Klein-Berlin: Wachtürme, Stacheldrahtzaun, geharktes Vorfeld im einst geteilten Grenzort Mödlareuth. (Bild: ©Jonas Ratermann)
Mauerfall

Neuer Lebensraum im Todesstreifen

Aus dem aktuellen Bayernkurier-Magazin: Dreißig Jahre nach der Wende ist die innerdeutsche Grenze zum „Grünen Band“ gewachsen. Der Fremdenverkehr floriert und Bauern beackern west-östliche Felder, Naturforscher bestaunen blühende Landschaften.

Mit Licht fängt er Schmetterlinge. Während sich stockdunkle Nacht über Oberfranken senkt, baut Georg Nowak seine UV-Falle auf. Vor ein weißes Betttuch, das er über sein Auto am Waldrand wirft, platziert er zwei Leuchtröhren. Schwarzes und superaktinisches Licht. In der späten Dämmerung knipst der Insektenforscher sie an. Aus der Entfernung wirkt er wie der Tiefsee-Anglerfisch mit lumineszentem Köderorgan in der Finsternis des Ozeans.

Insektenvielfalt im grünen Band

Der Hobby-Entomologe Nowak, 68, aus Hof hockt sich auf seinen Campingstuhl und wartet. „Gestern habe ich allein 145 verschiedene Sorten Nachtfalter gefangen“, ruft er begeistert. Blick ins Bestimmungsbuch: Spanische Flagge, Brauner Bär, Mittlerer Weinschwärmer, Hausmutter, Meldeneule. Alle kamen sie angeflattert und ließen sich auf Nowaks hell beleuchtetem Leintuch nieder. „Mit der Sahara-Luft in diesem heißen Sommer sind sogar Distelfalter bis aus Israel eingeschwärmt“, staunt der Experte. Jedes Mal, wenn er einen neuen Flattermann sichtet, springt er auf, strahlt ihn mit der Taschenlampe an, katalogisiert ihn auf der Liste. Schon binnen zwanzig Minuten hat er elf Neue entdeckt.

Landwirtschaft und Luftverschmutzung setzen auch im Norden des Freistaats Bienen und Käfern zu. Aber die einstige Zonengrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR hat sich zu einem einzigartigen Natur-Refugium entwickelt. „Das war hier jahrzehntelang unberührt“, sagt Nowak, „heute ist das Grüne Band eine ununterbrochene Kette von Biotopen.“ Auf der Wildwiese unterhalb des Dörfchens Tiefengrün, auf der er für den Landesbund für Vogelschutz die Insektenvielfalt kartografiert, blühen seltene Blumen. Falterschwärme steigen in der warmen Sommernacht auf, „um sich noch schnell fortzupflanzen“. Massen-Romantik auf dem ehemaligen Minenfeld.

Nervenkitzel des Kalten Krieges

Der Todesstreifen hat sich zum Lebensraum entwickelt. Nicht nur für Pflanzen und Tiere. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall regt sich auch mehr menschliches Leben auf den 422 Kilometern zwischen Bayern und Thüringen, von der Rhön bis hinüber nach Hof an der tschechischen Grenze. Hoteliers, Wirte, Campingplatz-Besitzer gedeihen. Scharen von Radl-Touristen folgen dem Ruf der Natur und dem Nervenkitzel des Kalten Krieges. Die Wirtschaftsräume dies- und jenseits der einstigen innerdeutschen Grenze wachsen weiter zusammen. Industrie und Gewerbe ziehen an. Selbst eher strukturschwache Landkreise wie Hof oder Kronach verzeichnen Arbeitslosenquoten von gerade mal 2,6 respektive 3,4 Prozent.

Mödlareuth vor der Wende …

Dass das zwischen 1945 und 1990 ganz anders aussah, besichtigen jährlich 80.000 Besucher in der Gedenkstätte von Mödlareuth. Das Dorf unweit der blühenden Landschaft, in der Schmetterlingssammler Nowak leuchtet, teilte einst das düstere Schicksal Berlins: Ein Betonwall nebst Wachturm, Metallzäunen, Kfz-Graben und Selbstschussanlage durchzog den Ort. „Little Berlin“ am Tannbach. „In der Hauptstadt haben sie die Mauer fast rückstandsfrei abgerissen. Hier können die Menschen das noch sehen“, erklärt Historiker Robert Lebegern, der das „Deutsch-deutsche Museum“ seit 2006 leitet.

