Kleiner Club der Willigen
Der EU-Gipfel will den Schutz der EU-Außengrenzen verstärken. Bis Juni 2016 wird die Kommission ihre detaillierten Frontex-Pläne vorlegen. Aber der Widerstand gegen ein dauerhaftes Verfahren zur Verteilung von Migranten bleibt groß. Nur wenige Länder sind bereit, Flüchtlingskontingente direkt aus der Türkei zu übernehmen, die ab Januar Visumspflicht für Syrer hat, die aus Drittstaaten einreisen.
EU-Gipfel

Kleiner Club der Willigen

Der EU-Gipfel will den Schutz der EU-Außengrenzen verstärken. Bis Juni 2016 wird die Kommission ihre detaillierten Frontex-Pläne vorlegen. Aber der Widerstand gegen ein dauerhaftes Verfahren zur Verteilung von Migranten bleibt groß. Nur wenige Länder sind bereit, Flüchtlingskontingente direkt aus der Türkei zu übernehmen, die ab Januar Visumspflicht für Syrer hat, die aus Drittstaaten einreisen.

Besonders wichtig war wieder der kleine Brüsseler Vorgipfel des sogenannten „Clubs der Willigen“. Seine Teilnehmerliste sagt viel aus über den aktuellen Stand der Diskussion und der Mehrheitsverhältnisse zwischen den EU-Mitgliedern, wenn es um die Bewältigung der aktuellen Migrantenkrise geht.

Flüchtlingskontingent direkt aus der Türkei

Zum Extra-Treffen mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu hatte dieses Mal Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann in die österreichische EU-Botschaft in Brüssel zum Gespräch geladen. Wie auch schon beim Mini-Gipfel vor dem Brüsseler EU-Türkei-Gipfel vor drei Wochen ging es wieder um die Möglichkeit, Flüchtlingskontingente direkt aus der Türkei zu übernehmen und auf europäische Länder zu verteilen. Zahlen wurden nicht genannt. Aber Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hatte zuletzt die Zahl 50.000 erwähnt.

Voraussetzung für eine Entlastung der Türkei durch die Übernahme eines oder mehrere Flüchtlingskontingente ist, dass die Flüchtlingsströme in der Ägäis deutlich zurückgehen.

Der Club der Willigen will allerdings zuvor die Türkei in die Pflicht nehmen: Voraussetzung für eine Entlastung der Türkei durch die Übernahme eines oder mehrere Flüchtlingskontingente ist, dass die Flüchtlingsströme in der Ägäis deutlich zurückgehen. Gemeinsames Ziel sei es, die Migration „stark und deutlich zu reduzieren“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Treffen. Danach könnte man auch darüber sprechen, aus der Türkei direkt Kontingente von Flüchtlingen aufzunehmen. Presseberichten zufolge forderte der türkische Premier die EU-Länder insgesamt auf, die Umsiedlung von Syrern aus der Türkei in die EU-Staaten zu beginnen und dabei großzügiger vorzugehen. Davutoglu: „Wir befinden uns in einer Phase, in der wir die intensivsten Gespräche und die konkretesten Ergebnisse erzielt haben.“

Kleiner „Club der Willigen”

Einfach wird die Sache nicht. Das zeigt der Blick auf die Teilnehmerliste des Gipfels des „Clubs der Willigen“ in Österreichs Brüsseler EU-Botschaft: Neben dem österreichischen Gastgeber und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nahmen die Staats- und Regierungschefs Luxemburgs, Griechenlands, Schwedens, Belgiens, Finnlands, Sloweniens, Portugals und der Niederlande teil und natürlich Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zehn von 28 EU-Mitgliedsstaaten.

Frankreichs Staatspräsident Franςois Hollande hat das Wort vom Kontingent noch nicht in den Mund genommen.

Auffällig: Wie schon beim ersten Vorgipfel dieser Art vor drei Wochen hatte Frankreichs Staatspräsident Franςois Hollande wieder keine Zeit und ließ sich durch einen Staatssekretär vertreten. Auf dem Papier unterstützt Hollande die Berliner und Brüsseler Forderung nach fairer Umverteilung der Migranten. Im vergangenen Sommer hatte er sich allerdings zunächst gegen diesen Vorschlag ausgesprochen. Wer in den vergangenen Wochen in Paris genau hingehört hat, weiß auch, dass Hollande das Wort „Kontingent“ zuhause noch nicht in den Mund genommen hat. Hollande weiß, erst recht nach dem 28-Prozent-Ergebnis des Front National bei den Regionalwahlen, dass es in Frankreich keine Zustimmung zur Übernahme größerer Migrantenkontingente gibt.

