Die Mauer ist gefallen: Am 10. November 1989 standen Menschen aus Ost- und West auf der Mauer am Brandenburger Tor. (Bild: picture alliance/Norbert Michalke/imageBROKER)
Mauerfall

„Wir sind ein Volk!“

Aus dem aktuellen Bayernkurier: Wie das SED-Regime 1989 rasant in den Abgrund stürzte. Eine Analyse zum 30. Jubiläum des Mauerfalls. Was heute gerne vergessen wird: Die große Mehrheit der SPD hatte damals die Wiedervereinigung längst aufgegeben.

Seit Beginn ihrer Alleinherrschaft in der DDR fehlte der SED die demokratische Legitimation. Die Monopolpartei verweigerte den DDR-Bürgern über 40 Jahre elementare Menschen- und Bürgerrechte. Denn aus Sicht des Regimes waren die Menschen in der DDR eher Untertanen als Bürger.

Bis 1989 ließ die SED ihre Gegner überwachen, terrorisieren, foltern und ermorden. Daher ist sie unter anderem verantwortlich für mehr als 950 Tote an Mauer und Stacheldraht: erschossene, ertrunkene und zerfetzte Ausreisewillige. Hinzu kommen rund 250.000 politische Gefangene der Diktatur als weitere Opfer. Einen Teil ihrer Kritiker ließ die SED gegen harte Währung in den Westen ausreisen – der Gipfel des Materialismus.

Schutzwall für die SED-Herrschaft

Eklatant war auch der geistige Mangel. So fehlte es an westlicher Literatur, die es nicht selten nur unter der Ladentheke gab. Regimegegner und ihre Kinder durften in vielen Fällen nicht studieren. Darüber hinaus litt die Mehrheit der DDR-Bürger unter der Knappheit vieler Güter. Die SED sicherte lediglich eine Grundversorgung. Die meisten Leidtragenden der Miss- und Mangelwirtschaft waren Arbeiter. Damit unterminierte die selbst erklärte Arbeiterpartei ihre soziale Rhetorik. Letztlich errichtete die SED in der DDR eine Klassengesellschaft, die bei der Zuteilung von Lebenschancen zwischen systemnahen und systemfernen Menschen unterschied.

Bis 1989 verhinderten lediglich Mauer und Stacheldraht samt Schießbefehl eine massenhafte Flucht der DDR-Bürger. Über die Mauer hatte John F. Kennedy bereits 1961 bemerkt: „Die Demokratie ist nicht perfekt. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer zu bauen, um die Menschen an der Abwanderung zu hindern und bei uns zu halten.“ Faktisch fungiert die Mauer bis in die Endphase der DDR vor allem als Schutzwall für die SED-Herrschaft – und die Stasi als Schutzschirm für das Regime.

Dann kam Gorbi

Dann aber kam Michael Gorbatschow. Vielen DDR-Bürgern schien er wie ein personifizierter Hoffnungsträger. Wie ein Kontrastmittel förderte er den Niedergang der SED, die seine Reformpolitik ablehnte. Damit stärkte die Honecker-Partei Gorbatschows Ansehen in der DDR und schwächte ihre eigene Herrschaft zunehmend. In der SED-Führung um Honecker dominierte Bunkermentalität.

Anders als am 17. Juni 1953, bei der gewaltsamen Niederschlagung des Arbeiteraufstands im angeblichen „Arbeiterstaat“, musste die SED 1989 aber ohne den Schutz der Sowjetunion auskommen, die gerade auch aus ökonomischen Gründen ihr Imperium aufgeben musste. Der sowjetische Partei- und Staatschef Gorbatschow ermutigte die Regierung in Ostberlin sogar zu Reformen und verweigerte ihr 1989 die militärische Unterstützung bei inneren Aufständen.

Glasnost

Die Fälschung der DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 durch die SED unterminierte deren Herrschaft zusätzlich. Die Oppositionellen, die durch Kontrolle der Wahlen Gorbatschows Versprechen von „Glasnost“(„Offenheit“) wörtlich nahmen, schafften es, die gewohnheitsmäßigen Wahlmanipulationen erstmals klar nachzuweisen. Dadurch wuchs sowohl die Wut auf die SED als auch die Zahl der Demonstrationen in der DDR.

