Entfremdung vom Westen: Russlands Präsident Wladimir Putin. (Bild: Imago/Itar-Tass/Mikhail Metzel)
Russland

Signale aus Moskau

Seit den Terroranschlägen in Paris hat sich die Sprache zwischen Russland und dem Westen geändert. Paris sucht die Zusammenarbeit mit Moskau. Putin bereitet sich womöglich auf das Ende der Amtszeit von Syriens Diktator Assad vor. Moskau versteht den Kampf gegen den Terrorismus als ein Thema, über das Russland und der Westen wieder ins Gespräch kommen könnten.

Washington und seine Verbündeten übten an den russischen Luftangriffen in Syrien bis dato heftige Kritik. Die Anschläge von Paris brachten insofern eine Kehrtwende, als sie zumindest eine verbale Entspannung zwischen dem Westen und Russland zur Folge hatten. Frankreich ergriff sogar die Initiative zur Schaffung einer Anti-Terror-Koalition unter Einbeziehung Moskaus. Ob es im Nahen Osten tatsächlich zu einer substantiellen Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland kommt, hängt davon ab, wie weit sich beide Seiten aufeinander zubewegen können. Die dringende Notwendigkeit für eine enge Abstimmung besteht zweifelsohne, wie der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei deutlich vor Augen führt.

Änderung der Rhetorik nach Paris

Am 13. November 2015 versetzte der Islamische Staat (IS) mit seinen Anschlägen in Paris die Welt in Angst und Schrecken. So stand zwei Tage später plötzlich der Kampf gegen den Terror im Mittelpunkt des G20-Gipfels, und Kremlchef Wladimir Putin rückte zum gefragten Gesprächspartner auf. Er und US-Präsident Barack Obama stimmten in Folgendem überein: Ausschließlich das syrische Volk solle über einen Machtwechsel entscheiden und die Vorbereitungen der Wahlen müssten unter UN-Ägide stattfinden.

Natürlich ist die Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland hier entscheidend.

EU-Ratspräsident Donald Tusk

Der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk bezeichnete ein koordiniertes Vorgehen gegen den IS als ein gemeinsames Ziel und betonte: „Natürlich ist die Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland hier entscheidend.” (1) Auf dem Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) im philippinischen Manila stufte Obama Russland erstmals wieder als einen „konstruktiven Partner bei den Syrien-Verhandlungen” ein. Gleichzeitig drückte er seine Hoffnung aus, dass Moskau seine Luftangriffe zukünftig auf IS-Ziele konzentrieren möge, zumal ein russisches Flugzeug über Ägypten durch einen Terroranschlag zum Absturz gebracht worden sei (2). Diese Unglücksursache hatte der Kreml mittlerweile als Ergebnis der Untersuchungen bekanntgegeben und seine Luftschläge in Syrien daraufhin umgehend intensiviert. Wladimir Putin gab seinen Streitkräften im Nahen Osten den Befehl, mit „den Franzosen wie mit einem Verbündeten zusammenzuarbeiten” (3).

Initiativen Frankreichs zur Schaffung eines breiteren Anti-Terror-Bündnisses

Vor dem Hintergrund der Anschläge in Paris unternahm Staatspräsident François Hollande energische Schritte zur Gründung einer Anti-IS-Allianz unter Einbindung Russlands (4). Bei einem Treffen in Washington sprach Obama von einer „potentiellen Interessengleichheit” mit Moskau im Kampf gegen den IS. Der US-Präsident wies als Beispiel auf die langfristige Gefahr hin, welche von russischen Dschihad-Kämpfern nach ihrer Rückkehr in die Heimat ausgehe. Russland könne mit seinen militärischen Möglichkeiten und seinem Einfluss auf das Assad-Regime eine außergewöhnlich nützliche Rolle spielen, und zwar sowohl bei der Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien als auch bei der Konzentration aller Anstrengungen auf den Kampf gegen den IS. Als problematisch bezeichnete der Chef des Weißen Hauses jedoch die Luftangriffe Russlands nahe an der türkischen Grenze auf „gemäßigte oppositionelle Gruppen”. Für eine neue Koalition unter Einbeziehung Moskaus sah Obama keine Notwendigkeit. Im Gegensatz dazu äußerte Hollande die Absicht, niemanden ausschließen zu wollen, allerdings müssten sich die Angriffe ausschließlich gegen den IS richten. Den Abschuss eines russischen Jagdbombers durch die Türkei am selben Tag kommentierten beide Präsidenten bei der Pressekonferenz nicht.

Der Zorn Moskaus scheint sich nicht gegen die Türkei insgesamt, sondern gegen Staatspräsident Recep Erdogan persönlich zu richten.

Am 26. November 2015 besuchte der französische Staatspräsident Moskau. Putin und Hollande waren sich über das Erfordernis einer breiten Koalition gegen den IS einig (5). Konkret sprachen sie von einer Koordinierung der Luftschläge gegen den IS und einer Intensivierung des Austauschs von Geheimdienstinformationen (6). Die Wirtschaftszeitung Wedomosti schreibt, daneben erkenne Frankreich an, dass es neben dem IS noch andere terroristische Gruppen gebe. Und im Gegenzug verspreche Russland, die „gesunde Opposition” nicht zu bombardieren.

