Die türkische Regierung plakatiert "Hakimiyet Milletindir", übersetzt etwa "Herrschaft des Volkes". (Bild: Imago/Chromorange)
Erdogan

Die türkische Demokratie schafft sich ab

Der Weg der Türkei führt ungebremst in die Diktatur des Recep Erdogan. Kritiker werden mundtot gemacht: Nach unzähligen anderen Journalisten wurde jetzt auch der erste deutsche Reporter verhaftet. Und Erdogan will bei Auslandstürken für seine "Präsidialverfassung" genannte Alleinherrschaft werben – vermutlich in Deutschland.

„Hakimiyet Milletindir“ steht in riesigen, weiß auf roten Lettern auf vielen Plakaten in der Türkei – übersetzt in etwa „Das Volk herrscht“. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, denn nur der Autokrat Recep Erdogan und seine islamistisch-nationalistische Partei AKP haben im Land das Sagen. Um seine Macht noch auszubauen, will Erdogan eine Präsidialverfassung einführen, die das Parlament weiter schwächt, wenn nicht sogar fast vollständig entmachtet. Dafür will er nun den offiziellen Segen des Volkes, das offenbar auch mehrheitlich zustimmen will und nicht begreift, wohin Erdogans Weg führt. Am 16. April soll in einem Referendum darüber abgestimmt werden.

Auch Erdogan will in Europa für seine Diktatur werben

Nach dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim will darum nun auch Erdogan selbst in der EU auftreten, um für die geplante Verfassungsreform zu werben. „Unser Staatspräsident beabsichtigt ebenfalls, zu den türkischen Bürgern in Europa zu sprechen“, sagte Yildirim bei der Sicherheitskonferenz in München. In welcher Stadt sei noch nicht klar. „Aber es laufen Vorbereitungen.“

Repression in ungekanntem Ausmaß.

Reporter ohne Grenzen, über die Türkei

Da in Deutschland mit 2,9 Millionen die größte türkische Gruppe außerhalb der Türkei zu finden ist, die zudem bei den 1,4 Millionen in der Türkei Wahlberechtigten zu rund 60 Prozent AKP-Wähler sind, dürfte es also auf eine deutsche Stadt herauslaufen, in der der Diktator auftreten will. Yildirim hatte am Wochenende vor mehr als 10.000 jubelnden Türken in Oberhausen für die Verfassungsreform geworben. Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat bereits angekündigt, einen ähnlichen Wahlkampfauftritt Erdogans verhindern zu wollen.

Jeder Kritiker kann als „Terrorist“ verhaftet werden

Dabei hat Erdogan schon fast die gesamte Türkei in seinen Händen. Bildungswesen, Justiz, Polizei und Militär hat er gesäubert und mit eigenen Anhängern besetzt. Die Medien sind längst gleichgeschaltet, auf die wenigen verbliebenen Zeitungen und Sender wird unerhörter Druck ausgeübt. Jede Kritik an den Herrschenden kann umgehend eine Verhaftung wegen „Unterstützung von Terrorgruppen“ oder ähnlichen konstruierten Vorwürfen nach sich ziehen. Unter dem nach dem angeblichen Putschversuch im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand sprechen Medienrechtsorganisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ von einer „Repression in ungekanntem Ausmaß“. Der Notstand erlaubt es der Regierung unter anderem, Zeitungen und Zeitschriften zu verbieten, falls diese „die nationale Sicherheit bedrohen“ – ein sehr auslegungsfähiger Gummiparagraph. Nach Angaben der unabhängigen Journalistenplattform „P24“ sind nach dem gescheiterten Putsch mehr als 170 Medien und Verlage durch Notstandsdekrete geschlossen worden. Scharfe Internetgesetze ermöglichen zudem schon seit langem das Blockieren kritischer Webseiten.

Nicht ich, sondern Staatspräsident Erdogan müsste wegen Komplizenschaft mit Gülen angeklagt werden.

Ahmet Sik, verhafteter Journalist und Gülen-Kritiker

Alleine zehn Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet sitzen wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft, darunter der bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik. Er gehörte schon zu den schärfsten Kritikern der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch im Juli 2015 verantwortlich macht, als diese noch enger Verbündeter des türkischen Autokraten war. Für sein Buch „Die Armee des Imam“ über die Unterwanderung der Polizei durch Gülen wurde er 2011 sogar ein Jahr eingesperrt. Nun wird ausgerechnet Sik Terrorpropaganda vorgeworfen – unter anderem für die Gülen-Bewegung. In seiner Verteidigung vor Gericht meinte er, nicht er, sondern Staatspräsident Erdogan müsse wegen Komplizenschaft mit Gülen angeklagt werden. Die Gülen-Bewegung bezeichnete er als „sakralisierte Mafiaorganisation“ und bestritt, jemals irgendwelchen legalen oder illegalen Organisationen angehört zu haben. Bitter und stolz sein Fazit: „Ich habe es durch meine journalistische Arbeit geschafft, der Buhmann jeder einzelnen politischen Periode zu sein. Für mich ist das eine Ehrenauszeichnung.“

