Erdogans Erdrutschsieg
Abgleiten in die Autokratie: Die verfassungsändernde Super-Mehrheit ist Präsident Erdogan zwar versagt geblieben. Aber der unerwartet klare Sieg seiner AKP stärkt seinen autoritären Zugriff auf die Regierungsmacht. Auf Europas Flüchtlingskrise hat das Wahlergebnis wenig Wirkung: Erdogan hat den Flüchtlingen die Grenzen geöffnet und kann sie wieder schließen, wann er will – oder auch nicht.
Türkei nach den Wahlen

Erdogans Erdrutschsieg

Abgleiten in die Autokratie: Die verfassungsändernde Super-Mehrheit ist Präsident Erdogan zwar versagt geblieben. Aber der unerwartet klare Sieg seiner AKP stärkt seinen autoritären Zugriff auf die Regierungsmacht. Auf Europas Flüchtlingskrise hat das Wahlergebnis wenig Wirkung: Erdogan hat den Flüchtlingen die Grenzen geöffnet und kann sie wieder schließen, wann er will – oder auch nicht.

Dieses türkische Wahlergebnis ist auch für Deutschland nicht unwichtig: 59,7 Prozent der in Deutschland lebenden, aber in der Türkei wahlberechtigten Türken – etwa 1,5  Millionen – haben bei der türkischen Parlamentswahl am gestrigen Sonntag für die islamistisch-nationalistische AKP von Staatspräsident Recep Erdogan gestimmt. Der sich als moderner Sultan gerierende Erdogan hat unter den Türken in Deutschland viele Anhänger. Die prokurdische HDP kam bei den türkischen Wählern in Deutschland auf 15,9 Prozent.

Erdrutschsieg

„Stabilität oder Chaos“ – auf die Alternative hatte die islamistische AKP die Wahlentscheidung reduziert. Nur einen knappen Monat nach dem verheerendsten Terroranschlag, den die Türkei je erlebt hat und der in Ankara über 100 Todesopfer forderte, ist die Rechnung aufgegangen: Erdogans AKP erzielten einen regelrechten Erdrutschsieg. Die türkischen Islamisten gewannen die absolute Mehrheit zurück, die sie bis zum vergangenen Juni schon 13 Jahre lang in Besitz hatten. Mit 49,4 Prozent (Juni 2015: 40,8) der Stimmen gewann die AKP 317 von 550 Parlamentsmandaten – ein Zugewinn von 59 Sitzen. Die pro-kurdische HDP, deren Überraschungserfolg, der AKP im Juni die absolute Mehrheit raubte, wäre jetzt mit 10,6  Prozent fast an der Zehnprozent-Hürde gescheitert. Stärkste Oppositionskraft wurde die säkulare sozialdemokratische CHP mit 25,4 Prozent der Stimmen. Die oft als ultra-rechts beschriebene nationalistische MHP verlor ein Viertel ihrer Wähler und erreichte nur 11,9 Prozent – die AKP, die die meisten MHP-Stimmen aufsog, erwies sich als die „bessere“ Nationalistenpartei.

Zur verfassungsändernden Super-Mehrheit fehlen 13 Mandate

Sein eigentliches großes Ziel hat Präsident Erdogan dennoch wieder verpasst: Er möchte die Türkei in ein Präsidial-Regime verwandeln nach dem Vorbild von Waldimir Putins Russland. Aber zur verfassungsändernden Super-Mehrheit, die er bräuchte, um ein Verfassungsreferendum zu initiieren, fehlen Erdogan und seiner AKP immer noch 13 Mandate. Die Wähler, die mit starken 86 Prozent zur Wahl gegangen sind, lehnen ein Präsidialregime mehrheitlich ab, offenbar sogar auch die AKP-Wähler.

Die türkischen Wähler lehnen ein Präsidialregime mehrheitlich ab.

Was aber Erdogans Premierminister Ahmet Davutoglu nicht daran hindert, jetzt alle Parteien, die neu ins Parlament einziehen, dazu aufzurufen, „sich auf eine neue zivile Verfassung zu verständigen“. Tatsächlich stammt die aktuelle Verfassung der Türkei aus der Zeit der Militärherrschaft nach dem Putsch von 1980. Weit kommen wird Erdogans Premier mit seinem Aufruf aber wahrscheinlich nicht: Die drei Oppositionsparteien sind strikte Gegner eines Präsidialsystems.

