Die Täter können auch aus Europa gekommen sein: Im Februar 2015 köpfen Dschihadisten des Islamischen Staat an einem Strand in Libyen ein Dutzend koptische Christen. Bild: imago
Islamischer Staat

Wachsende Terror-Gefahr für Europa

Innerhalb von 18 Monaten hat sich die Zahl der sogenannten fremden Kämpfer in den Reihen des Islamischen Staates auf 30.000 fast verdreifacht. Aus Westeuropa kommen über 5000 Dschihadisten. Frankophone I.S.-Terror-Bataillone bedrohen Frankreich. Mit über 7000 Gotteskriegern kommt das größte nationale Terror-Kontingent aus Tunesien. Andere Problemfälle sind die Balkanländer, Russland und Kanada.

Innerhalb von 18 Monaten hat sich die Zahl der internationalen Dschihadisten des Islamischen Staates in Syrien und Irak mehr als verdoppelt. Über ein Jahr intensiver Luftkrieg gegen Ziele des Islamischen Staates haben das nicht verhindern können. Das berichtet jetzt The Soufan Group (TSG), ein in New York ansässiger Think Tank mit Vertretungen in London, Doha und Singapur. Im Vorstand und Expertenteam der Politikberatungseinrichtung ist hochrangiges ehemaliges Polizei- und Geheimdienstpersonal stark vertreten.

In ihrem ersten Bericht über „Foreign Fighters“ vom Juni 2014 zählten die TSG-Experten etwa 12.000 sogenannte fremde Kämpfer für den Islamischen Staate aus 81 Ländern. Im jüngsten Bericht, der bis Dezember 2015 reicht und offizielle Daten aus möglichst vielen Ländern sowie der Vereinten Nationen auswertet und zusammenfasst, ist nun von 27.000 bis 31.000 Personen aus 86 Ländern die Rede, die „nach Syrien und Iran gereist sind, um sich dem Islamischen Staat oder anderen gewalttätigen extremistischen Gruppen anzuschließen“. US-Geheimdienstkreise sprachen zuletzt ebenfalls von über 30.000 I.S.-Dschihadisten aus 100 Ländern. Der Zuwachs belege, so die TSG-Experten, dass internationale Anstrengungen, den Strom der Dschihadisten nach Syrien einzudämmen, nur begrenzten Erfolg haben.

Über 5000 Dschihadisten aus Westeuropa

Besonders stark gestiegen ist trotz des Krieges gegen den Islamischen Staat etwa die Zahl der Syrien-Dschihadisten aus Westeuropa. Vor anderthalb Jahren zählten die TSG-Berichterstatter etwa 2500 Personen mit westeuropäischen Pässen in den Rängen des I.S. Heute hat sich ihre Zahl auf über 5000 mehr als verdoppelt. 3700 westeuropäische Dschihadisten kommen aus nur vier Ländern: 1700 aus Frankreich (Juni 2014: 700), je 760 aus Deutschland (270) und Großbritannien (400) und mindestens 470 aus Belgien (250).

Die Zahl der Terror-Krieger aus Deutschland hat sich seit 2014 verdreifacht.

Auf die Gesamtbevölkerung umgerechnet nimmt Belgien mit 42 Dschihadisten pro eine Million Belgier eine unerfreuliche Spitzenstellung ein, gefolgt von Österreich (absolut: 330 Dschihadisten) mit 34, Schweden (300) mit 30 und Dänemark (125) mit 22 Dschihadisten auf eine Million Einwohner. Besonderen Grund zur Unruhe müssen die schwedischen Behörden haben. Denn die Zahl der aus Schweden kommenden Syrien-Dschihadisten hat sich seit Juni 2014 von 30 auf heute 300 verzehnfacht. Wer vermutet, dass das etwas über den Stand der Integration im Super-Einwanderungsland Schweden aussagt, liegt wohl nicht ganz falsch. Von 40 bis 50 auf 80 etwa verdoppelt hat sich die Zahl der Terror-Touristen aus Norwegen. Eine Verdreifachung von etwa 30 auf heute bis zu 100 Dschihadisten verzeichnet Finnland. Für die Schweiz geben die TSG-Experten eine Verfünffachung von etwa zehn auf heute 57 an.

