SPD-Parteichef Sigmar Gabriel. (Foto: CommonLens/imago)
Sozialdemokraten

Auf Distanz zu den kleinen Leuten

Gastbeitrag Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Seit vielen Monaten verharren die Umfragewerte der SPD im Keller. Mit einem Schwenk nach links hofft Parteichef Sigmar Gabriel, wieder mehr Wähler zu erreichen. Tatsächlich haben die Sozialdemokraten längst den Kontakt zu weiten Teilen der Bevölkerung verloren.

Auf dem Parteikonvent Anfang Juni in Berlin forderte Sigmar Gabriel, die SPD müsse sich (noch) stärker links positionieren. Dadurch hofft er, den SPD-Sinkflug zu beenden. Tatsächlich wächst seit Monaten der Druck auf den Parteivorsitzenden. Mehr als ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl sind die Zustimmungswerte der SPD auf Bundesebene unter 25 Prozent gesunken. In einigen Umfragen rangiert die SPD inzwischen sogar unter 20 Prozent. Nie ermittelten Demoskopen auf Bundesebene niedrigere Werte für die SPD.

Im Herbst drohen weitere Niederlagen

Zwar agiert die SPD derzeit in 13 Landesregierungen; in neun Ländern stellt sie mittlerweile den Ministerpräsidenten; in Rheinland-Pfalz errang sie unter Malu Dreyer jüngst einen Wahlsieg. Doch landete sie bei den jüngsten Landtagswahlen in Baden-Württemberg (rund 13 Prozent), dem bundesweit zweitgrößten SPD-Landesverband, und Sachsen-Anhalt (rund 11 Prozent) nur auf dem 4. Platz im Ranking der Parteien. In beiden Ländern überholte die AfD die SPD – im industriell geprägten Mannheim eroberte die AfD von der SPD deren letztes Direktmandat in Baden-Württemberg. Damit konkurriert die SPD inzwischen nicht nur mit der CDU, den Grünen und der Linkspartei um Wählerstimmen, sondern verstärkt auch mit der AfD. Die Rechtspopulisten punkten gerade auch bei Arbeitern; nennenswerte Stimmenanteile holen sie nicht nur aus dem Nichtwählerlager und von der CDU, sondern auch von Linkspartei und SPD.

Bei den Landtagswahlen im Herbst in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin könnte die SPD in der Wählergunst laut aktuellen Umfragen weiter zurückfallen. Das würde die Lage der SPD und ihres Vorsitzenden Gabriel massiv verschärfen. Entsprechend schlecht ist die Stimmung in der Partei. Viele Mandatsträger fürchten um ihre politische Zukunft.

Zehn Millionen Wähler verloren

Zu den Hauptgründen, warum die SPD zunehmend ihren Status als Volkspartei verliert, gehört ihre Distanz zu den Sorgen und Nöten von Normalbürgern. Gerade in den sozialen Souterrains der Gesellschaft findet die SPD immer weniger statt, insbesondere seit Oskar Lafontaines Wechsel zur Linkspartei. Das wütende Prekariat entfernt sich verstärkt von der Partei, die zunehmend zur Partei des öffentlichen Dienstes und von Akademikern mutiert. So errang die Linke bereits bei der Bundestagswahl 2013 fast genauso viel Zustimmung bei Arbeitslosen wie die SPD, die insgesamt freilich fast dreimal so viele Stimmen einfuhr wie die Partei Gregor Gysis (25,7 gegenüber 8,6 Prozent).

In manchen Bundesländern ist die Partei kaum noch vertreten, etwa in weiten Teilen Bayerns, Baden-Württembergs und Ostdeutschlands.

Die Probleme der SPD häufen sich – bedrohlicher als bei anderen Parteien. Seit 1998 hat die SPD auf Bundesebene 10 Millionen ihrer zuvor 20 Millionen Wähler verloren. In den letzten 25 Jahren hat sie ebenfalls fast die Hälfte ihrer Mitglieder eingebüßt. Unterdessen sinkt ihre Präsenz und Aktivität im sogenannten „vorpolitischen Raum“, zum Beispiel in freiwilligen Feuerwehren und Sportvereinen. Inzwischen sucht sie Landrats-Kandidaten per Zeitungs-Annonce. In manchen Bundesländern ist die Partei kaum noch vertreten, etwa in weiten Teilen Bayerns, Baden-Württembergs und Ostdeutschlands.