Rund 700 Meter der Original-Sperrmauer und der Beobachtungsturm sind erhalten. Dazu ein längeres Stück des Metallgitterzaunes außerhalb der Gemeinde, inklusive des originalgetreu geharkten Vorfeldes, auf dem die DDR-Grenzer Fußspuren von sogenannten „Republikflüchtlingen“ ablesen konnten. Beim Betrachter bleibt der spukartige Eindruck haften, den der Todesstreifen zu Zeiten seiner real-sozialistischen Existenz stets ausgestrahlt hat. Die Mödla­reuther Mauer fiel genau einen Monat nach ihrem Berliner Pendant. Freibier, Wörschtla vom Grill. Am 9. Dezember 1989 riss ein Bagger ein Loch in das Bauwerk. Die Blaskapelle aus dem Ostteil marschierte hindurch und spielte „Ja, mir san mi‘m Radl da“.

… und heute

Aus zwei Teilen wurde wieder ein Ort. Heute verläuft durch den 50 Zentimeter breiten Tannbach keine Staatsgrenze mehr, wohl aber die Trennlinie zwischen Bayern und Thüringen, zwischen dem Landkreis Hof und dem Saale-Orla-Kreis im Vogtland. Politisch vertreten werden die 16 Einwohner West vom CSU-Bürgermeister Klaus Grünzner aus der Nachbargemeinde Töpen und die 24 Bewohner Ost vom Gefeller Ortsvorsteher Marcel Zapf, Vereinigung Unzufriedener Bürger (VUB).

Kuriose Verhältnisse an der Sprachgrenze zwischen Grüß Gott und Guten Tag: Mitten durch den Ort verläuft auch die Verkehrsgrenze zwischen den Autokennzeichen HO und SOK, die Festnetzgrenze zwischen den Telefon-Vorwahlen 09295 (West) und 036649 (Ost), die postalische Grenze zwischen den Postleitzahlen 95183 Mödlareuth und 07926 Mödlareuth. Ein Brief von hüben nach drüben nimmt den Umweg über Verteilzentren in Hof, Bayreuth, Gera, Schleiz. Zwei Briefträger stellen die Post in den beiden Mödlareuths zu. Ansonsten, versichert Museumsmann Lebegern, „läuft der Alltag aber nicht so umständlich, sind die Dörfer völlig zusammengewachsen“. Ihr gemeinsames Bier trinken Bewohner im Wirtshaus „Zum Grenzgänger“ am Dorfteich.

Die Grenze spüren

Die Schülergruppen, die ein Viertel der Besucher im Deutsch-deutschen Museum ausmachen, kriegen von der leicht verworrenen Gegenwart des Dorfs wenig mit. Umso mehr jedoch von der Vergangenheit, an welche die Jugendlichen keine persönliche Erinnerung haben. „Ähnlich wie beim Dritten Reich wird für die Nachkriegszeit die Erlebnisgeneration kleiner“, sagt Lebegern, „die jungen Leute selbst haben keine biografische Erinnerung“. Da sei es wichtig, dass sie auf Klassenfahrt noch Zeitzeugen aus Mödla­reuth treffen können. Solche bietet er regelmäßig auf, um den Schülern die einst brutale Realität der Mauer zu vermitteln.

Manche freilich, die das Grauen der Grenze noch selbst erlebt haben, ziehen lieber unerkannt durch den Ort: Das Ehepaar Renate und Klaus Thierfelder, 66 und 69, aus Erfurt spaziert mit Mischlingshündin Lilla am erhaltenen Metallgitterzaun entlang, der vom Dorfrand in die Felder führt. 1974 sind die beiden als noch junge Menschen beim „illegalen Grenzübertritt“ von der damaligen Tschechoslowakei nach Bayern ertappt worden. Eineinhalb Jahre haben sie dafür im DDR-Gefängnis gesessen, bevor der Zwangsstaat sie nach Westen abschob. „Diese brutale Grenze“, schimpft Herr Thierfelder noch heute. Bitter zieht seine Frau die Mundwinkel nach unten. „Überall Maschinengewehre, Selbstschussanlagen, Minen! Das wollen heute viele lieber vergessen.“

Thierfelder nicht. Ein oder zwei Mal im Jahr kommt er nach Mödlareuth, stapft entlang der Original-Grenzanlagen, um das Vergangene zu verarbeiten. „Das Scheißding ist fort. Ich kann hier herumlaufen. Das ist meine Genugtuung bis zum Lebensende.“ Entschlossenen Schritts wandert er mit Gattin Renate an der Hand den Kfz-Sperrgraben entlang hinaus in die Natur. Hinterher springt Lilla, schwanzwedelnd.

