstimmungen – ich wollte aktiver sein.“ Dennoch übt er sein Mandat bis 1972 aus.

Unwiderstehlich hingegen zieht es den politischen Menschen Schäfer zur Tanzmusik hin. So wenig sich der überzeugte Bürger und CSU-Wähler zum 68er eignet – so nahe steht er dem Rock’n’Roll, dem Beat. „Ich bin von Grund auf konservativ. Aber nicht allein, um zu bewahren“, erklärt er, „sondern: das Gute behalten und damit ins Moderne hinausgehen.“ Und das gerne zum Klang der Rolling Stones oder auch im Walzertakt von Peter Alexander. In der „Tanzkapelle Albin Schäfer“, die er mit seinem Bruder gegründet hat, bläst Schäfer die Trompete, in der Dixieland-Band die Posaune, gründet in der Musikschule eine Big Band, zupft in der Saitenmusik den Kontrabass. Praktisch keine freie Minute vergeht ohne Noten.

Elektrisiert in die Rock’n’Roll-Jahre

Als Erster in Gemünden legt sich Schäfer schon Anfang der 1960er-Jahre einen E-Bass zu, den er auf Band-Tournee nach Berlin bei einer Mambo-Band gesehen hat. „Wenn wir nicht schnellstens auf Elektrisch umstellen, gehören wir der Katz‘“, warnt er seine Bandmitglieder. Erst einige Zeit später sieht er einen solchen E-Bass bei einer neuen Band namens „The Beatles“ wieder.

Wenn seine Combo im Ort zum Schwoof aufspielt, erscheinen die Mädchen in Petty­coats und die Jungs mit Fliege zum Anzug. 25 verschiedene Rhythmen hat Schäfers Kapelle drauf, sie spielt im Umkreis von circa fünfzig Kilometern. „Musik war mein Leben“, entsinnt sich der Alt-Rocker mit dem zum 16.03.1956 abgestempelten Parteibuch der Christlich-Sozialen Union, Bezirksverband Unterfranken. Aber ob er damals Rock’n’Roll, Twist oder langsamen Walzer und Polka intoniert: Der junge Bandleader behält Augen und Ohren offen. Und schaut und horcht in eine Welt hinaus, die sich rasant verändert.

In die Ackerland- und Weinbauregion im Norden des Freistaats kommt zunehmend Industrie. Wirtschaftlich nimmt der Freistaat einen Weg in Richtung Wohlstand. Die Rebellion von Schäfers gleichaltriger Generation bringt nicht nur die vom „Bayernkurier“ befürchteten Wirrnisse, sondern auch eine Menge Freiheit. Und beides, den ökonomischen Aufschwung und den gesellschaftlichen Aufbruch, schreibt der Bankkaufmann und Tanzmusiker seiner Partei zu: „Die CSU hat die ideale Organisationsform für die Landespolitik. Aber halt auch Einfluss auf den Bund.“

Mir war wichtig, die Hintergründe der Politik kennenzulernen.

Albin Schäfer, Alt-Abonnent

Darüber informiert er sich gerne in den unabhängigen Tageszeitungen, die er abonniert hat. In der „Frankfurter Allgemeinen“ und im „Main-Echo“. Aber eben auch im „Bayernkurier“. „Mir war wichtig, die Hintergründe der Politik kennenzulernen“, sagt Schäfer. Dass es sich bei dem Wochenblatt um „das Informationsblatt der CSU“ handelt, müsse der selbstständig denkende Leser halt einpreisen, findet er. Für ihn, den gläubigen Kirchgänger mit Engagement für das Kolpingwerk, sei der Inhalt des „Bayernkurier“ nie „das Evangelium“ gewesen. Die Strauß-Reden zum politischen Aschermittwoch, welche der „Bayernkurier“ damals seitenweise abdruckt, hat der Leser Schäfer stets überblättert. „Die hatte ich schon im Fernsehen angeschaut.“

Aber die innenpolitischen Kontroversen, die Auseinandersetzungen um Brandts Ostpolitik, um die sozial-liberale Koalition von Helmut Schmidt – darüber hat er stets gerne im Kurier gelesen. Ihn interessieren die wirtschaftspolitischen Ansichten der CSU, wie die Partei über internationale Politik denkt und schreibt. Dabei pflegt der einstige Stadtrat Schäfer bis heute gute Kontakte zu Sozialdemokraten: „Ohne Scheuklappen. Ein Kommunalpolitiker arbeitet für seine Stadt, nicht für seine Partei“, verkündet er. Sein musikalisches Glaubensbekenntnis überträgt der Senior auf die Volkspartei CSU: „Es gilt das Prinzip Tanzkapelle. Die spielt für alle.“

Sag zum Abschied leise Servus

Das Decrescendo, mit dem die Parteizeitung nun nach fast siebzig Jahren publizistischer Existenz aus der politischen Landschaft verschwindet, nötigt den alten Herren dann aber doch zu ein wenig Melancholie. „Bald ist der ,Bayernkurier‘ nur noch Erinnerung“, bedauert er. Auch als Hochglanz-Monatsmagazin, zu dem das Medium in den vergangenen Jahren umgebaut wurde, hat ihm das Blatt gut gefallen. Die Stoiber- Kolumne, die aktuellen Essays, die außenpolitischen Analysen sind seine Lektüre-Favoriten. „Dass diese Zeitung eingestellt wird, tut mir leid.“

Schäfer sitzt am Esstisch seines Hauses und zückt seinen Tablet-Computer. Die Lokalzeitung liest er längst digital, auch die Noten für seine zahlreichen Bands bezieht er aus dem Internet. Dass aber der „Bayernkurier“ ab Jahresende nicht mal mehr dort erhalten bleibt, versteht der älteste Abonnent überhaupt nicht. Mit 85 Jahren sucht er sich seine Informationen zwar im Netz, „aber viele ältere CSU-Mitglieder sind dort überhaupt nicht zu Hause. Wo sollen die denn künftig ihre CSU-Informationen finden?“ Ob die Rechnung mit der „digitalen Kommunikation“, wie von der Parteiführung angepeilt, wirklich aufgeht? Beim langjährigen Abonnenten Albin Schäfer, der an die 2.500 „Bayernkurier“-Ausgaben zugesandt bekommen und gelesen hat, bleiben da erhebliche Zweifel.