England will raus aus der EU, und der Rest Großbritanniens muss folgen? Gegen diese Möglichkeit regt sich in Schottland, Wales und Nordirland heftiger Widerstand. (Bild: BK)
EU-Referendum

Getrenntes Königreich

Bei den jüngsten Parlamentswahlen in Großbritannien gingen die Tories als klarer Sieger hervor - die allermeisten Sitze holte Premier Camerons Partei dabei in England, größtes Wahlzugpferd war das geplante EU-Referendum. In Schottland, Wales und Nordirland fiel die Partei damit durch - dort will die Bevölkerung unbedingt in der EU bleiben. Und das aus gutem Grund.

Das Gesetz über das geplante EU-Referendum in Großbritannien nahm am Dienstag im britischen Parlament die erste Hürde. Mit großer Mehrheit stimmten die Abgeordneten des neu gewählten Unterhaus in London für die von der Regierung eingebrachte Gesetzesvorlage. 544 der 597 anwesenden Abgeordneten votierten für den Text, 53 stimmten dagegen. Außenminister Philip Hammond warb für den Entwurf: Die EU fühle sich für viele seiner Landsleute an „wie etwas, das ihnen zugefügt, nicht für sie getan wird“. Das Mandat für die britische Mitgliedschaft in der EU sei „hauchdünn“ und bedürfe der Erneuerung. Laut Gesetzesentwurf muss die Volksabstimmung über einen Verbleib in der EU bis Ende 2017 abgehalten werden. Sie legt auch den Wortlaut des Referendums fest: „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben?“ Die konservativen Tories von Premierminister David Cameron traten mit dem Versprechen für eine Volksabstimmung in die Parlamentswahl am 7. Mai an und gingen daraus als eindeutiger Sieger hervor. Allerdings herrscht in Camerons Partei Uneinigkeit darüber, wie man sich verhalten soll, falls es gelingt, vorher Reformen der EU durchzusetzen. Ein Teil der Tories will im Zweifelsfall trotzdem für den EU-Austritt werben. Während der Debatte warnte aber auch der europafreundliche konservative Ex-Minister Kenneth Clarke, dass ein aus der EU ausgetretenes Großbritannien an Bedeutung verlieren würde.

Die Schotten sind europafreundlich

Die Schottische National-Partei (SNP), die bei der Wahl im Mai drittstärkste Kraft wurde, positionierte sich während der Debatte stark gegen Camerons Kurs. Sie lehnt zum einen die im Gesetz enthaltene Bestimmung ab, nach der in Großbritannien lebende EU-Bürger und die Gruppe der 16- bis 17-Jährigen an dem Referendum nicht teilnehmen dürfen. Und vor allem wünscht sie eine Sonderklausel für den Fall, dass es in Schottland eine Mehrheit für den EU-Verbleib gibt, in England aber nicht. Die Schotten sollen dann in der EU verbleiben dürfen. Während der Debatte nannte der SNP-Abgeordnete und ehemalige schottische Regierungschef Alex Salmond das geplante Referendum eine „Dummheit“ und „Taktik“, um die Anhänger der europafeindlichen UKIP-Partei für die Tories zu gewinnen. Die Abstimmung sei „ein Gefallen an die Euroskeptiker, während niemand wirklich glauben kann, dass der Premierminister Großbritannien aus der EU führen will“.

Das Referendums-Gesetz muss nun noch mehrere weitere parlamentarische Hürden nehmen, bevor es endgültig verabschiedet werden kann. An seiner Annahme besteht aber kein Zweifel, da es sowohl von den regierenden Tories, als auch von der oppositionellen Labour-Partei unterstützt wird.

Überzeugender Wahlerfolg

Es war ein Wahlsieg, den in dieser Deutlichkeit wohl nicht mal Großbritanniens Premierminister David Cameron seiner Partei zugetraut hätte. Die Tories können seit dem 7. Mai das Vereinigte Königreich wieder alleine regieren und sind nicht mehr auf einen Koalitionspartner angewiesen. Dabei waren sich die Experten einig: Größter Stimmenbringer war für Cameron und seine Mitstreiter das Versprechen, die Briten in einem Referendum über den Verbleib des Landes in der Europäischen Union abstimmen zu lassen.

Ist Großbritannien also zur Zeit ein echtes „Vereinigtes Königreich“, geeint unter der jetzt alleine regierenden Tory Party? Mitnichten. Denn die Wahlergebnisse zeigen: Die Gräben zwischen den einzelnen Ländern Großbritanniens war selten größer als jetzt. Das Wahlergebnis zeigt: Camerons Partei hat eine klare Mehrheit – aber nur in England.

Gegenwind aus Schottland, Wales und Nordirland

In Schottland etwa feierte die Scottish National Party (SNP) einen kaum für möglich gehaltenen Erdrutschsieg, gewann 56 von 59 möglichen schottischen Sitzen im „House of Commons“. In EU-Fragen gab es bei der SNP keine Diskussion: Großbritannien gehöre in die EU, sagte Parteichefin Nichola Sturgeon noch am Vorabend der Wahl. Diese klare pro-europäische Haltung legt die Partei auch nach der Wahl an den Tag. Dem Bayernkurier legte Fraktionschef Angus Robertson exklusiv seine Sicht der Dinge klar: „Schottland profitiert enorm von der Europäischen Union, gerade durch den florierenden Handel.“ Dieser sei für eine Nation, die ihren Wohlstand unter anderem durch den Verkauf von Erdöl finanziere, unglaublich wichtig.