Pressefreiheit gibt es nicht mehr

Die Angaben über die Gesamtzahl der Journalisten in türkischen Gefängnissen variieren zwischen mehr als 140 (P24) und mehr als 80 (Komitee zum Schutz von Journalisten/CPJ). Die türkische Regierung spricht von lediglich 30 Journalisten in Haft. Nach Aussage der Regierung wurden die Betroffenen aber nicht wegen ihrer journalistischen Arbeit eingesperrt, sondern weil sie sich „strafbar“ gemacht haben. Durch die Medienschließungen wurden Tausende Journalisten arbeitslos, hunderte amtliche Presseausweise annulliert. Außerdem wurden die Reisepässe einer unbestimmten Anzahl Journalisten für ungültig erklärt, die somit das Land nicht verlassen dürfen.

Er hat (…) über einen Hackerangriff auf den türkischen Energieminister Albayrak recherchiert. Das ist kein Verbrechen, sondern seine Arbeit.

Cornelia Haß, dju, über den verhafteten Journalisten Yücel

Auch der Druck auf ausländische Journalisten nimmt zu. Im Dezember wurde ein amerikanischer Korrespondent der US-Zeitung Wall Street Journal vorübergehend festgenommen. Er verließ nach seiner Freilassung freiwillig das Land. Jetzt hat es den (nicht unumstrittenen) Welt-Korrespondenten Deniz Yücel erwischt, der unter anderem über die Eingriffe der AKP in die Lehrpläne berichtet hatte. Nach Angaben der Welt stellte sich Yücel am letzten Dienstag der Polizei in Istanbul, wo er in „Gewahrsam“ kam. Im derzeit geltenden Ausnahmezustand kann ein Verdächtiger bis zu 14 Tage in „Polizeigewahrsam“ gehalten werden. Dann muss ein Haftrichter entscheiden, ob der Verdächtige in Untersuchungshaft kommt. Yücels Anwälten wurde gesagt, dass gegen ihn wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Datenmissbrauchs ermittelt werde. Der 43-Jährige besitzt die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft. Für die Türkei ist er damit kein ausländischer Journalist. Die Journalistengewerkschaft dju verlangte die Freilassung Yücels. „Er hat (…) über einen Hackerangriff auf den türkischen Energieminister Albayrak recherchiert“, sagte dju-Bundesgeschäftsführerin Cornelia Haß. „Das ist kein Verbrechen, sondern seine Arbeit.“

AKP will Deutungshoheit auch in sozialen Medien

Das Besondere an dem Fall: Energieminister Berat Albayrak ist der Schwiegersohn von Erdogan. Yücel hatte über die von einer Hacker-Gruppe namens „Redhack“ verbreiteten Mails des Ministers zwei Artikel verfasst. Dabei  ging es unter anderem um den Versuch der AKP-Regierung, „die Deutungshoheit in den sozialen Medien zu erringen“. Yücel hat sich nicht einmal selbst die Mails verschafft, er berief sich einmal auf regierungskritische türkische Medien, dann auf Wikileaks, die jeweils die Mails veröffentlich hatten.

Präsident Erdogan versucht, den Ausnahmezustand zu missbrauchen, um unliebsame Berichterstattung unmöglich zu machen.

DJV

Redhack gilt in der Türkei als Terrororganisation. Die regierungstreue Zeitung Sabah hatte bereits am 25. Dezember berichtet, dass die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Redhack die Festnahme von neun Verdächtigen angeordnet habe, darunter Yücel. In dem Artikel wurden acht der Verdächtigen namentlich genannt, die meisten davon sind Journalisten. Den Verdächtigen wurde nach Angaben von Sabah Mitgliedschaft in einer Terrororganisation sowie illegale Weiterverbreitung persönlicher Daten vorgeworfen. Nach Ansicht des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) zeigt der Fall, „dass Präsident Erdogan versucht, den Ausnahmezustand zu missbrauchen, um unliebsame Berichterstattung unmöglich zu machen“. Auch Reporter ohne Grenzen (ROG) sprach von einer neuen Stufe der Entwicklung.

„Free Deniz“

Mit einem Autokorso durch Berlin hat sich nun eine Initiative für Yücel eingesetzt, an der sich etwa 200 Personen beteiligten. Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangte von der Türkei, im Ermittlungsverfahren rechtsstaatliche Regeln einzuhalten. Bei einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim am Samstag am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz habe Merkel den Fall ausführlich angesprochen, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit.

Experten sagten schon vor dem Ausnahmezustand, dass ein Großteil der Medien Erdogan und der islamisch-konservativen AKP-Regierung nahe stünden oder von der Regierung kontrolliert würden. Kritischere Medien dagegen zensierten sich aus Angst vor Repressionen oft selbst. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putsch nur auf Platz 151 von 180 Staaten. Bei Erdogans Amtsantritt 2002 lag sie noch auf Platz 99.