Schweden hat mit fast 200.000 Migranten in diesem Jahr seine Kapazitätsgrenze erreicht, ist regelrecht am Ende und drängt darum auf Umverteilung.

Genauer anschauen muss man auch die anderen Mitgliede jenes „Clubs der Willigen“: Griechenland und Slowenien sind Transitländer an der Balkanroute, die keine Kontingente aufnehmen, sondern die Migranten umverteilen und loswerden wollen. Schweden hat mit fast 200.000 Migranten in diesem Jahr seine Kapazitätsgrenze erreicht, ist regelrecht am Ende und drängt darum auf Umverteilung. Die EU-Kommission hat schon vorgeschlagen, Schweden für ein Jahr aus allen Umverteilungsplänen herauszunehmen. Österreich, am nördlichen Ende der Balkanroute gelegen, hat ebenfalls seine Aufnahmegrenze erreicht und drängt darum auch auf Umverteilung. In den Niederlanden, die dieses Jahr etwa 57.000 Asly-Anträge verzeichnet haben – kaum weniger als das vier Mal größere Frankreich – wächst der Widerstand gegen alle Umverteilungsvorhaben. Bleiben Belgien, die kleinen Länder Finnland und Portugal und das winzige Luxemburg. Und Deutschland.

Von 160.000 Migranten, die nach EU-Ministerratsbeschluss vom November aus Griechenland und Italien umverteilt werden sollen, haben bis heute exakt 232 Personen eine neue Bleibe gefunden.

Zu dem düsteren Bild passt, dass von den 160.000 Migranten, die nach EU-Ministerratsbeschluss vom November aus Griechenland und Italien umverteilt werden sollen, bis heute exakt 232 Personen eine neue Bleibe gefunden haben. Bei solcher Umverteilung im Schneckentempo wird es wohl bleiben. Das fürchtet jedenfalls EU-Kommissionspräsident Juncker: „Ich bin da nicht übermäßig optimistisch, dass uns das gelingt.” Interessanterweise hat jetzt Österreichs Bundeskanzler Faymann den Vorschlag gemacht, ein Kontingent von 40.000 bis 50.000 Migranten von jenen 160.000 umzuverteilenden Migranten abzuziehen.

Drohung aus Wien: Verweigerer-Ländern sollen die EU-Strukturgelder gekürzt werden

Eine Reihe von EU-Mitgliedsländern sperrt sich bislang gegen jede Umverteilung gegen Migranten. Besonders lautstark die osteuropäischen EU-Mitglieder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei. Vor allem auf sie will nun Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann den Druck erhöhen und droht mit Finanzsanktionen. Solidarität sei keine Einbahnstraße, warnte Faymann vor dem Brüsseler Gipfel: „Wer unter dem Strich mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhält, als er einzahlt, sollte sich bei einer fairen Verteilung der Flüchtlinge nicht wegducken.“ Wer sich dennoch verweigere, stelle die gesamte Finanzierung des EU-Haushalts in Frage, so Faymann in einem Zeitungsinterview, „und macht es den Nettozahlern wie Österreich künftig sehr schwer, weiterhin soviel Geld einzuzahlen“.

Wer sich dennoch verweigert, stellt die gesamte Finanzierung des EU-Haushaltes in Frage und macht es den Nettozahlern wie Österreich künftig sehr schwer, weiterhin soviel Geld einzuzahlen.

Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann

Tatsächlich sind die EU-Strukturfonds für viele Mitgliedsländer wichtig: Polen hat zuletzt 13,7 Milliarden Euro mehr erhalten, als es in die EU-Kasse eingezahlt hat – 3,5 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Ungarn hat 5,7 Milliarden Euro erhalten, was sogar 5,6 Prozent seiner Wirtschaftsleistung ausmacht. Faymann deutet nun an, dass ihnen die EU-Strukturhilfen gekürzt werden könnten. Doch das ist problematisch. Zum einen hat Faymann eigentlich nur damit gedroht, dass Nettozahlerland Österreich könnte Gelder einbehalten. Dann würde Wien EU-Recht brechen und bekäme sofort selber Schwierigkeiten. Zum anderen kann die 2016 fällige Überprüfung und etwaige Anpassung des EU-Finanzrahmens 2014 bis 2020 nur einstimmig erfolgen. Die sanktionsbedrohten Länder könnten das per Veto verhindern. Entsprechend zurückhaltend bleibt die EU-Kommission. In Brüssel wird derzeit nur erwogen, den Mitgliedsländern zu erlauben, Strukturfonds etwa für den Bau von Unterkünften zu verwenden.