Aus Gitterzaun …

Aus den Köpfen verschwindet die Mauer nicht so schnell. Im Landschaftsbild ist sie immer weniger zu erkennen. Buchen und Birken überwuchern den vormaligen Grenzstreifen. Das Gras, das die Bauern auf ost-westlichen Wiesen mähen, ist hier so grün wie dort. Man­cherorts ragt noch ein Wachturm empor. Wer die Spuren lesen kann, findet sie: Die Zufahrt zur Kompostanlage von Mödlareuth haben die Gemeindearbeiter mit Betonplatten des Kolonnenwegs gepflastert. Standard-Quader, einer auf drei Meter Fläche mit zwanzig Zentimeter langen Aussparungen, durch die heute Unkraut wuchert. Darüber fuhren einst die DDR-Truppen in Lada-Geländewagen Patrouille.  Wenn auch der Todesstreifen verschwunden ist, so sind diese Betonteile über Hunderte Kilometer im Boden geblieben.

Die Überreste des Metallgitterzaunes sind in die nähere Umgebung diffundiert. „Als die Grenze abgebaut wurde, konnte sich jeder bedienen“, sagt Alfred Olech, „und so finden sie das Gitter überall.“ Landwirte zimmerten daraus Begrenzungen für ihre Felder und Fangnetze im Heuschober, Bauunternehmer bastelten sich Siebe für Sand und Kies. Gartenbesitzer formten Umrandungen fürs Gemüsebeet oder runde Komposthaufen, Häuslebauer integrierten die Stahlware in ihre Wohnhäuser, Garagen, Datschen. Wer genau hinschaut, entdeckt sie allerorten wieder.

… wird Hühnerstall

Der alte Bergmann Olech, 85, sitzt mit Gattin Irene in Probstzella in der Hollywoodschaukel vor seinem Hühnerstall. Jahrzehnte hat er in einer Schiefer-Mine malocht. Den Stall hat er nebenher errichtet und – natürlich – vor dreißig Jahren mit Grenzzaun-Stücken vergittert. „Gute Ware“, lobt der alte Herr. Absolut rostfrei hegt das Geflecht sein Federvieh ein, als hätte es Olech erst neulich im Baumarkt besorgt. „Feuerverzinkt, West-Qualität“, wie er weiß. Denn das Material zum Einsperren seiner Bürger importierte der Arbeiter- und Bauernstaat von Lieferanten in der Bundesrepublik und aus Schweden. Korrosion am „antifaschistischen Schutzwall“ galt es zu vermeiden.

Um Olechs Füße gackern die Hennen, die durch eine kleine Klappe jederzeit aus dem Verschlag heraus können. In den Grenzort Probstzella durften DDR-Bürger damals nur mit Passierschein reisen, und die Bewohner selbst waren nicht nur gen Westen eingesperrt, sondern auch gen Osten. Denn durch den Bahnhof im Ort rollten die Transitzüge zwischen München und Berlin. Das Grenzzonengebiet war in alle Himmelsrichtungen abgeriegelt.

Durch die Minen – und retour

An den Gleisen patrouillierten Bewaffnete mit scharfen Hunden auf der Suche nach DDR-Bürgern, die sich womöglich unten an den Zug hängten. Durch die Waggons zogen Beamte mit Maschinenpistolen und kon­trollierten streng die Pässe der „Zitteraale“, wie sie die Transit-Westbürger nannten. Oben auf dem Hopfberg, Sicherungsabschnitt XII/III./GR-15, wachten Grenzsoldaten im bis heute erhaltenen Turm im Minenfeld und schossen scharf. Zwischen 1946 und 1973 starben allein hier 14 Menschen auf der Flucht, von geschätzt 1.000 Todesopfern des DDR-Grenzregimes.

Das Ehepaar Olech lebte schon damals im Tal am Zufahrtstor zum Todesfeld Hopfberg. „Was da genau vor sich ging, wusste keiner“, schüttelt der alte Mann den Kopf. Als dann 1979 auch noch zwei Brüder aus Probstzella mittels einer selbst gebauten Klappleiter über den Signalzaun entkamen, verschärfte die Staatsmacht die Repression. Linientreue im Ort stempelten die beiden zu „Verrätern“, daran erinnern sich die Olechs. „Nach der Wende sind die zwei aber wieder zurückgekommen und leben bis heute hier“, sagt Irene Olech.

