An 91 Kilometern hängt die Freiheit. So lang – oder so kurz – ist die Grenze zwischen Litauen und Polen. Nur diese 91 Kilometer verbinden die drei baltischen Nato-Mitglieder Litauen, Lettland und Estland mit dem übrigen Bündnisgebiet. Sonst sind die drei ehemaligen Sowjetrepubliken völlig umschlossen von Russland, dem russischen Königsberg und Moskaus engem Partner Weißrussland. Fast eine Nato-Exklave.
Solange Russland nicht zum Völkerrecht zurückkehrt, gibt es kein ‚Business as usual‘.
So empfinden das jedenfalls die Balten und wissen: Russische Truppen könnten ihre Länder innerhalb von Stunden überrollen. Alle Nato-Unterstützung für sie könnte im Konfliktfall nur über diese 91 Kilometer breite Landverbindung kommen. Keine komfortable Lage. Im April 2014 haben die Balten erlebt, wie Europa, die USA, die Welt reagierten, als Moskau auf der Halbinsel Krim territoriale Fakten schuf: verbaler Protest, Sanktionen. Aber die Krim ist seither russisch.
Nicht Abschreckung, sondern Schutz
Aber anders als die Ukrainer sind die Balten Nato-Mitglieder. Der Beistandsartikel 5 im Nato-Vertrag schützt sie. Nur, gilt das noch, wenn der große Nachbar im Osten territoriale Fakten schafft und es dann eben nur noch jenen schmalen Landkorridor zu den Nato-Partnern gibt? Was wird die Nato dann tun?
Auf dem Gipfel in Warschau Anfang Juli haben die 28 Nato-Staaten die Antwort darauf gegeben: Artikel 5 schützt auch die Balten. Vier multinationale je 1000 Soldaten starke Nato-Bataillone, jeweils geführt von den USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland, sollen in den Baltenrepubliken und in Polen stationiert werden und den Bündnisschutz garantieren.
Doch kann diese Strategie funktionieren? Die 4000 Nato-Truppen, nicht einmal eine halbe Division, sind nicht in der Lage, eine Invasion aufzuhalten. Aber sie geben Gewissheit. Sie sollen Stolperdraht sein und den Bündnisfall auslösen: Wer in Lettland, Estland oder Litauen auf US-Soldaten oder andere Bündnistruppen schießt, der befindet sich automatisch im Krieg mit der Nato, mit den USA. Moskau soll das wissen, und die Balten sollen darauf vertrauen. Nicht Abschreckung heißt die Mission der vier Nato-Bataillone im Osten des Bündnisgebietes, sondern „Reassurance“ – Schutz- und Sicherheitsgewissheit. Balten und Polen sollen sich sicher fühlen können. Für die Nato ist das eine Existenzfrage: Denn Sicherheit und Bündnissolidarität sind entweder unteilbar oder sie sind gar nicht – aber dann existiert auch das Bündnis nicht mehr.
Völlig klar ist natürlich: Eine Bedrohung für Russland können diese vier Bataillone nie werden. Auch das ist demonstrative Absicht. „Die Nato stellt für kein Land eine Bedrohung dar“, heißt es in der „Erklärung von Warschau zur transatlantischen Sicherheit“, dem Abschluss-Kommuniqué der Tagung. „Der Kalte Krieg ist Geschichte, und er sollte Geschichte bleiben“, ergänzte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Warnung an Moskau
In Warschau ist die Nato in gewisser Weise ins Jahr 1949 und zu ihrem Gründungsauftrag zurückgekehrt: Zu Artikel 5, zum Schutz des Bündnisgebietes und der territorialen Integrität ihrer Mitglieder. 40 Jahre lang trug die Doktrin vom Stolperdraht die alte Nato: Die US-Truppen westlich der Elbe waren Garanten für die Sicherheit Westeuropas. Jetzt sind sie es auch für die der Neumitglieder im Osten. Die neue und die alte Nato wachsen zusammen.