Perspektiven einer fundierten Annäherung zwischen dem Westen und Russland

Nach den Anschlägen von Paris und Ägypten ist Wladimir Putin auf internationaler Bühne wieder ein sehr gefragter Gesprächspartner geworden. Auch auf dem Weltklimagipfel in Paris erörterte der Kremlchef mit einer Reihe von führenden Staats- und Regierungschefs den Kampf gegen den Terrorismus. Obama und er befürworteten, eine politische Lösung der Situation in Syrien voranzutreiben (7). Auch der türkische Abschuss eines russischen Militärjets infolge von dessen wohl nur marginaler Luftraumverletzung rückt eher die Türkei als Putin ins Abseits. Die Tatsache, dass die NATO sich mit einer eindeutigen Verurteilung Russlands zurückgehalten hat, lässt sogar auf eine versteckte Kritik der Nordatlantischen Allianz an Ankara schließen. Außerdem scheint sich der Zorn Moskaus nicht gegen die Türkei insgesamt, sondern gegen Staatspräsident Recep Erdogan persönlich zu richten. Beim Klimagipfel erklärte Putin vor Journalisten, dass Öl in großen Mengen von IS-kontrollierten Territorien auf türkisches Staatsgebiet transportiert werde (8). Und in seiner Jahresansprache machte er deutlich, dass „wir wissen, wer in der Türkei seine Taschen vollstopft und die Terroristen gut verdienen lässt” (9). Das russische Staatsfernsehen beschrieb die Verflechtungen von Erdogans Familie mit der Rohstoffwirtschaft und dem IS wie folgt: Sein jüngerer Sohn kontrolliere die Ölgeschäfte im Land, und sein Schwager fungiere in der neuen Regierung als Energieminister; hinzu komme, dass Erdogans Tochter ein Krankenhaus kontrolliere, in welchem radikale Kämpfer behandelt würden (10).

Wir wissen, wer in der Türkei seine Taschen vollstopft und die Terroristen gut verdienen lässt.

Präsident Wladimir Putin

Jedenfalls belegt der türkische Abschuss, wie gefährlich eine fehlende Koordinierung der Militäreinsätze des US-geführten Bündnisses und der russischen Seite ist. Solche Luftraumverletzungen können sich jederzeit wiederholen und bergen Eskalationspotential (11). Auch wenn die Terroranschläge von Paris und Ägypten eine Annäherung zwischen dem Westen und Russland nach sich gezogen haben, fehlt derzeit noch die Grundlage für eine substantielle Zusammenarbeit. Der Direktor des Zentrums für strategische Konjunktur in Moskau Iwan Konowalow spricht von einer „technischen Koalition”, die schlicht auf Gefahrvermeidung ausgerichtet sei (12). In der Tageszeitung Wedomosti verweisen Kommentatoren darauf, dass nach den Ereignissen auf der Krim und im Donbass der Westen Russland als eine potentielle Bedrohung wahrnehme, als einen Staat, der zum Denken in Einflusssphären wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück wolle (13). So hätten sich die drei baltischen Staaten umgehend gegen die Bildung einer gemeinsamen Anti-Terror-Koalition mit Moskau ausgesprochen (14) und Polen habe kürzlich gar, allerdings ohne Erfolg, die Aufhebung der NATO-Russland-Akte ins Spiel gebracht (15).

Eskalationsvermeidung reicht auf Dauer nicht aus

Im Verteidigungsbündnis hingegen gibt es bereits Überlegungen, den NATO-Russland-Rat wieder zu aktivieren (16). Dies kann ein erster Schritt dazu sein, im Nahen Osten eine effektive Luftraumkontrolle zu installieren. Eine reine Eskalationsvermeidung reicht auf Dauer aber nicht aus. Denn wie reagiert der Westen, wenn die Türkei Einsätze zur Unterstützung der syrischen Turkmenen fliegt, als deren Schutzmacht sich Ankara begreift, und das Flugzeug von syrischen Regierungskräften abgeschossen wird? Gleichzeitig bedarf es einer Forcierung des politischen Prozesses zur Schaffung einer neuen Ordnung in Syrien, was nur unter Einbeziehung Russlands möglich ist. Gut informierte Kreise vermuten, dass sich Moskau hinter den Kulissen bereits auf das baldige Ende der Amtszeit von Assad vorbereitet. Dem Kreml kommt es vor allem darauf an, den Machtwechsel im Rahmen von Wahlen zu vollziehen. Ein „libysches Szenario“ wird es mit Russland unter keinen Umständen geben, weder mit Wladimir Putin noch mit einem anderen russischen Staatspräsidenten. Für den Westen kann es außerdem kein Ruhmesblatt darstellen, dass gerade Putin auf einem Machtwechsel durch Wahlen besteht, was man eigentlich von Washington oder Brüssel erwarten würde.