Mit der Grenze zu leben, haben die Probstzellaer damals gelernt – und nach dem Fall der Mauer auch wieder ohne sie. Ein Verwandter der Olechs, der Unternehmer Dieter Nagel, hat die größte Sehenswürdigkeit im Ort übernommen: das 1927 im lupenreinen Bauhaus-Stil errichtete Grand Hotel „Haus des Volkes“. Zu DDR-Zeiten, als die Zollbeamten darin hausten, musste es in „Haus der Einheit“ umbenannt werden. Deutlich sichtbar stand es mit dem Schriftzug über allen Transitreisenden auf der Bahnstrecke. „Gemeint war aber nicht die Einheit des deutschen Volkes“, schnaubt Investor Nagel, „sondern die sozialistische Einheit aus KPD und SPD.“ Nach der Wiedervereinigung hat er dem Volkshaus seinen ursprünglichen Namen zurückgegeben.

Tourismus zieht an

Klare Linien, rechtwinklige Sachlichkeit. „D-Zug“ steht in modernistischen Lettern auf der Tür zum Blauen Salon. Nagel sitzt an der Bar des Speisesaals, den die Bauhäusler in ihrer Maschinenbegeisterung wie das Bordrestaurant eines Nacht­expresses gestalteten, und schlürft Tonsine, ein Mischgetränk aus Tonic- Wasser und Orangensaft. Der Hotelier hebt das Glas: „Was für ein Glück, dass diese elende Grenze gefallen ist!“

Er zählt sich zu den Gewinnern der Wende. Der Tourismus ziehe spürbar an: historisch Interessierte auf den Spuren des Todesstreifens, Natur-Puristen auf Radtour entlang des Grünen Bandes. Dazu Architektur-Fans, die im 100. Gründungsjahr des Bauhauses hierher pilgern. Mehr als 3.000 Gäste beherbergt er pro Saison, bis aus den USA. „Ganz gut für ein Haus fernab großer Städte“, findet er, „und erstaunlich, dass überall entlang der einstigen Grenze neue Chancen wachsen.“

Die weltbesten Steaks …

Das gilt für die thüringische Seite ebenso wie für die bayerische, die sich gegenseitig beleben. In rund 40 Kilometern Entfernung spürt dies auch die alteingesessene Familie Detsch in Haig, Landkreis Kronach. Land und Wirt, das war für den oberfränkischen Clan immer schon eins. Die Detschs betreiben seit 300 Jahren einen Bauernhof mit Schankstelle. „Wir haben mit der Grenze gelebt“, erinnert sich Landgasthof-Betreiberin Barbara Detsch. Die große Viehweide der Familie endet rund 300 Meter vor dem Waldrand, der seinerzeit die Linie zwischen BRD und DDR markierte. „Ohne die Grenzöffnung hätten wir uns niemals so entwickelt.“

Zur Jahrtausendwende errichteten sie neben dem Gasthaus ein kleines Hotel. Die althergebrachte Milchviehwirtschaft wurde ihrem Vater, Helmut Detsch, heute 80, zu wenig ertragreich. Mit Sohn Ulrich kam er auf eine neue Idee: Zwanzig schottische Black-Angus-Rinder weiden heute auf der Grenzwiese. Glänzendes schwarzes oder braunes Fell, als Ausweis der gesunden Ernährung mit ungedüngtem Gras. Auch wenn der Landwirt Detsch nicht bio-zertifiziert ist – in der Region bis nach Coburg im Westen und Sonneberg im Osten preisen Öko-Fans und Grill-Connaisseure die Steaks im Landgasthof Detsch als die Köstlichsten, Weltbesten überhaupt. „Wir verkaufen unser Fleisch nicht an Metzger. Das gibt’s bloß hier auf der Speisekarte“, grinst Altbauer Detsch.

… am ehemaligen Ende der Welt

Täglich besucht er die Tiere auf der Weide. Gehüllt in einen Bundeswehr-Parka mit schwarz-rot-goldenem Schulteremblem, wie ihn einst die West-Grenzer trugen. Detsch stapft an den tranig käuenden Rindern vorbei in Richtung Waldrand. „Hier hat einst unsere Welt geendet“, brummelt er. Ein DDR-Wachturm stand an der Biegung der Staatsstraße 2708, dahinter der gerodete Minengürtel. Noch gut erinnert sich der alte Herr, „wie es tage- und nächtelang gerumst hat, als die 1990 ihre Sprengfallen geräumt und in die Luft gejagt haben“.

Heute blickt er über einen aufgeforsteten Landstrich. In frischem Grün wachsen Büsche von der ehemaligen Ostseite an den Forst auf der Westseite heran. „Ich sag’s immer allen Jüngeren“, erklärt der Alte, „was für ein Glück, dass die Vereinigung Deutschlands friedlich gelaufen ist.“ Das habe er sich beim Blick von seiner Weide auf diese mörderische Grenze nie vorstellen können.