Die EU-Kommission übte in ihrem Bericht so scharfe Kritik wie nie zuvor an der Menschenrechtssituation und dem Vorgehen der streng islamischen Regierung in Ankara gegen Oppositionelle und Medien. Gravierende Defizite gebe es zudem in den Bereichen Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit, „massive Rückschritte“ bei der Entwicklung und Unabhängigkeit des Justizsystems. „Richter und Staatsanwälte wurden weiterhin von ihren Arbeitsplätzen entfernt und in manchen Fällen sogar eingesperrt, weil man ihnen eine Zusammenarbeit mit der Gülen-Bewegung vorwarf“, so steht es in dem Papier. Konkret forderte Brüssel die türkische Regierung auf, sich nicht mehr in die Angelegenheiten des Verfassungsgerichts einzumischen. Es sei wichtig, ein „politisches und rechtliches Umfeld zu schaffen, das der Justiz erlaubt, ihren Pflichten in unabhängiger und unparteiischer Weise nachzukommen“. Außerdem forderte Brüssel die Einrichtung einer unabhängigen Antikorruptionsbehörde.
Zahlreiche schwere Verletzungen des Verbots von Folter und Misshandlung.
EU-Fortschrittsbericht zur Türkei
Als Beispiele für besorgniserregende Entwicklungen in der Türkei nannte der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn außerdem Einschränkungen der Meinungsfreiheit und die Festnahme von Politikern der Oppositionspartei HDP. Entsprechende Gesetze würden „selektiv“ und „willkürlich“ angewandt. Im Bericht ist sogar vom Verdacht „zahlreicher schwerer Verletzungen des Verbots von Folter und Misshandlung“ zu lesen. Kritisiert wurden auch die Schließung von Medien, die Verhaftung von Journalisten und die neuerliche Diskussion über eine Wiedereinführung der Todesstrafe.
Die Pressefreiheit existiert nicht mehr
Bereits am Dienstag hatten die EU-Staaten die Festnahme von Cumhuriyet-Journalisten und Politikern der Oppositionspartei HDP als „äußerst besorgniserregende Entwicklungen“ bezeichnet. Diese schwächten das Rechtsstaatsprinzip und beeinträchtigten die parlamentarische Demokratie, hieß es in einer Stellungnahme. In der Rangliste von „Reporter ohne Grenzen“ stürzte die Türkei von Platz 99 bei Erdogans Amtsantritt auf Platz 151 ab – und das noch vor dem „Putsch“.
Kein Abbruch der Beitrittsgespräche?
Eine Empfehlung der EU-Kommission, die Beitrittsgespräche mit der Türkei zu unterbrechen, wird es dennoch nicht geben. EU-Kommissar Hahn machte deutlich, dass die EU gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei angewiesen sei. Im halben Jahr vor dem Abschluss des Flüchtlingsabkommens mit Ankara kamen demnach noch rund 740.000 Migranten von der Türkei nach Griechenland. Im halben Jahr danach seien es lediglich 18.000 gewesen, so Hahn. Er forderte die Führung des Landes allerdings auf, selbst eine Richtungsentscheidung zu treffen. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei seien aus Brüsseler Sicht „zunehmend unvereinbar“ mit dem offiziellen Beitrittswunsch, sagte der Österreicher. „Es ist an der Zeit, dass uns Ankara sagt, was sie wirklich wollen.“
Es ist an der Zeit, dass uns Ankara sagt, was sie wirklich wollen.
Johannes Hahn, EU-Kommissar
Man sei bereit, den politischen Dialog „auf allen Ebenen und innerhalb des bestehenden Rahmens“ fortzuführen, heißt es in einer weiteren Stellungnahme der EU, die von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini in Brüssel veröffentlicht wurde. Die Situation werde allerdings weiter sehr aufmerksam verfolgt und bewertet werden. Mogherini bezeichnete die jüngsten Entwicklungen in der Türkei als „äußerst beunruhigend“ und warnte vor einer Gefährdung der parlamentarischen Demokratie. Auch laut EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker „entfernt sich die Türkei derzeit von den europäischen Werten“.
Achtet nicht auf das, was der Westen sagt, achtet auf das, was Allah sagt.