Frankophone Terror-Bataillone des Islamischen Staats

Grund zur Beunruhigung für alle Europäer sollte die wachsende Zahl der Syrien-Rückkehrer sein. Die TSG-Experten schreiben für die westlichen Länder von einer Rückkehr-Quote von 20 bis 30 Prozent. Über 200 Syrien-Dschihadisten sind schon nach Deutschland zurückgekehrt, etwa 250 nach Frankreich, 350 nach Großbritannien, 115 nach Schweden, 118 nach Belgien, 70 nach Österreich und 62 nach Dänemark.

Sie haben nur ein Ziel: Das Land, das sie verlassen haben, mit noch mehr Terror zu überziehen und in einem Land zu leben, das vollständig von der Scharia regiert wird. Sie glauben eisenhart an ihr Projekt und sind zu allem bereit, um es zu erzwingen.

Montasser Al-De’emeh (Le Figaro)

Besonders gefährdet ist Frankreich. Denn die Dschihadisten in Syrien und Irak finden sich nach Sprachgemeinschaften zusammen. Besonders groß ist eben die Zahl der frankophonen Dschihadisten aus Frankreich, Belgien, der Schweiz (57), Nordafrika und dem frankophonen Subsahara-Afrika. Die Pariser Tageszeitung Le Figaro schrieb kürzlich von regelrechten „frankophonen Schock-Bataillonen des Islamischen Staat“. Die seien von besonderem Hass auf Frankreich beseelt, hätten sich beim I.S. einen Ruf als harte Kämpfer erworben und bereiteten sich derzeit auf Kamikaze-Operationen vor, so wie am 13. November in Paris. „Sie haben nur ein Ziel: Das Land, das sie verlassen haben, noch mehr zu terrorisieren und in einem Land zu leben, das vollständig von der Scharia regiert wird. Sie glauben eisenhart an ihr Projekt und sind zu allem bereit, um es zu erzwingen“, zitiert Le  Figaro einen belgisch-palästinensischen Experten, dem es im Juni 2014 gelang, die Syrien-Dschihadisten zu infiltrieren.

Tunesien ist alles andere als stabil

Die größte Zahl der „fremden Kämpfer“ des I.S, kommt aus dem nordafrikanischen Maghreb (8000) und aus anderen Ländern des Mittleren Osten (8240). Spitzenreiter ist ausgerechnet Tunesien mit derzeit bis zu 7000 Dschihadisten in Syrien und Irak. Noch vor einem Jahr waren es 3000. Tunesischen Regierungsangaben zufolge sollen sich außerdem 700 Tunesierinnen auf den Weg nach Syrien gemacht haben. Die große Zahl der Dschihadisten aus Tunesien und ihre dramatische Zunahme sagt etwas aus über die Situation des gern als Hoffnungsfall des arabischen Frühlings beschriebenen Landes: Tunesien ist alles andere als stabil. Und schon über 625 Rückkehrer werden zu demokratischer Harmonie in dem Maghreb-Land gewiss nicht beitragen. Ein Drittel der tunesischen Dschihadisten kommt aus nur drei Regionen: Ben Gardane im saharischen Süden sowie Bizerte und Tunis an der Mittelmeerküste im Norden. Dem ehemaligen Al-Kaida-Chef im Irak, Abu Musab Al-Zarkawi wird über die tunesischen Terroristen das Wort zugeschrieben: „Wenn Ben Gardane ein Nachbarort von Falludscha gewesen wäre, dann hätten wir Irak befreit.“

Die permanente Verschlechterung der Sicherheitslage in Libyen ist ein massiv destabilisierender Faktor für die ganze Region.