Überhaupt fühlt sich Robertson von den Tories bevormundet: „Camerons Partei ist nur in England stark – in allen anderen Ländern des Königreichs sind sie eigentlich eine Minderheitenpartei. Trotzdem wollen sie ein Referendum über den Verbleib unseres Landes in der EU abhalten. Die meisten Briten leben in England, 53 Millionen Menschen, gegenüber nur etwas mehr als zehn Millionen in Schottland, Wales und Nordirland zusammen. Das heißt: Wenn sich dort eine Mehrheit für einen Brexit entscheidet, müssen die Schotten, die Waliser und die Nordiren ebenfalls die EU verlassen. Das ist nicht gerecht und tritt die Autonomie unserer Länder mit Füßen.

Wenn sich eine Mehrheit in England für den Brexit entscheidet müssen Schotten, Waliser und Nordiren ebenfalls die EU verlassen. Das tritt unsere Autonomie mit Füßen.

Angus Robertson, SNP

Ähnlich sieht man die Situation bei der walisischen Nationalpartei Plaid Cymru. Parteichefin Leanne Wood etwa stört sich an der Tatsache, dass in Großbritannien lebenden EU-Bürger vom Referendum ausgeschlossen werden sollen. In Wales, Schottland und Nordirland dürfen EU-Bürger sogar an den Wahlen zu den Regionalparlamenten teilnehmen. „Dass sie bei solch einer wichtigen Entscheidung dann ausgeschlossen werden sollen, ist absolut undemokratisch“, kritisiert Wood, deren Partei bei der letzten Wahl ebenfalls Zugewinne verzeichnen konnte – wenn auch nicht in der Größenordnung der SNP.

Wales profitiert wie kein anderes UK-Land von der EU. Eine 2014 veröffentlichte Studie zeigt: Wäre Wales nicht mehr Teil der EU, würde sich die Wirtschaft binnen weniger Jahre auf das Niveau des Staates Moldau zurück entwickeln. „Wir von Plaid Cymru sind gewählt, um die Interessen unserer Bürger, der Bürger von Wales, zu vertreten“, sagt Leanne Wood. „Und für unsere Bürger ist klar: Wir wollen in der EU bleiben – unabhängig davon, was die Engländer wollen.“

Nordirland und die EU

Eine ganz besondere Situation gibt es in Nordirland. Dort hat man mit der Grenze zu Irland als einziges Land des Vereinigten Königreichs eine Landgrenze zu einem anderen EU-Staat. „Errungenschaften der Europäischen Union, wie etwa die Freizügigkeit, spüren wir hier viel stärker als die Menschen in England, Schottland und Wales“, stellt David Simpson fest. Er ist seit zehn Jahren Abgeordneter im Unterhaus für die nordirische DUP – eine pro-britische Partei, die die Eigenständigkeit Nordirlands bewahren will und keine Wiedervereinigung mit Irland anstrebt. „Für Nordirland ergibt sich innerhalb der EU eine Situation, die wir im Englischen als ‚Cherry Picking‘ (dt.: Kirschenpflücken) bezeichnen: Wir können uns von allem das Beste nehmen.“ Man profitiere von den erleichterten Handelsbeziehungen, etwa zum großen Nachbar Irland, und freut sich gleichzeitig über die noch immer vorhandene Sonderbehandlung Großbritanniens innerhalb der EU. Hier erfährt David Cameron Unterstützung von der DUP. „Wir unterstützen den Premierminister in jedem Fall in seinem Bestreben, einen noch besseren Deal für Großbritannien in der EU herauszuschlagen“, erklärt Simpson. „Ein Austritt aus der EU halten wir aber für fatal – nicht nur für Nordirland, sondern für ganz Großbritannien, aber auch für Irland und die gesamte Europäische Union“. Er betont auch die gemeinsame europäische Identität, die sich in der Gründung der Union manifestiert hat. „Die gesamte restliche Welt beneidet uns trotz all unserer Probleme um das, was die Europäische Union in Sachen Einigkeit, Wirtschaftskraft und Friedensstiftung geschafft hat.“

Hört man all diese unterschiedlichen Meinungen, Wünsche und Ziele, fällt es mitunter schwer, das „Vereinigte Königreich“ aktuell nicht eher als „Uneiniges Königreich“ zu sehen. Britische Beobachter warnen daher vor der enormen Sprengkraft, die ein Austrittsvotum in dem geplanten Referendum auch für Großbritannien haben könnte. Das Wirtschaftsministerium etwa kam in einer jüngsten Untersuchung zu dem Schluss, dass separatistische Kräfte in Schottland, Wales und Nordirland im Falle eines Brexits massiven Zulauf bekommen könnten. Spätestens dann dürfte sich die Freude David Camerons über den klaren Wahlsieg seiner Partei deutlich dämpfen.