Vergeblich versuchte die Partei, die Protestierenden einzuschüchtern. So unterstützte sie ostentativ ihre Genossen in China, die im Juni 1989 Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig beendet hatten. Die SED-Führung lobte nach der Tötung von etwa 300 Demonstranten, „es sei etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen.“

Torschlusspanik in der DDR

Unterdessen verhandelte in Polen das kommunistische Regime bereits mit der legalisierten Opposition, die der polnische Papst frühzeitig kraftvoll unterstützt hatte. Ungarn durchlöcherte und demontierte seinerzeit als erstes „sozialistisches Bruderland“ den  „Eisernen Vorhang“, indem es DDR-Bürger in den Westen ausreisen ließ, worüber westliche Fernsehsender ausführlich berichteten. Die ungarische Grenzöffnung wirkte wie ein Dammbruch. Weil damals unklar war, wie lange die Grenze offen bleiben würde, herrschte tatsächliche „Torschlusspanik“.

Immer mehr und immer tiefer trieb die Ausreisewelle die SED in die Defensive: Die Zahl der Übersiedler explodierte. Oppositionelle Gruppen, die fast alle lediglich eine Reform des Sozialismus forderten, mobilisierten für Demonstrationen und gewannen rasch Unterstützer.

Proteste zum Jahrestag

Als die SED am 7. Oktober 1989, den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung, versuchte, Proteste am Rande der Veranstaltung in Ost-Berlin niederzuknüppeln, gelang es vor allem den Kirchen, die Demonstranten zu disziplinierter Gewaltlosigkeit zu bewegen. Zuvor hatte das Regime durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) vor allem auf weibliche Demonstranten einprügeln lassen, um Männer zu gewaltsamen Reaktionen zu provozieren.

Selbst die Stasi schien von der Friedfertigkeit der Demonstrationen überrascht. In Erich Loests Roman „Nikolaikirche“ sagt ein Stasi-Genosse: „Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Die Friedfertigkeit der Demonstranten lieferte der SED vor allem keinen Vorwand, mit Gewalt einzuschreiten, worauf sie sich durchaus präpariert hatte.

Rolle der Kirchen

Stark beigetragen zur klugen Friedfertigkeit der Revolution in der DDR haben die Kirchen. Sie hatten frühzeitig an die oppositionellen Gruppen appelliert, keine (Gegen-)Gewalt auszuüben; sie hatten Schutzräume geöffnet; sie hatten ermutigt und getröstet; sie hatten den immer lauteren Rufen nach Wandel, Dialog und Freiheit eine kräftige und glaubwürdige Stimme gegeben.

Immer stärker stieg im Herbst 1989 nicht nur die Zahl der Demonstranten in Leipzig und in vielen anderen Städten, sondern auch die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR. Die Abgewanderten hinterließen zunehmend Lücken in der Infrastruktur des Oststaates, zum Beispiel unter Ärzten. Immer mehr verschärfte der Massenexodus die Versorgungslage. Die SED geriet zwischen die Mühlsteine aus Massen­demonstrationen und Massenabwanderung. Beide, Protest und Flucht, stimulierten sich wechselseitig und drohten wie ein Doppeldruck, Partei und Staat zu pulverisieren.

Honecker muss gehen

Als sich am 9. Oktober 1989 in Leipzig rund 70.000 Demonstranten versammelt hatten, vermied es die SED, die Massenmanifestation aufzulösen – die Pläne, die Menschen gewaltsam auseinanderzutreiben, gründeten auf einer wesentlich geringeren Teilnehmerzahl, weshalb die Staatsführung untätig zuschauen musste. Zuvor hatte die SED in Schulen, Betrieben, Universitäten und anderswo Gerüchte über ein bevorstehendes Blutvergießen gestreut. Davon ließen sich viele Menschen aber nicht mehr abschrecken.