Im vom sogenannten Arabischen Frühling verschont gebliebenen Marokko hat sich die hohe Zahl von etwa 1500 Dschihadisten in einem Jahr wenigstens nicht verändert. Aus Libyen kommen 600 Dschihadisten, aus dem Nachbarland Algerien etwa 170. Derzeit hat ein Rückfluss eingesetzt, vor allem nach Libyen. Der Islamische Staat will dort seine Präsenz verstärken und ermutigt darum seine Dschihadisten, nach Libyen zu ziehen. Was Folgen hat für Libyen und die Nachbarländer: „Die permanente Verschlechterung der Sicherheitslage in Libyen ist ein massiv destabilisierender Faktor für die ganze Region“, warnen die TSG-Experten. Libyen sei sozusagen zur Transit-Drehscheibe für Dschihadisten der Region geworden. Tunesien hat denn auch die Schließung seiner Grenze zu Libyen angekündigt.

Beunruhigend ist auch die hohe Zahl von 2500 Dschihadisten aus Jordanien – 373 auf eine Million Jordanier.

Angeblich gleich geblieben ist seit einem Jahr die Zahl von etwa 2500 Dschihadisten aus Saudi-Arabien. Aussagekräftig über die Stimmung im Wahabiten-Königreich, das dem Islamischen Staat durchaus ähnlich ist, ist sie gleichwohl. Beunruhigend ist auch die hohe Zahl von 2500 Dschihadisten aus Jordanien – 373 auf eine Million Jordanier. Auch das Haschemiten-Königtum ist nicht stabil.

Türkei und Balkanländer

Erschreckend ist die Zahl von bis zu 2200 türkischen fremden Kämpfern für den I.S. Vor einem Jahr zählten die TSG-Experten noch etwa 400 türkische Dschihadisten in Syrien und Irak. Um eine kurdische Staatsbildung in Syrien zu verhindern, hat die Regierung in Ankara jahrelang Syrien-Dschihadisten aller Art massiv unterstützt. Jetzt erhält Ankara sozusagen die Terror-Quittung: in der Form von derzeit schon über 600 Syrien-Rückkehrern.

Die Europäische Union hat ein wachsendes Dschihad-Problem direkt vor ihrer Haustür.

Ein wachsendes Dschihadisten-Problem haben die kleinen Westbalkan-Länder, die derzeit 875 Syrien-Kämpfer stellen. 800 von Ihnen, also fast alle, kommen aus Albanien (90), Bosnien (350), Kosovo (300) und Mazedonien (146). Vor einem Jahr gab es über Dschihadisten aus diesen vier Balkanländer noch wenig Informationen. Aber die TSG-Experten nehmen an, dass sich ihre Zahl in diesem kurzen Zeitraum verdoppelt, wenn nicht verdreifacht hat. Schon in den 1990er Jahren haben die Balkanländer auswärtige Dschihadisten angezogen. Seither gibt es dort extremistische Netzwerke und eine große Zahl von Sympathisanten, die der Islamische Staat jetzt nutzen will, so der TSG-Bericht. Auch der Balkan, historisch sozusagen der Korridor zwischen Europa und Orient, ist längst eine Art Transit-Zentrum für Dschihadisten auf dem Weg nach Syrien. Brüssel hat das noch gar nicht bemerkt oder spricht zumindest nicht darüber: Aber die Europäische Union hat ein wachsendes Dschihad-Problem direkt vor ihrer Haustür.

Zahl der Terroristen aus Russland verdreifacht

Regelrecht dramatisch ist die Entwicklung in Russland und einigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Im vergangenen Oktober sprach Russlands Präsident Wladimir Putin von 5000 bis 7000 Personen, die aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion nach Syrien gereist seine, um sich dort dem I.S. anzuschließen. Nach offiziellen russischen Angaben hat sich die Zahl der Dschihadisten aus Russland seit Juni 2014 von 800 auf mindestens 2400 verdreifacht. Der größte Teil von ihnen kommt aus den Nordkaukasus-Republiken Tschetschenien und Dagestan. In Russland – und dort vor allem im Kaukasus – wächst die Zahl der Dschihadisten also noch schneller als in Westeuropa. Nicht zuletzt darum greift Putin jetzt in den syrischen Bürgerkrieg ein, glauben Beobachter. Vor der UN-Vollversammlung in New York hat Putin kürzlich verkündet, dass er die Rückkehr der IS-Dschihadisten unbedingt verhindern will: „Wir dürfen diesen Verbrechern, die Blut geleckt haben, keine Rückkehr erlauben.“ Die TSG-Experten machen über die Zahl der russischen Rückkehrer keine Angaben.