Mehr als andere Parteien leidet sie unter schrumpfenden Milieus, die auch in schwierigen Zeiten Loyalität sichern. Viele SPD-Anhänger können kaum noch erkennen und erklären, wofür ihre Partei genau steht. Eine Partei ohne Seismograf und Kompass in bewegten Zeiten? Eine starke Parteiführung, die den „Laden“ zusammenhielte, fehlt – im krassen Kontrast zur kurzen „Ära“ Schröder und Lafontaine, die ihre Partei ab 1997 disziplinierten und auf Regierungskurs trimmten.

Dissonanzen und Flügelkämpfe

Heute ist sie hingegen oft tief gespalten und damit politisch kaum sprechfähig – Dissonanzen statt Einheit in Vielfalt. Oft bekämpfen die SPD-Flügel eher einander statt sich programmatisch konstruktiv zu ergänzen, wie es sich für eine Volkspartei gehört. In der Partei dominiert oft eher Gesinnungs- als Verantwortungsethik. Maßgebliche Teile der SPD beweisen häufig mehr Sinn für das Wünsch- als das Machbare. Damit ist die SPD weit entfernt von Standfestigkeit nach innerparteilichen Kompromissen; ebenso von Aufbruch, Dynamik und Tatkraft. Von politischer Deutungshoheit und Meinungsführung hat sie sich weitgehend verabschiedet. Nur selten gelingt es ihr, in zentralen Fragen die politische Agenda zu bestimmen. Das gilt besonders für die Asyldebatte.

Bereits heute sind Integrationsprobleme gerade auch in (langjährig) SPD-regierten Bundesländern oft besonders ausgeprägt, etwa höhere Arbeitslosigkeit von Migranten.

Der Massenzuzug der vergangenen Monate beunruhigt gerade auch viele SPD-Wähler. Stärker als andere Segmente der Gesellschaft konkurriert das SPD-Wählerpotenzial mit Migranten etwa um Wohnraum und Arbeitsplätze. Insbesondere auch im Prekariat – zum Beispiel unter Paketzustellern, Reinigungskräften, Busfahrern und Hilfsarbeitern – grassieren Ängste und Sorgen wegen des Massenzuzugs. Vor allem auch kleine Leute und integrierte Migranten fordern daher, den Zuzug deutlich zu senken und reale Probleme – etwa hohe Anteile an Intensivtätern und Langzeitarbeitslosen unter schlecht integrierten Migranten – nicht zu ignorieren oder schönzureden, sondern anzusprechen und anzupacken.

Zwischen Multi-Kulti-Anhängern und AfD-Parolen

Bereits heute sind Integrationsprobleme gerade auch in (langjährig) SPD-regierten Bundesländern oft besonders ausgeprägt, etwa höhere Arbeitslosigkeit von Migranten. Dennoch verweigerten SPD-regierte Länder über Monate die Aufnahme weiterer Länder (Albanien, Kosovo und Montenegro) in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten, aus denen bis Ende 2015 – bei minimalen Anerkennungsquoten – ein Großteil der oft wenig qualifizierten Asylbewerber kam, obwohl in ihrer Heimat weder Krieg noch Diktatur herrschen.

Gerade vor Ort in den Kommunen erklingen seit Jahren verstärkt Forderungen, Asylverfahren zu beschleunigen, Kosten für die Versorgung zu senken, Schwierigkeiten bei der Unterbringung entgegenzuwirken und Asylmissbrauch stärker zu bekämpfen. Vor allem auch Kommunalpolitiker plädieren dafür, einerseits Sogfaktoren und Anreize zu mindern und Deutschland als Zielland für Asylbewerber unattraktiver zu machen. Andererseits gelte es, rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber leichter abzuschieben – und das Asylrecht für wirklich Verfolgte zu sichern, die Unterstützung brauchen. Doch immer noch ist auch die Zahl der Abschiebungen von ausreisepflichtigen Asylbewerbern in vielen SPD-regierten Ländern besonders gering. Mehr denn je scheint die SPD heute tief gespalten zwischen „Multi-Kulti-Anhängern“ und eigenen Traditionswählern, die auch für AfD-Parolen empfänglich sind.

