Sterndeuter: Die Zukunft der EU steht auf dem Spiel. (Bild: Imago/Ikon Images/Gary Waters)
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Europäische Sterndeuter

Angesichts von Brexit und wachsender Europaskepsis will die EU-Kommission eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der Staatengemeinschaft anstoßen. Behördenchef Jean-Claude Juncker stellte dazu vor dem Europaparlament fünf mögliche Szenarien vor.

Soll die Europäische Union der Zukunft wieder das werden, was sie einst war, vor allem ein gemeinsamer Markt mit etwas Politik? Oder könnte Brüssel zur mächtigen Hauptstadt einer Art Vereinigter Staaten von Europa werden?  Angesichts von Brexit und zunehmender Europaskepsis hat die EU-Kommission fünf Konzepte für eine Reform der Europäischen Union vorgestellt. „Die Zukunft Europas liegt in unserer Hand“, sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bei der Präsentation des Grundsatzpapiers im Europaparlament. Die fünf präsentierten Szenarien reichen von einer radikalen Rückbesinnung auf den Binnenmarkt und einem Verzicht auf weitere politische Vertiefung der EU bis hin zu einem Modell der Vereinigten Staaten von Europa. Zwei der fünf Szenarien laufen auf weniger Europa hinaus.

  • Weiter so: Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten würden sich nach dem Brexit auf Reformen, Wachstum, Arbeitsplätze und Investitionen konzentrieren und nur so viel regeln, wie unbedingt nötig. Bei der Währungsunion wären nur „schrittweise Fortschritte“ zu erwarten, während die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich begrenzt bliebe. Juncker warnt aber, die Einheit der 27 könne wie bei der Flüchtlingskrise schnell „bei ernsthaften Meinungsverschiedenheiten erneut auf die Probe gestellt werden“.
  • Binnenmarkt: Nur der Binnenmarkt bleibt noch das Hauptziel der EU, weil die Mitgliedstaaten sich nicht auf mehr politische Integration in anderen Bereichen verständigen können. Der Preis für die Rest-EU wäre aus Sicht der Kommission, dass „die Kapazität, gemeinsam zu handeln, begrenzt ist“. Dies könne „die Kluft zwischen Erwartungen und dem Gelieferten auf allen Ebenen vergrößern“. Dass der EU bei dieser Variante politischer Gewichtsverlust auf der internationalen Bühne droht und Europäer wohl nicht mehr so leicht in anderen EU-Staaten leben und arbeiten können, wird im Weißbuch ebenfalls herausgestrichen.
  • Verschiedene Geschwindigkeiten: Eine oder mehrere „Koalitionen der Willigen“ könnten in bestimmten Bereichen wie Verteidigung, innere Sicherheit oder Sozialpolitik voranschreiten. Als Problem sieht die Kommission hier die Entscheidungsfindung, die „auf verschiedenen Ebenen“ stattfinden würde. Dies könnte Europa noch intransparenter und unverständlicher machen, so die Befürchtung. Außerdem würden die EU-Bürger unterschiedliche Rechte genießen, je nachdem, welcher Gruppe ihr Heimatland angehört.
  • Weniger ist mehr: Die EU würde sich auf weniger Felder konzentrieren, wo sie allerdings einen deutlich erkennbaren Mehrwert bietet. Als Beispiele genannt werden die Förderung technologischer Innovationen, Sicherheit, Einwanderung, Grenzschutz und Verteidigung. Aus anderen Bereichen wiederum würde sich die EU zugunsten der Mitgliedsländer zurückziehen. Hier werden beispielhaft Gesundheit, Beschäftigung, Regionalförderung und Sozialpolitik genannt. Bei den verbliebenen Bereichen könnte die EU schneller handeln, so die Hoffnung der Kommission.
  • Vertiefte EU: Mitgliedstaaten und EU verständigen sich darauf, „auf allen Ebenen mehr Macht, Ressourcen und Entscheidungsfindung zu teilen“. Zentrales Projekt wäre die Währungsunion: „Die Eurozone wird mit dem klaren Verständnis gestärkt, dass, was für die Länder der gemeinsamen Währung vorteilhaft ist, für alle vorteilhaft ist.“ EU-Recht würde eine noch größere Rolle für die Bürger bekommen, als es ohnehin schon einnimmt. Die Kommission warnte, dies könne „Teile der Gesellschaft verstimmen.

Das Ziel: Eine ehrliche Debatte

Mit diesen fünf verschiedenen Szenarien will Juncker eine „ehrliche und umfassende Debatte“ auslösen, die – so die Hoffnung – bis zu den Europawahlen 2019 Ergebnisse der verbleibenden 27 EU-Staaten zeigt. Die Behörde will die Länder dazu drängen, diese schwierige Debatte anhand der konkreten Vorschläge zu führen. Statt Vorgaben sei Zuhören angebracht, sagt der Kommissionschef bei der Vorstellung seines Weißbuchs im Europaparlament.

Die Form folgt der Funktion.