Europäische Grenz- und Küstenwache

Im Plenum des eigentlichen Brüsseler Gipfels aller 28 EU-Mitglieder hielt Bundeskanzlerin Merkel an ihrer kontroversen Forderung fest, verbindliche und dauerhafte Quoten und Verfahren zur Verteilung von Migranten auf alle Mitgliedsländer zu schaffen. Weitgehend einig war sich der Gipfel immerhin, dass der Schutz der EU-Außengrenzen massiv hochgefahren werden muss. Denn Schengen-Europa und der freie Reiseverkehr stehen auf dem Spiel. Zwei Tage vor dem Gipfel hatte die EU-Kommission einen entsprechenden Vorschlag zur Schaffung einer europäischen Grenz- und Küstenwache präsentiert. Dafür soll bis 2020 die in Warschau ansässige EU-Grenzschutzagentur Frontex von derzeit 400 auf 1000 Grenzschützer aufgestockt werden. Dazu kommen soll eine 1500 Grenzer starke Bereitschaftstruppe, die dann die Mitgliedsländer bereitstellen sollen.

Wenn ein Land seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, dann muss jemand anderes in der Lage sein, die Grenze zu sichern. Und das ist Frontex.

Manfred Weber

Die verstärkte Grenztruppe soll im Notfall sogar gegen den Willen betroffener Mitgliedsländer zum Schutz der EU-Außengrenzen eingesetzt werden dürfen. Dieser Teil des Vorschlags zielt etwa auf Griechenland und dessen völlig überforderten Grenzschutz und stieß prompt auf den Widerstand einiger Außengrenzen-Länder, die ihre Souveränität bedroht sehen. Bundeskanzlerin Merkel ließ erkennen, dass sie bereit sei, die Stärkung der EU-Grenzwache notfalls auch per Mehrheitsbeschluss durchzusetzen. Deutlich wurde auch der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Europa kann nicht verletzbar bleiben, wo Schengen-Staaten nicht in der Lage sind, ihre Grenze zu schützen. Genauso sieht es auch der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber: „Wenn ein Land seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, dann muss jemand anderes in der Lage sein, die Grenze zu sichern. Und das ist Frontex.“ Bis Juni 2016 will die EU-Kommission ihre Vorschläge fertig ausarbeiten.

Mehr Tempo bei Aufnahmezentren in Griechenland und Italien

Einigkeit herrschte auf  dem Brüsseler Gipfel auch darüber, dass nun die „Hotspots“ genannten großen Erst-Aufnahmezentren in Griechenland und Italien mit Nachdruck fertig gestellt werden sollen. Alle Migranten sollen wieder bei ihren Ankunft auf EU-Gebiet richtig erfasst und registriert werden. Die EU-Kommission hat denn auch Rom aufgefordert, notfalls  Gewalt anzuwenden, um Migranten Fingerabdrücke abzunehmen, berichtet die Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph. Problem: Die sorgfältige Registrierung der Migranten würde es notwendig machen, in Griechenland und Italien sehr große Aufnahmezentren zu errichten, in denen die Migranten bis zu 18 Monate lang – so kürzlich Ratspräsident Tusk – festgehalten würden. Davon wollen Athen und Rom nichts wissen und beharren auf schneller Umverteilung der Migranten auf alle EU-Mitgliedsländer.

Türkei: Visumspflicht für Syrer, die aus Drittländern einreisen

Nur ein halbe Zugeständnis war schließlich die Ankündigung Ankaras, ab 8. Januar für Syrer, die aus Drittländern in die Türkei einreisen, Visumpflicht einzuführen. Die Reglung soll für alle Syrer gelten, die per Schiff oder Flugzeug in die Türkei kommen. Was zumindest theoretisch immerhin den Verkehr auf der hochfrequentierte Migranten-Route vom libanesischen Hafen Tripoli zur türkischen Hafenstadt Mersin – eine Drehscheibe des Schlepper- und Migrantenunwesens in der Türkei – beschränken könnte. Der Weg für Flüchtlinge, die über die syrisch-türkische Grenze kommen, soll dagegen offen bleiben, heißt es aus Ankara. Offen bleibt der Weg auch für Afghanen und Pakistaner, die für die Reise in die Türkei keine Visa brauchen.