Abgleiten in die Autokratie

Trotzdem bringt der Erdrutschsieg der AKP Erdogan seinem Ziel näher. Denn in der Verfassungsrealität nimmt die Türkei längst Züge eines Präsidialsystems an: Obwohl er es eigentlich nicht dürfte, greift Präsident Erdogan regelmäßig in die Tagespolitik ein – und sein Premierminister lässt ihn gewähren. Beobachter sprechen längst von täglichem Verfassungsbruch. Der unerwartet hohe Wahlsieg und die starke Mehrheit „zementiert jetzt Erdogans Position als der mächtigste politische Führer des Landes“, beobachtet etwa die New Yorker Tagezeitung Wall Street Journal: „Über eine willige AKP wird Erdogan in der Lage sein, de facto exekutive Autorität über zentrale politische Bereiche auszuüben, einschließlich Außenpolitik, Sicherheit und Wirtschaft.“ Die Wähler haben sich eben doch für den starken Mann entschieden, so das US-Blatt.

Über eine willige AKP wird Erdogan in der Lage sein, de facto exekutive Autorität über zentrale politische Bereiche auszuüben, einschließlich Außenpolitik, Sicherheit und Wirtschaft.

Wall Street Journal

Die Wahl in der Türkei bedeute eine „Abwendung von der Demokratie und eine Hinwendung zur Autokratie“, titelt die linke Londoner Tageszeitung The Guardian: Wenn Erdogan und seine AKP den Wahlsieg als carte blanche verstehen, um die Verfassung zu brechen, Dissens niederzuschlagen, freien Journalismus abzuwürgen, den Plan des umstrittene Präsidialsystems weiterzuverfolgen, die kurdische Forderung nach Dezentralisierung zu unterdrücken und in der Syrienkrise weiter einen Zickzack-Kurs zu fahren, „dann muss man mit noch schnellerem Abgleiten in die Autokratie rechnen“.

Die neue Regierung muss nun erst einmal ihr ernsthaftes Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie unter Beweis stellen.

Hürriyet Daily News

Vor der Gefahr zunehmend autoritärer Herrschaft warnt auch die oppositionelle englischsprachige Tageszeitung  Hürriyet Daily News und erinnert an die „Beschlagnahme kritischer Zeitungen und die straflose Gewalt gegen Medienorganisationen wie gegen individuelle Journalisten“ in den vergangenen Monaten. Die neue Regierung müsse nun erst einmal ihr „echtes Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie unter Beweis stellen“. Die Hoffnung mancher Beobachter ruht jetzt auf Premier und AKP-Chef Davutoglu. Er kann Präsident Erdogan weiter gewähren lassen. Er könnte aber auch den Erdrutsch seiner Partei nutzen, um sich vom Präsidenten zu emanzipieren und seinen eigenen und seiner Regierung Zugriff auf die Geschicke des Landes zu festigen.

Migrantenkrise: Wenig Hoffnung für die Europäer

Wie geht es jetzt in Ankara weiter, innenpolitisch wie auenpolitisch? Im Konflikt mit den Kurden droht neue militärische Eskalation. Die Kurdenpartei HDP ist massiv geschwächt, was gleichzeitig die verbotene militante Kurdische Arbeiterpartei PKK stärkt. Die Kurden erleben wieder, dass sie an der Wahlurne nicht weiter kommen. Die Chancen auf eine Waffenruhe wachsen dadurch nicht. Dem Präsidenten wiederum hat der von ihm neu angezettelte Krieg gegen die PKK und gegen deren syrischen Ableger bislang politisch nur genutzt.

Präsident Erdogan hat den Flüchtlingen die Grenzen geöffnet. Er kann sie schließen, wann immer ihm beliebt – oder eben auch nicht.

Für die Europäer und deren große Migrantenkrise ist das türkische Wahlergebnis von untergeordneter Bedeutung: Präsident Erdogan hat den Flüchtlingen die Grenzen geöffnet. Er kann sie schließen, wann immer ihm beliebt – oder eben auch nicht. Und bislang lassen die Europäer sich das widerspruchslos gefallen.