Zurückgekehrt ist das Bündnis auch zu ihrem alten Gründungsgegner Russland. 139 Absätze lang ist das Gipfel-Kommuniqué. In etwa zwei Dritteln von ihnen ist von Russland die Rede – und in sehr klarer Sprache etwa von „Russlands aggressiven Aktionen“ in der Ukraine. Die „fortgesetzte illegale und illegitime Annexion der Krim“ werde das Bündnis „nicht anerkennen“, heißt es. Solange Russland nicht zum Völkerrecht zurückkehre könne man „nicht zum business as usual zurückkehren“.
Zurück ist auch das Thema Atomwaffen. Von Russlands „unverantwortlicher und aggressiver nuklearen Rhetorik und Einsatzdoktrin“ ist im Gipfelkommuniqué die Rede. Tatsächlich hat Moskau in Manövern schon sogenannte „deeskalierende Atomschläge“ etwa gegen Warschau üben lassen. Atomwaffeneinsatz in früher Einsatzphase soll den Gegner von der Fortsetzung des Konflikts abhalten – Deeskalation auf Russisch. Nun erinnert auch die Nato an die Bedeutung der Atomwaffen: „Der fundamentale Zweck der nuklearen Fähigkeiten der Nato ist es, den Frieden zu erhalten, Zwang zu verhindern und Aggression abzuschrecken.“
Neues Element im Nato-Abschreckungsmix und in ihrer Gesamtstrategie ist die Fähigkeit der Raketenabwehr. Das Bündnis verkündete denn auch in Warschau die „anfängliche Einsatzbereitschaft“ einer Nato-Raketenabwehr. Die Nato wird sich diese Defensivwaffe nicht mehr wegverhandeln lassen wird. Das Kommuniqué erklärt warum: „Die Verbreitung von ballistischen Lenkwaffen wächst und stellt eine Gefahr dar für Nato-Bevölkerungen und Nato-Territorien.“
Beim bevorstehenden Nato-Beitritt Montenegros geht es um mehr als nur um ein winziges Land an der Adria: Das Bündnis will Stabilität und Sicherheit auf dem Westbalkan befördern: Partnerschaft mit Serbien, Einladungen an Mazedonien und Bosnien-Herzegovina. Bemerkenswert dabei: Die Nato setzt fort, was die Europäische Union nicht mehr leisten kann – den Stabilitätsexport in Europa durch Erweiterung. „Die Tür der Nato steht offen für alle europäischen Demokratien, die die Werte unseres Bündnisses teilen“, schreiben die Mitgliedsstaaten.
Die Briten bleiben Verbündete
Am Schluss des Gipfelkommuniqués ist dann auch von der EU die Rede – und indirekt vom Brexit, „fast das einzige Thema an den Tischen in Warschau“, wie der ehemalige britische Verteidigungsminister Phil Hammond berichtet hat. Die EU ist strategischer Partner der Nato. Zur strategischen Partnerschaft, die das Bündnis unbedingt stärken will, gehören aber auch „Nicht-EU-Verbündete“, betont das Kommuniqué. Zu denen wird demnächst Großbritannien hinzutreten. Die Briten sind zweitwichtigstes Nato-Mitglied nach den USA und werden 650 Soldaten rotierend in Estland stationieren. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wird ohne Großbritannien schwächer, die Vorstellung von einer europäischen Armee irreal. Umso wichtiger wird für die östlichen Nato-Partner das Bündnis und vor allem die transatlantische Bindung an die USA.
Alle osteuropäischen Nato-Partner sind zugleich EU-Mitglieder. Wenn demnächst die Austrittsverhandlungen zwischen der EU und den Briten beginnen, werden sie mitreden – und der EU-Kommission kaum erlauben, ihren wichtigen britischen Bündnispartner zu schwächen, gar zu strafen. Es geht um ihre Sicherheit. Auch die Franzosen könnten Grund haben, eine rachsüchtige Kommission zu bremsen: Die Briten sind ihr wichtigster militärischer Partner in Europa und bleiben es – in der EU oder draußen.
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