Recep Erdogan, Türkischer Staatspräsident
Zur Veröffentlichung des neuen Türkei-Berichts der EU hat der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan von Brüssel eine schnelle Entscheidung über die Beitrittsverhandlungen gefordert. „Ungeniert und ohne Scham sagen sie, die EU-Verhandlungen mit der Türkei müssen überprüft werden“, polterte Erdogan am Mittwoch in Istanbul. „Na los, überprüft sie so bald wie möglich. Überprüft sie schleunigst. Aber wenn ihr sie schon überprüft, zögert es nicht noch weiter hinaus, sondern fällt eure endgültige Entscheidung.“ Erdogan beschuldigte den Westen und insbesondere Deutschland erneut, „Terroristen“ zu unterstützen. Als Terroristen sieht er vor allem Anhänger der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK an. Was für Erdogan zählt, ist ohnehin schon lange klar. „Mir ist es egal, ob sie mich Diktator nennen“, sagte der Staatspräsident bei einer Kundgebung am Dienstag in Ankara. „Achtet nicht auf das, was der Westen sagt, achtet auf das, was Allah sagt.“
Neue Strafanzeigen gegen die Opposition
Der türkische Autokrat geht auch weiter ungeniert gegen Regierungskritiker vor: Nach einer Veranstaltung der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP hat Erdogan laut der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu Strafanzeige gegen jeden CHP-Abgeordneten, darunter Parteichef Kemal Kilicdaroglu, erstattet. Nach regierungskritischen Äußerungen bei der Versammlung hatte der Parteirat der CHP erklärt, die Regierung sei schuld am Putschversuch und greife nun die Grundwerte der modernen Türkei an. „Die jetzige politische Situation stellt eine ernste Bedrohung für die Freiheit unseres Volkes und die Zukunft unseres Landes dar“, so die Erklärung. Dabei hatte sich die CHP nach dem Putschversuch noch mit der türkischen Regierung solidarisiert, kam sogar zu einer AKP-Massenkundgebung. Erdogan zog daraufhin seine zahlreichen Strafanzeigen zurück, die er noch vor dem angeblichen „Putsch“ gegen Kilicdaroglu und viele andere CHP-Abgeordnete gestellt hatte.
Europaabgeordnete: Beitrittsgespräche einfrieren
Nach der Veröffentlichung des neuen Türkei-Berichts der EU-Kommission forderten zahlreiche Europaabgeordnete aus allen Parteien einen Stopp der Beitrittsverhandlungen. Der CSU-Politiker Markus Ferber warf Erdogan vor, den gescheiterten Putsch „in einer maßlosen Art und Weise für einen kompletten Umbau des Staates“ zu nutzen. „Mit diesem Land darf und kann die EU keine Gespräche über einen EU-Beitritt führen.“ Die Verhandlungen auf den aktuellen Stand einzufrieren, um sie dann irgendwann weiterzuführen, hält Ferber für nicht realistisch. Er erinnerte daran, dass Deutschland zuallererst darunter leiden würde, wenn Erdogan von seinem Kurs in Richtung Diktatur nicht abweicht. „Dann werden immer mehr Türken ihre Heimat verlassen, um bei uns in Deutschland Zuflucht zu suchen. Es droht uns eine Flüchtlingswelle aus der Türkei.“
Die Türkei steuert mit aller Macht auf eine Alleinherrschaft zu. Das Parlament ist nur noch schmückendes Beiwerk. Das ist wie aus dem Lehrbuch für den Weg von der Demokratie zur Diktatur. Was soll also noch passieren, dass die Kommission endlich handelt und die Gespräche stoppt?
Markus Ferber, CSU, MdEP
Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, hatte bereits vor einigen Tagen erklärt: „Solange die innenpolitische Lage unter den Notstandsgesetzen so verschärft ist und solange die Menschenrechtslage so angespannt ist, sollten wir die Beitrittsgespräche aussetzen.“ Die Türkei-Berichterstatterin der christdemokratischen EVP-Fraktion, Renate Sommer (CDU), kommentierte, die EU-Mitgliedstaaten fürchteten sich ganz offensichtlich aus Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle vor dem Einstellen der Beitrittsverhandlungen.
Singhammer: EU-Förderung einstellen
Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) forderte darüber hinaus finanzielle Konsequenzen für Ankara. Die EU müsse prüfen, ob sie weiter in geplanter Höhe der Türkei dafür Geld zahle, demokratische Strukturen zu stärken, sagte Singhammer der dpa. Die Summen für die sogenannte Heranführungshilfe an die EU beliefen sich für die Türkei von 2007 bis 2016 auf insgesamt rund 6,7 Milliarden Euro, davon mehr als 1,35 Milliarden Euro aus Deutschland.
Die EU-Kommission bewertete in ihren Bericht neben den Entwicklungen in der Türkei auch die Lage in den Balkanländern Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien.