Gestörte Beziehung: Seit Recep Erdogan die Türkei in eine Diktatur verwandelt hat, ist die Partnerschaft mit der EU praktisch zu Ende. (Bild: Imago/Ralph Peters)
Türkei

Weit weg von der EU

Die Fortschrittsberichte über die EU-Beitrittskandidaten zeigen großen Verbesserungsbedarf. Vernichtend fällt das Urteil über die Türkei aus, die sich "in großen Schritten" von der EU entfernt habe. Ein Abbruch der Gespräche wird vermieden.

In ihrem neuen Türkei-Bericht äußert die EU-Kommission wie nie zuvor vernichtende Kritik an der Politik des islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Die Türkei hat sich in großen Schritten von der EU wegbewegt“, heißt es in der Bewertung der EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land.

Die türkische Diktatur im Fokus

Konkret ist zum Beispiel von deutlichen Verschlechterungen der Rechtsstaatlichkeit und der Presse- und Meinungsfreiheit die Rede. Die EU-Kommission verweist in ihrem Bericht darauf, dass seit der Einführung des Ausnahmezustandes nach dem gescheiterten Putsch 2016 bereits mehr als 150.000 Menschen in Haft genommen wurden. Zudem sei es zur Entlassung Zehntausender Beamter gekommen. Überall im Fortschrittsbericht findet sich das Wort „Backsliding“, also Rückschritt. Besonders die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten, Nutzern sozialer Medien und Journalisten wird kritisiert – von letzteren sitzen immer noch mehr als 150 für ihre Berichterstattung im Gefängnis. Auch die ungelöste Zypernfrage und der türkische Druck auf das Land wird bemängelt. Angesichts der derzeitigen Lage ist nicht geplant, weitere Verhandlungskapitel zu öffnen.

Die Türkei hat sich in großen Schritten von der EU wegbewegt.

EU-Fortschrittsbericht

Eine Empfehlung, die praktisch bereits auf Eis liegenden Beitrittsgespräche mit der türkischen Diktatur auch offiziell auszusetzen, sprach die Kommission dennoch nicht aus. Ein solcher Schritt könnte aus Sicht der Kommissionsspitze zum Beispiel die Vereinbarungen zur Flüchtlingskrise gefährden. „Die EU ist strategisch wichtiger Partner und wird es auch bleiben“, kommentierte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Eine Aussetzen ergebe auch deshalb keinen Sinn, weil die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer weiter dagegen sei. Um wieder mehr Vertrauen zu schaffen, forderte die EU-Kommission die Türkei auf, unverzüglich den Ausnahmezustand aufzuheben, der nach dem angeblichen Putschversuch vom Juli 2016 verhängt worden war.

Die Türkei wird aber den Ausnahmezustand noch in dieser Woche um weitere drei Monate verlängern. Diktator Erdogan kann dann weiter per Notstandsdekret regieren. Die Kritik der EU-Kommission wurde zurückgewiesen. „Zusammenfassend ist dieser Bericht weit davon entfernt, die Realitäten in der Türkei zu verstehen und somit weit davon entfernt, seinen Zweck zu erfüllen“, teilte das türkische Außenministerium mit. Die Türkei führe seit 2016 einen Kampf gegen mehrere Terrororganisationen, darunter PKK, IS und die Gülen-Sekte.

Sechs Balkanstaaten mit Problemen

Daneben bewertete die EU-Kommission auch die Lage in den Kandidatenländern Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien. Die sechs Balkanstaaten bekamen ein deutliches besseres Zeugnis ausgestellt – auch wenn sie weiter vor riesigen Reformherausforderungen stehen, insbesondere in den Bereichen Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie in der Asylpolitik. Wegen der Fortschritte in Albanien und Mazedonien empfahl die Kommission nun die Aufnahme von offiziellen Beitrittsverhandlungen mit den Ländern. Gespräche dieser Art laufen derzeit nur mit Montenegro und Serbien. Bosnien-Herzegowina und das Kosovo gelten nur als potenzielle Kandidaten für Verhandlungen.

Die endgültige Entscheidung darüber müssen nun die EU-Mitgliedstaaten einstimmig treffen. Allerdings blockierte Mazedoniens Nachbar Griechenland wegen eines Namensstreites bisher jede Annäherung des Landes an Nato und EU. Mazedonien soll seinen Namen ändern, weil auch der nördliche Teil Griechenlands diesen Namen trägt. Als möglicher Staatsname wird derzeit „Neues Mazedonien“ genannt. Die Kommission lobte, dass die Mazedonier Flughafen und Autobahn, die früher beide nach Alexander dem Großen benannt waren, neue Namen gaben. Das kleine Land mit 2,1 Millionen Einwohnern leidet unter seinen nationalen Problemen. Schätzungsweise ein Viertel bis ein Drittel der Bürger sind Albaner. Die slawische Mehrheit kann sich nur schlecht damit abfinden, dass die Minderheit nach den neuen Gesetzen anteilsmäßig in Behörden und im Bildungssystem vertreten sein muss. Seit dem Regierungswechsel vor einem Jahr ist das Land aber auf Reformkurs. Insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Freiheit der Zivilgesellschaft haben sich gebessert.

Für Albanien dürfte schon die Empfehlung für Beitrittsgespräche eine gute Nachricht sein. Das Land mit drei Millionen Einwohnern ist eines der ärmsten Europas. Trotz großer Fortschritte gibt es weiter in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Bereichen Korruption, eine Justizreform ist aber auf dem Weg. Wer kann, versucht, ins Ausland zu kommen – vor allem nach Italien jenseits der Adria.

Erst muss die EU beitrittsfähig werden

Der französische Präsident Emmanuel Macron warnte alle Balkanländer am Dienstag ganz allgemein vor zu großen Erwartungen. Er sieht eine Reform und Vertiefung der EU als Bedingung für einen möglichen Beitritt der Westbalkanstaaten. Auch die Bundesregierung hatte zuletzt immer wieder vor allzu viel Optimismus gewarnt. Sie sah es vor allem kritisch, dass die EU-Kommission den Westbalkanstaaten in Aussicht gestellt hatte, bei entsprechenden Reformen bis zum Jahr 2025 der EU beitreten zu können.

Für den 17. Mai ist ein Gipfel der EU mit den Westbalkan-Staaten in der bulgarischen Hauptstadt Sofia geplant.