Wir dürfen diesen Verbrechern, die Blut geleckt haben, keine Rückkehr erlauben.

Wladimir Putin

Zu den Gotteskriegern aus Russland  kommen 4700 fremde Kämpfer für den I.S aus 12 von 15 ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter etwa 500 aus Aserbaidschan und Georgien. Etwa 2000 Dschihadisten kommen der TSG-Auswertung zufolge aus Kasachstan, Kirgisien, Tajikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Dschihad-Problemland Kanada

Eine vergleichsweise geringe Rolle spielen Gotteskrieger aus den USA. FBI-Angaben zufolge haben bis September 2015 etwa 250 Amerikaner den Versuch unternommen, nach Syrien zu reisen, um sich dem I.S. anzuschließen. 150 von ihnen, so das FBI, ist es gelungen. Nachdenklich macht allerdings die Steigerungsrate: Für Juni 2014 geben die TSG-Experten nur etwa 70 Dschihadisten aus den USA an.

Die Grenze, über die Terroristen am wahrscheinlichsten in die Vereinigten Staaten kommen, ist nicht die mit Mexiko, sondern die kanadische.

Online-Zeitung The Daily Beast

Sozusagen Nordamerikas Dschihad-Problemland ist Kanada. Nach Angaben der kanadischen Regierung von Ende Oktober 2015 halten sich derzeit etwa 130 Dschihadisten mit kanadischen Pässen in Syrien auf – im Juni 2014 waren es nach TSG-Angaben 30. In den USA verfolgt man die kanadische Situation mit wachsender Sorge, erst recht seit dem Dschihad-Massaker im kalifornischen San Bernardino. „Kanadas wachsender Dschihad-Krebs“, titelte dieser Tage die mit dem Wochenmagazin Newsweek verbundene Internet-Zeitung The Daily Beast und warnte: „Die Grenze, über die Terroristen am wahrscheinlichsten in die Vereinigten Staaten kommen, ist nicht die mit Mexiko, sondern die kanadische.“ „In und um Toronto und Montreal herum konnten radikale Moschen gedeihen, denen Verbindungen zu Terrororganisationen nachgesagt werden“, berichtet das Internet-Organ und zitiert einen ehemaligen New Yorker Polizeioffizier und Antiterror-Experten: „Alle reden von Mexiko und übersehen Kanada vollständig. Niemand weiß, was da oben vorgeht. Meiner Meinung nach ist das eine größere Gefahr als Mexiko.“

Die Terror-Gefahr wird weiter wachsen

Die von Syrien und dem Islamischen Staat ausgehende Terror-Gefahr, erwarten TSG-Experten in ihrer Studie, wird weiter wachsen. Zum einen, weil der syrische Bürgerkrieg so bald nicht enden wird. Zum anderen, weil der Islamische Staat sich nicht mehr auf die Konsolidierung und Kontrolle des eroberten Territoriums beschränkt, sondern dazu übergeht, seine auswärtigen Feinde und ihre Interessen zuhause oder sonstwo anzugreifen.

Der Islamische Staat könnte genau dann noch gefährlicher werden, wenn es mit ihm zuende geht.

Bislang, so die TSG-Studie, sei der Islamische Staat unendlich erfolgreicher, als es sich jede andere Terrorgruppe je hätte erträumen können, einschließlich Al-Kaida. Er wirde darum weiter Terror-Krieger aus aller Welt anziehen. Die TSG-Experten schließen mit einer Warnung: „Selbst wenn der Islamische Staat scheitert und langsam untergeht, wird er trotzdem noch in der Lage sein, Aktionen seiner Anhänger zu beeinflussen. Und er könnte genau dann noch gefährlicher werden, wenn es mit ihm zuende geht.“