Um wieder in die „politische und ideologische Offensive“ zu gelangen, wie Egon Krenz formulierte, drängte die SED-Führung Honecker Mitte Oktober 1989 aus dem Amt, machte Krenz zu seinem Nachfolger und propagierte plötzlich Reformen. Das zielte vor allem darauf, zu verzögern und die Kontrolle zurückzuerlangen. Demonstranten befürchteten deshalb eine „360-Grad-Wende“ und protestierten gegen jeglichen „Artenschutz für Wendehälse“. Die daraufhin weiter anschwellende Protestwelle manövrierte die SED tiefer in die Sackgasse.

SPD irritiert

Mit atemberaubender Geschwindigkeit beschleunigte die Maueröffnung am 9. November 1989 den Niedergang der SED. Der Ruf „Wir sind das Volk!“ mutierte zunehmend zum Ruf „Wir sind ein Volk!“. Die Bundesrepublik entfaltete eine enorme Sogwirkung. Deutlich votierte die Mehrheit für die bewährte Bundesrepublik und gegen Experimente mit einer anderen DDR, die viele Bürgerrechtler propagiert hatten. Die einstige Vorhut der reformorientierten Zweistaatler geriet zunehmend zur Nachhut. Mit der Demokratisierung übernahmen die Bürger die führende Rolle.

In der damaligen Bundesrepublik hatten vor dem Mauerfall nur wenige Beobachter gewagt, auf ein rasches Ende des SED-Regimes und gar eine Wiedervereinigung zu setzen. Unterschiedlich reagierten die Parteien in der Bundesrepublik auf den tief greifenden Umbruch in der DDR. Die SPD, die über Jahre vor allem auf enge Kontakte zur SED gesetzt hatte, reagierte irritiert und abwehrend auf die fundamentalen Veränderungen in der DDR. Die große Mehrheit der Sozialdemokraten hielt das Regime für reformfähig. Das Ziel der Wiedervereinigung hatte nur für wenige Sozialdemokraten noch eine Bedeutung – die SPD-Mehrheit hatte es bereits aufgegeben.

Die deutsche Frage

Im Kontrast dazu hatten CDU/CSU als Regierungsparteien unter der Führung von Helmut Kohl und Franz Josef Strauß die deutsche Frage auch gegen heftige Widerstände der damaligen Opposition in den 80er-Jahren offen- gehalten und mit der SED-Führung lediglich die notwendigen Kontakte gepflegt, um mehr menschliche Erleichterungen in der DDR zu erreichen. Dadurch konnten zum Beispiel deutlich mehr Menschen in Familienangelegenheiten ausreisen. Das destabilisierte das SED-Regime zusätzlich.

Viel stärker als die SPD hielt die CDU/CSU Kontakt auch zu Regimegegnern in der DDR. Helmut Kohl selbst war in den 80er-Jahren sogar – selbstverständlich begleitet vom MfS – privat mit seiner Familie und engen Beratern in die DDR gereist, um mit Bürgern zu sprechen und um sich vor Ort selbst ein Bild von den Verhältnissen zu verschaffen. Später, am 9. November 1989, sagte Bundeskanzler Kohl über den Mauerfall: „Für mich ist dieser Augenblick einer der glücklichsten in meinem Leben.” Damit sprach er vielen Menschen in Gesamtdeutschland aus dem Herzen. Durch ihre Politik in den 80er- Jahren hatte die CDU/CSU den Mauerfall und Wiedervereinigung mit ermöglicht.

SED-Erben

Um nach dem Sturz ihrer langjährigen Diktatur zu überleben, brauchte die SED/PDS-Führung aus ihrer Sicht „Sündenböcke“. So beschloss die alte/neue Parteiführung Ende 1989 im kleinen Kreis, das MfS öffentlich als Hauptschuldigen für Verbrechen und Versagen in der DDR zu präsentieren, um die SED reinzuwaschen. Doch tatsächlich agierte das MfS in der Diktatur nicht wie ein Staat im Staate, sondern operierte als ein Hauptherrschaftsinstrument und als Handlanger der SED. Faktisch fungierte die SED 40 Jahre als Auftraggeber des MfS.

Die Strategie, das MfS als Hauptschuldigen hinzustellen, um von der Verantwortung der SED für ihr Unrechtsregime abzulenken, funktioniert vielfach bis heute. Gerade auch davon profitieren die SED-Erben weiterhin.