EU-Kommission, über ihr künftiges Aussehen

Das Papier bringt ein Dilemma zum Ausdruck, mit dem die EU-Kommission schon lange ringt. Einerseits soll sie über die Einhaltung europäischen Rechts wachen und konkrete Vorschläge machen. Andererseits ist Juncker und seiner Mannschaft wohl bewusst, dass das Siegel „von Brüssel empfohlen“ die Erfolgschancen politischer Projekte auch schmälern kann. Dass einige der skizzierten Visionen auf die Dauer haarige Änderungen der EU-Verträge erfordern dürften, spielte auch keine große Rolle. „Die Form folgt der Funktion“, heißt es dazu aus der Brüsseler Behörde. Soll heißen: Die genaue Route kann man immer noch ausarbeiten, wenn erstmal das Ziel feststeht.

Europa ist mehr als Macht, Waren und Geld.

Jean-Claude Juncker

Doch der altgediente Europäer Juncker bezog vor den Abgeordneten auch Stellung. „Ich bin strikt dagegen“, sagte er zu jenem Szenario, bei dem die EU wieder zusammenschrumpfen würde auf den gemeinsamen Binnenmarkt mit minimalem politischem Überbau. „Die Europäische Union ist mehr als eine mehr oder weniger gehobene Freihandelszone. Europa ist mehr als Macht, Waren und Geld.“

Reaktionen auf Juncker

Der Wunsch nach einer intensiven Diskussion über die Zukunft Europas erfüllte sich für Juncker schneller als gedacht.

Das sachte Vortasten der EU empfanden manche Kritiker als Feigheit. „Mit ihrem Weißbuch traut sich die Europäische Kommission nicht zu, für einen klaren Weg nach vorne zu werben“, bemängelte der Grüne Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer. „Dieser Entscheidungsprozess (der Staaten) wird bittere Kämpfe bringen.“ Angelika Niebler, Chefin der CSU im Europaparlament, meinte: „Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um das Fass ‚Reformdiskussion EU‘ aufzumachen.“ Die großen Probleme derzeit seien andere: Bekämpfung des Terrorismus, Sicherung der EU-Außengrenzen und eine langfristige Stabilisierung des Euro-Zone.

Die Bürger wollen kein Europa, das sich in Kleinigkeiten einmischt, sondern ein starkes Europa in Fragen der Verteidigung, Außenpolitik und der Sicherheit.

Manfred Weber

Beifall spendete hingegen der Chef der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), der das so genannte Weißbuch als „ein gutes Bild der möglichen Szenarien“ und als „gute Grundlage für Diskussionen“ im Europaparlament und mit den Staats- und Regierungschefs sieht. Diese sollten ihre Verantwortung wahrnehmen und klarstellen, „welche Art Europa sie wollen“, sagte er. Es sei an der Zeit, „die ständige Kritik der EU zu beenden“. Vielmehr müsse nun konkret über die Zukunft des Kontinents gesprochen und Entscheidungen getroffen werden. „Europa braucht keine neuen Institutionen, keine neuen Finanztöpfe und keine neuen Kompetenzen“, erklärte dazu der CSU-Europapolitiker Markus Ferber im ZDF. Der EU fehle es vor allem „am Willen der Mitgliedstaaten, das Verabredete umzusetzen und am Willen der Kommission, das zu kontrollieren und zu sanktionieren“. Die Bürger wollten kein Europa, das sich in Kleinigkeiten einmischt, sondern „ein starkes Europa in Fragen der Verteidigung, Außenpolitik und der Sicherheit“.

Konzentrische Kreise

Wo Junckers Präferenz liegt, ließ er bereits in der vergangenen Woche anklingen: Für ihn sei ein Europa der „konzentrischen Kreise“ denkbar, bei dem nicht alle Länder gleich eng zusammenarbeiten. Die Idee einer EU mit verschiedenen Integrationsstufen ist nicht neu, sie kursiert seit Jahrzehnten. Zuletzt warb Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür. In einigen Politikbereichen ist das bereits Realität – zum Beispiel bei der Gemeinschaftswährung Euro.

Wir machen weiter. Wir müssen weitermachen.

Jean-Claude Juncker

An der Diskussion soll auch eine breite Öffentlichkeit beteiligt werden – in Brüssel stellt man sich vor, dass die künftige Gestaltung der EU zum zentralen Thema der Wahlen zum Europaparlament werden kann. Ob der Wunsch nach breiter Debatte realistisch ist, bleibt abzuwarten: Im letzten Wahljahr 2014 beteiligten sich nur 42,54 Prozent der Stimmberechtigten, ein historischer Tiefstand. Ende März kommen die EU-Spitzen zum 60. Jahrestag der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Rom zusammen. Juncker jedenfalls gibt sich unermüdlich. „Der Brexit, so bedauerlich und schmerzhaft er auch sein mag, wird die Europäische Union auf ihrem Marsch in die Zukunft nicht stoppen können. Wir machen weiter.“ Und fügte hinzu: „Wir müssen weitermachen.“