Wenn die türkische Regierung in Ankara vom Terrorregime des Islamischen Staat (IS) spricht, dann denkt sie zuallererst an die Kurden – ihre eigenen Kurden, immerhin 18 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung (78 Millionen), und die wachsende türkische Präsenz auf der anderen Seite der Grenze zu Syrien. So auch jetzt. Denn wenn Ankara sich nun plötzlich doch aktiv am Kampf gegen den IS beteiligt und IS-Stellungen im Irak bombardiert, geht es um die Kurden in Syrien. Und ebenso, wenn die türkische Regierung endlich dem amerikanischen Drängen nachgibt und US-Kampflugzeuge von der Nato-Basis Incirlik aus Einsätze gegen den IS fliegen lässt.
Auslöser der jüngsten Wende in Ankara war am 20. Juli ein mörderischer Selbstmordanschlag im türkisch-kurdischen Ort Suruc gegenüber der Kurden-Stadt Kobane auf der syrischen Seite der Grenze. Über 30 Personen, zumeist Kurden, wurden getötet, mehrere hundert wurden verletzt.
Der erste große IS-Anschlag in der Türkei
Der Anschlag, offenbar von einem jungen Kurden mit IS-Verbindung ausgeführt, galt den Kurden. Denn die treten im Norden Syriens schon lange als effektivste Gegner des IS in Erscheinung. Suruc ist politisch in der Hand der türkischen Kurden-Partei HDP. Anschlagsziel war ein Rekrutierungszentrum, wo sich gerade kurdische Helfer sammelten, die am Wiederaufbau von Kobane auf der syrischen Seite der Grenze mitwirken wollten.
Angeblich verfügt der IS in der Türkei über ein beachtliches Netzwerk mit hunderten potentiellen Terroristen.
Beobachter werten den ersten großen IS-Anschlag auf türkischem Boden aber auch als Warnung an Ankara, auf türkischem Territorium keine Unterstützung für die syrischen Kurden zuzulassen. Und als Hinweis darauf, dass der IS in der Türkei gefährlich handlungsfähig ist. Angeblich soll der IS in der Türkei über ein beachtliches Netzwerk mit hunderten potentiellen Terroristen verfügen.
Der Zorn der türkischen Kurden gilt nun nicht nur dem IS, sondern fast ebenso sehr der islamistischen AKP-Regierung in Ankara, der sie schon lange versteckte Zusammenarbeit mit dem IS vorwerfen – gegen die Kurden. Als Vergeltung haben denn auch kurdische PKK-Terroristen prompt vier türkische Polizisten ermordet, die angeblich mit dem IS zusammengearbeitet haben sollen. Die türkische Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Türkische Kampfflugzeuge griffen IS-Stellungen in Syrien an – und Lager der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak. Auf den nächsten PKK-Anschlag in der türkischen Kurden-Provinz Diyarbarkir folgten weitere Angriffe der türkischen Luftwaffe auf PKK-Stellungen in Irak. Der Waffenstillstand zwischen Ankara und der PKK ist Geschichte.
Westkurdistan entsteht
Immerhin dürfen US-Kampfflugzeuge nun die türkische Flugbasis Incirlik gegen den IS benutzen. Eine große Hilfe: Weil sich die Flugzeit nach Syrien dramatisch verkürzt, können viel mehr Einsätze gegen den IS geflogen werden. Bislang hatte Ankara die Erlaubnis verweigert und war auch sonst beim Kampf gegen den IS nicht durch großen Eifer aufgefallen. Gegen ausländische Dschihadisten, die über die türkische Grenze nach Syrien strömten, um sich dem IS anzuschließen, hat Ankara wenig unternommen. Was für die Türkei allerdings eine immer bedrohlichere politische Folge hatte, erläutert die britische Wochenzeitung The Economist: Die syrische Kurden-Miliz YPG wurde Washingtons wichtigster Partner gegen den IS in Syrien.
Die syrische Kurden-Miliz ist in Syrien Washingtons wichtigster Partner gegen den IS.
Die YPG ist für Ankara ein doppeltes Problem: Sie ist sozusagen eine syrische Gründung der PKK mit entsprechender potentieller Anziehungskraft für türkische Kurden. Umso mehr als sie entlang der türkischen Grenze auf der syrischen Seite ein immer größer werdendes Gebiet beherrscht und dort Kantone eines Rojava genannten de facto autonomen Westkurdistan auf die Beine stellt. Im vergangenen Herbst haben YPG-Milizionäre, unterstützt von amerikanischen Kampfflugzeugen, die Kurdenstadt Kobane gegen die vordringende IS-Armee verteidigt. Im Juni haben sie dem IS die Grenzstadt Tel Abyad abgenommen, über die der Nachschub für die syrische IS-Hauptstadt Rakka lief – aus der Türkei.