 Auch in Weißrussland und Kasachstan hat Moskau mit seiner Krim-Annexion viel Vertrauen zerstört, gibt es doch in beiden Ländern signifikante ethnisch-russische Minderheiten, die der Kreml zu instrumentalisieren versuchen könnte.

Für Russland ist von größter Bedeutung, dass der Westen anerkennt, dass wesentliche Fragen der Weltpolitik nicht ohne Moskau entschieden werden können. Fühlt sich Russland bei wichtigen weltpolitischen Entscheidungen übergangen, wie häufig in dem Vierteljahrhundert nach dem Kalten Krieg, dann fasst es dies als bewusste Missachtung der russischen Interessen und Bedrohung der eigenen Sicherheit auf. Trotz des wiedergewonnenen Einflusses als globaler Akteur wird der Kreml aber schmerzlich einsehen müssen, dass es für seine Ukraine-Politik international bei Weitem nicht die erhoffte Unterstützung gibt. Vielmehr sollte es der russischen Staatsspitze zu denken geben, dass nach dem IS-Terroranschlag auf ein russisches Ferienflugzeug von keinem engen Verbündeten Angebote zur Unterstützung der Lufteinsätze in Syrien unterbreitet wurden. Nicht einmal Weißrussland und Kasachstan sind über Beileidsbekundungen hinausgegangen. Auch dort hat Moskau mit seiner Krim-Annexion viel Vertrauen zerstört, gibt es doch in beiden Ländern signifikante ethnisch-russische Minderheiten, die der Kreml zu instrumentalisieren versuchen könnte.  Der Westen sollten diese Umstände kennen, jedoch keinesfalls Russland stets vor Augen führen, denn letztendlich hat die gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit in Europa und der Welt oberste Priorität.

Interessant ist die Tatsache, dass Wladimir Putin bei seiner alljährlichen Ansprache auf Kritik am Westen und an der NATO verzichtet. Ist das ein diplomatisches Signal für den Wunsch nach engerer Kooperation?

Gewöhnlich gut unterrichtete Kreise sprechen davon, dass dem Kreml in den letzten Monaten seine nachteilige Situation bewusst geworden sei und deshalb ein leichtes Umdenken stattgefunden habe. Der Kampf gegen den Terrorismus werde als ein Thema gesehen, über das Russland und der Westen wieder ins Gespräch kommen könnten. Interessant ist die Tatsache, dass Wladimir Putin bei seiner alljährlichen Ansprache auf Kritik am Westen und an der NATO verzichtet hat, obwohl die offizielle Rhetorik seit Jahren wesentlich darauf aufbaut. Ist das ein diplomatisches Signal für den Wunsch nach engerer Kooperation? Der Westen sollte jedenfalls den Kontakt mit Moskau zur Lösung der Situation in Syrien und zur Forcierung des Kampfes gegen den Terrorismus intensivieren. Das wäre auch ein guter Einstieg, um ohne Aufgabe westlicher Positionen den Dialog mit Russland über die Ukraine-Krise auf eine konstruktivere Ebene zu bringen.

 

Der Autor dankt Jekaterina Grigoriewa für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags.

Anmerkungen
1  RBK Daily vom 16.11.2015, S. 4f.
2  Kommersant vom 19.11.2015, S. 6.
3  Wedomosti vom 18.11.2015, S. 1f.
4  Das Folgende nach: Wedomosti-online vom 24.11.2015, http://www.vedomosti.ru/politics/articles/2015/ 11/24/618184-obama-olland-usilit-aviaudari-sirii; Novaya Gaseta vom  25.11.2015, http://www.novayagazeta.ru/politics/70901.html.
5  Kommersant vom 27.11.2015, S. 7.
6  Das Folgende nach: Wedomosti vom 30.11.2015, S. 2.
7  Vesti.ru vom 30.11.2015, http://www.vesti.ru/doc.html?id=2692895&tid=109131.
8  Novaya Gaseta vom 01.12.2015, http://www.novayagazeta-vlad.ru/2015/12/02/1944/kontrabanda-i-propaganda.html.
9  Kremlin.ru vom 03.12.2015, http://www.kremlin.ru/events/president/news/50864/work.
10  Vesti vom 01.12.2015, http://www.vesti.ru/doc.html?id=2692932.
11  Vgl. dazu auch eine Äußerung des israelischen Verteidigungsministers Mosche Jaalon am Vortrag des Weltklimagipfels. Kommersant vom 29.11.2015, http://www.kommersant.ru/doc/2865714.
12  Wedomosti vom 27.11.2015, S. 2.
13  Wedomosti vom 17.11.2015, S. 6.
14  Campus-online.ru vom 21.11.2015, http://campus-online.ru/proisshestviya/187396-pribaltiiskie-strany-otkazalis-ychastvovat-v-odnoi-koalicii-s-rf.html
15  Kommersant vom 30.11.2015, http://www.kommersant.ru/doc/2866018.
16  Wedomosti vom 03.12.2015, S. 3.