Keine Kompetenz in Sachen Sicherheit

Ebenfalls vernachlässigt die SPD seit Jahren den Kampf gegen Einbrüche, Diebstahl, Raub und rohe Gewalt. Hohe Kriminalität ist vielenorts nicht nur ein subjektives, sondern auch ein objektives Problem. Deshalb ist es bedeutsam, Bürger wirksam vor Verbrechen zu schützen. Das gehört zu den Hauptaufgaben von freiheitlicher Politik. Hier gilt es, haushaltspolitische Prioritäten zu setzen. Denn vor allem im schwachen Staat erklingen Rufe nach einem „starken Mann“. Sicherheit ist eine Voraussetzung für Freiheit – und kein grundsätzlicher Gegensatz zu ihr. Freiheit ohne Sicherheit mündete letztlich in Anarchie und Sozialdarwinismus. Gerade Schwache – Kinder, Frauen und Ältere – leiden, wenn der Staat im Kampf gegen Kriminelle Schwäche zeigt. Gegen das Recht des Stärkeren gilt es deshalb, die Stärke des Rechts durchzusetzen.

Im Kontrast zur Rhetorik vieler SPD-Funktionäre fürchtet sich die Mehrzahl der Wahlberechtigten mehr vor (privaten) Verbrechern als vor einem angeblichen Überwachungsstaat.

Doch verzeichnen (langjährig) SPD-regierte Länder in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) höhere Fallzahlen und niedrigere Aufklärungsquoten. Seit längerer Zeit hält auch die Mehrheit der Wähler die SPD in Fragen der öffentlichen Sicherheit für wenig kompetent. Jüngst stritt die SPD über die Vorratsdaten-Speicherung, die dazu beitragen könnte, schwere Straftaten aufzuklären und damit neue Verbrechen zu verhindern. Im Kontrast zur Rhetorik vieler SPD-Funktionäre fürchtet sich die Mehrzahl der Wahlberechtigten mehr vor (privaten) Verbrechern als vor einem angeblichen Überwachungsstaat.

Schulden schmälern die Aufstiegschancen

Unsozial wirkt auch die Schuldenpolitik gerade auch vieler (langjährig) SPD-regierter Länder. Denn von höheren Schulden profitieren vor allem Banken und Reiche, bei denen sich der Staat Geld leiht. Je höher die Schulden, desto weniger Geld bleibt, um Bedürftige zu unterstützen und in Bildung zu investieren. Dennoch überweist zum Beispiel NRW pro Jahr – trotz aktueller Niedrigzinsen – mehrere Milliarden Euro für den Schuldendienst an Banken. Wie viele Laptops für bedürftige Schüler und Stipendien für begabte Arbeiterkinder ließen sich damit finanzieren? Seit geraumer Zeit verzeichnen SPD-regierte Länder eine besonders hohe Pro-Kopf-Verschuldung – und verschlechtern damit das Investitions- und Beschäftigungsklima zulasten gerade kleiner Leute.

Statt soziale Aufstiegschancen zu steigern, erhöht die SPD damit durch Umverteilung Sozialleistungen – zulasten aller (Steuer- und) Beitragszahler, darunter viele Kleinverdiener.

Ein weiteres Thema, mit dem die Partei Gabriels die Lebensweise von Millionen Normalbürgern, darunter auch viel SPD-Wählerpotenzial, gering schätzt und grob missachtet, ist die Kritik am Ehegattensplitting („Hausfrauenehe“). Kaum interessiert viele kleine Leute auch das weit abgehobene SPD-Projekt einer Frauenquote in Aufsichtsräten. Von der Rente mit 63 profitieren hingegen weit überwiegend Männer mit langen Beitragszeiten. Statt soziale Aufstiegschancen zu steigern, erhöht die SPD damit durch Umverteilung Sozialleistungen – zulasten aller (Steuer- und) Beitragszahler, darunter viele Kleinverdiener. Auch die „Ehe für alle“ tangiert und bewegt die Mehrheit der (SPD-) Wähler nur wenig. In der demoskopisch gemessenen Prioritätenskala rangiert sie weit unten. Von Realitätsferne zeugt schließlich die desolate Bildungspolitik von langjährig SPD-regierten Ländern („PISA“), obwohl gerade Bildung sozialen Aufstieg fördert.