Ankaras Albtraum: Kurdisches Staatsgebilde entlang der Grenze zu Syrien
Mit der Eroberung von Tel Abyad haben die syrischen Kurden jetzt die Verbindung hergestellt zwischen dem Kanton Cicire im Osten und dem Kanton Kobane. Um Westkurdistan zu vervollständigen, fehlt ihnen noch ein gut 300 Kilometer langes Stück Territorium zwischen Kobane und dem ebenfalls schon errichteten Kanton Afri im Westen des syrisch-kurdischen Siedlungsgebietes.
Ein durchgehendes, kurdisch beherrschtes Gebiet vom Irak im Osten bis ins westliche Syrien würde die geographische Verbindung zwischen der Türkei und der arabischen Welt durchtrennen.
Auf der – noch – syrischen Seite der Grenze entsteht ein kurdisches Staatsgebilde: Westkurdistan. Für Ankara ein Albtraum. Ein durchgehendes kurdisch beherrschtes Gebiet vom Irak im Osten bis ins westliche Syrien würde „die geographische Verbindung zwischen der Türkei und der arabischen Welt durchtrennen“, zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung aus einer frischen türkischen Studie. Das ist zutreffend beobachtet. Was die Sache noch schlimmer macht: Dank dem IS, der die Verbindung zwischen Bagdad und dem nordirakischen Kurdengebiet gekappt hat, sind östlich davon die irakischen Kurden praktisch schon völlig unabhängig.
Pufferzone, um Westkurdistan zu zerreißen
Ankaras bisherige Syrienpolitik – keine Intervention in den Bürgerkrieg und die kurdische Frage dem IS überlassen – ist gescheitert. Gut möglich, dass Ankara es nun nicht bei Luftangriffen belässt. Schon länger fordert die Türkei die Einrichtung einer 100 Kilometer langen und bis zu 50 Kilometer tiefen Pufferzone auf der syrischen Seite der Grenze – angeblich als Rettungsgebiet für syrische Flüchtlinge – die dann das zusammenhängende Kurdengebiet wieder zerreißen würde. The Economist zitiert „Insider“ der Regierungspartei AKP, denen zufolge Präsident Recep Erdogan jetzt unbedingt türkische Truppen nach Syrien in Marsch setzen wolle, um das Vordringen der syrischen Kurden zu stoppen. Presseberichten zufolge beschießen türkische Panzer von der Grenze aus schon kurdisch beherrschte Dörfer auf der syrischen Seite. Für den morgigen Dienstag hat Ankara eine Sondersitzung der Nato-Botschafter beantragt.
Die Türkei hat das Recht, sich gegen Terroranschläge zu verteidigen, aber es ist wichtig, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sind und nicht in einer unnötigen Weise zu einer Eskalation des Konfliktes beitragen
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär
Ob es nun zu einem größeren türkischen Truppeneinsatz in Syrien kommt, muss sich zeigen: Angeblich treten die USA dem Gedanken einer Pufferzone in Syrien näher. Aber gleichzeitig fürchtet Washington, dass eine türkische Kampagne gegen die Kurden – in der Türkei, aber erst recht in Syrien und Irak – den Kampf gegen den Islamischen Staat verkomplizieren und schwächen wird. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Ankara denn auch schon vor „unnötiger Eskalation” gewarnt. Wie auch immer: Mit dem Hinzukommen Ankaras tritt der Bürgerkrieg in Syrien in eine neue Phase. Das Wer-Gegen-Wen und Wer-Mit-Wem in Syrien wird noch komplizierter.
Neuwahl im Herbst und antikurdischer Wahlkampf?
Natürlich hat Ankaras neue Politik auch innenpolitische Aspekte. Bei der Parlamentswahl am 7. Juni hat die Kurdenpartei HDP die Zehnprozent-Hürde geschafft – und Erdogans islamistischer AKP die absolute Mehrheit genommen. Die AKP ist zur Koalition mit der säkular gesonnen Mitte-Links-Partei CHP gezwungen, aber zu Kompromissen nicht bereit. Eine neue Regierung steht noch nicht. Beobachter sehen für den Herbst Neuwahlen kommen. The Economist hält für möglich, dass Präsident Erdogan jetzt antikurdische Stimmung anheizen will, um die HDP wieder unter die Zehnprozent-Hürde zu drücken. Mit einer großen AKP-Mehrheit käme Erdogan dann seinem Ziel näher: der Türkei eine neue Verfassung zu geben – eine sehr präsidentielle natürlich.