Politisches Quartett erklärt Russland (v.l.): Werner Fasslabend, Marianne Kneuer, Klaus Naumann, Ulrich Jörges.Bild: HSS
Diskussionsabend

Wladimir Putins ukrainische Rechnung

Russland braucht die Ukraine, weil ihr sonst die demographische Basis für Großmachtpolitik fehlt. Wird die Ukraine ein neues Griechenland? - Ein spannender Diskussionsabend bei der Hanns-Seidel-Stiftung.

Eine einfache demographische Rechnung führt zu einem plausiblen Motiv für Wladimir Putins aggressive Ukraine-Politik: 1,3 Milliarden Chinesen, 1,2 Milliarden Inder, 515 Millionen EU-Europäern und 320 Millionen Amerikanern stehen nur 143 Millionen Russen gegenüber. Und das bei fallender Tendenz: 2050 werden es UN-Projektionen zufolge nur noch 121 Millionen Russen sein.

Russland ist Atommacht mit Veto-Sitz UN-Sicherheitsrat und das größte Land der Erde. Aber nach Köpfen ist Russland keine Großmacht mehr. Für Supermachtpolitik fehlt Putins Russischer Föderation schlicht die demographische Basis. Nur wenn man den postsowjetischen Raum miteinbezieht – die sogenannte Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) -, bessert sich das demographische Bild: Mit den anderen GUS-Staaten käme Moskau in einer von ihm geführten Eurasischen Union auf eine Bevölkerung von 269 Millionen. Das macht die Ukraine wichtig: Mit 46 Millionen Seelen wäre sie der größte GUS-Brocken. Ohne die Ukraine und ihre Menschen ist russische Großmachtpolitik kaum vorstellbar.

Die erhellende Sichtweise bot der ehemalige österreichische Verteidigungsminister Werner Fasslabend (ÖVP) auf dem ersten Außenpolitischen Quartett der Hanns-Seidel-Stiftung. Die sehr gelungene Auftaktveranstaltung im neuen Diskussionsformat war der „Krise im Osten Europas als europa- und weltpolitische Herausforderung“ gewidmet. Drei bis vier solcher Außenpolitischen Quartette soll es jedes Jahr geben, in München und auch in Berlin. Die Berliner Auftaktveranstaltung mit Entwicklungsminister Gerd Müller steht am 10. Juni bevor.

Zur Eskalation in der Ukraine beigetragen, ergänzte Fasslabend, habe aber auch der Westen: Seine schwache Reaktion auf die Besetzung der georgischen Provinzen Südossetien und Abkhasien habe 2008 Putin „regelrecht eingeladen, so weiterzumachen“.

Der Minsker Waffenstillstand ist brüchig. Im Osten der Ukraine wird weiter geschossen und gestorben. Geht der Konflikt in eine neue Phase, fragte Moderator Ulrich Jörges, der die Diskussion sympathisch und lebendig lenkte. Zielen die ostukrainischen Separatisten jetzt auf die Hafenstadt Mariupol? Der Weitermarsch zum Asowschen Meer mache für die Separatisten – und für Russland – Sinn, meinte der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und Top-Nato-Militär Klaus Naumann. Moskau müsse das Problem der Anbindung der annektierten Krim ans Festland langfristig lösen. Das könnten die Separatisten nicht alleine, so Naumann: „Die werden von russischen Soldaten geführt.“

Putis Ziel nicht die EU-, sondern die Nato-Spaltung

Warum hat Putin dem griechischen Premier Alexis Tsipras bei dessen Besuch in Moskau so wenig geboten und sich das Störmanöver gegenüber der EU entgehen lassen? Das Griechenland-Abenteuer sei auch Putin finanziell zu riskant gewesen, überlegte die Hildesheimer Politikwissenschafts-Professorin Marianne Kneuer. Putins Ziel sei nicht die EU, sondern vielmehr die Nato, die er gerne spalten würde, so Naumann. Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Schwäche Russlands, könne sich Putin eine weitere Eskalation mit der EU gar nicht erlauben, fand Fasslabend. Wenn das zutrifft, gibt es auch Hoffnung für Mariupol, vorerst jedenfalls.

Wie soll der Westen langfristig mit der Krim-Annexion umgehen, wird er sie früher oder später de facto anerkennen müssen? Im Hinblick auf andere östliche Länder, mit denen die EU Assoziierungsabkommen anstrebt, könne sie sich das kaum leisten, warnte Kneuer. Alle Assoziierungs­kandidaten würden dann sehen, dass ihre territoriale Integrität der EU nichts wert sei. Die EU werde die Annexion der Krim zwar nie anerkennen, aber das werde de facto keine politischen Konsequenzen haben, sah Fasslabend voraus.

Wie geht es mit der Ukraine selber weiter? Das Land steht ökonomisch am Abgrund. „Wird sie unser neues Griechenland?“, fragte Jörges. „Und wer wird dafür bezahlen?“ Die Europäer würden in den nächsten 20 Jahren für die Ukraine wohl sehr viel Geld auf den Tisch legen müssen, prophezeite Fasslabend. Jörges fragte sogleich nach Zahlen, erhielt aber nur eine ausweichende Antwort: „Viel mehr als jeder von uns jetzt bereit wäre, dafür einzusetzen.“