Vollblutpolitiker sind nicht in Sicht

Für einen Wahlerfolg auf Bundesebene mangelt es der SPD derzeit aber auch an kampagnenfähigem Personal. Nicht in Sicht scheint derzeit ein Vollblutpolitiker und Wahlkämpfer vom Format eines Gerhard Schröder. Frank-Walter Steinmeier erringt in Umfragen zwar immer wieder gute Kompetenz- und Sympathiewerte. Doch wie Peer Steinbrück hat er als Spitzenkandidat noch nie eine Wahl gewonnen, aber schon einmal gegen Angela Merkel verloren. Ein neuer Anlauf Steinmeiers als Kanzlerkandidat scheint daher nahezu ausgeschlossen.

Andrea Nahles wiederum ist momentan noch zu jung, um zu kandidieren. Aus Sicht der Bevölkerung und selbst aus der Perspektive vieler SPD-Genossen mangelt es ihr bislang massiv an der erforderlichen Kompetenz für das Amt des Bundeskanzlers. Das muss aber nicht so bleiben. Derzeit sammelt sie Regierungserfahrung und führt ein zentrales Ressort mit dem eindeutig höchsten Etat.

Seit 2013 bemüht sie sich, durch seriöse Sacharbeit und kommunikative Disziplin ihr Image zu verbessern. Bislang beweist sie als Bundesarbeitsministerin immer wieder ihre besondere Durchsetzungsfähigkeit. Innerparteilich ist sie – seit Juso-Zeiten – ohnehin besser vernetzt als kaum ein anderes SPD-Mitglied. Auch das bedeutet eine wichtige Grundlage für eine etwaige Kanzler-Kandidatur von Nahles 2021. Ein Scheitern der sozialdemokratischen Kanzler-Ambitionen 2017 würde der flexiblen Nahles daher eher nutzen als schaden. Das gilt ebenfalls für Olaf Scholz, den Regierungschef Hamburgs.

Wer stellt sich zur Wahl?

Letztlich wird der Instinktpolitiker Gabriel 2017 wohl antreten (müssen), obwohl seine persönlichen Zustimmungswerte teilweise noch geringer ausfallen als die Popularität seiner Partei. Kandidieren wird er vor allem, um sein Amt als SPD-Chef zu behalten. Daher arbeitet er in seinem Ministeramt daran, seine Wirtschaftskompetenz und die seiner Partei zu stärken. So kämpft er u.a. für das Freihandels-Abkommen mit den USA – ebenfalls gegen heftige Widerstände in seiner Partei.

Um Parteichef zu bleiben, wird er das SPD-Wahlergebnis von 2013 deutlich steigern müssen. Bislang hat auch Gabriel als Spitzenkandidat noch nie eine Wahl gewonnen. Durch seinen Rückschlag bei der jüngsten Wiederwahl zum Parteivorsitzenden mit nur 75 Prozent (ohne Gegenkandidaten) geht er zusätzlich geschwächt in die Zukunft. Umso mehr rätseln SPD-Insider, wie es mit einem internen Ideologen-Anteil von 25 Prozent gelingen soll, die Unionsparteien wieder in die Opposition zu drücken.

Rot-Rot-Grün vergrault die Mitte

Weiter gelten die Grünen als der bevorzugte Koalitionspartner der SPD, die mit der Ökopartei, aber auch der LINKEN sowohl kooperiert als auch konkurriert – alle drei Parteien fischen teilweise im selben Teich. Weil es für Rot-Grün auf Bundesebene seit langer Zeit aber keine Mehrheiten gibt und weil die SPD ihrem Wählerpotenzial – anders als 2013 ­­‑ auch eine realistische Koalitionsperspektive anbieten muss, hat sie sich bereits Ende 2013 per Parteitagsbeschluss für die rot-rot-grüne Option geöffnet. Sie will vermeiden, vor der nächsten Bundestagswahl wieder nur einen Vize-Kanzlerkandidaten aufstellen zu können.

Ohne die LINKE (oder die FDP) wird die SPD, wie es heute ausschaut, vorerst keinen Kanzler stellen können. Mit einer rot-rot-grünen Option verschreckt und vergrault die SPD freilich einen erheblichen Teil ihrer „Mitte-Wähler“. Die Öffnung für Rot-Rot-Grün ähnelt strategisch einem Sprung ins Dunkle.

Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler und Parteienforscher in Bonn.