Was noch nie vorgekommen ist: Die Bundesregierung legte dem Chef-Residenten der CIA (Central Intelligence Agency) in Deutschland unauffälligen Rückzug nahe. Untergeordnete Geheimdienstler hatten sich töricht verhalten und ihrer Neugier auf deutsche Geheimnisse im Freistil nachgegeben. Der Name allerdings ist bisher nur Insidern bekannt, ob es sich um den Führungsoffizier der ungetreuen deutschen Kleinagenten handelte, oder ob er überhaupt Bescheid wusste, bleibt weiter ungeklärt. Zugleich sorgte die Bundesregierung dafür, dass das stolze Ereignis dem Volk auf allen Kanälen bekannt wurde. Spionage gilt als das zweitälteste Gewerbe der Welt, Beispiele sind schon im Alten Testament an prominenter Stelle zu finden. Sentimentalitäten, unter Freunden gehöre sich derlei nicht, verfehlen die Realität, nicht nur im zwischenmenschlichen Alltag zwischen Traualtar und Scheidungsanwalt, sondern auch in der großen Politik. Es ist noch nicht so lange her, da schrieb im Wall Street Journal der ehemalige CIA Chef James Woolsey einen Artikel mit der Überschrift: „Ja, wir spionieren unsere Freunde aus.“ Es ginge dabei nicht um Technologien, sondern um Marketing und Korruption, die Unternehmen einsetzten, um sich Vorteile zu verschaffen. Mehrere Dax-Firmen gerieten damals in Bedrängnis. Sie mussten schwer büßen und das Geschäftsmodell ändern.
Jetzt, so ließ sich der ranghöchste Außenpolitiker der CDU/CSU im Deutschen Bundestag via Interview vernehmen, müssen die Amerikaner ordentlich arbeiten, um das deutsche Vertrauen wieder zu verdienen. Wenn derlei Weltfremdheit schon von der Union kommt, traditionell pro-atlantisch, wen wundern dann die offenen Ausbrüche des alten Hasses auf die Vereinigten Staaten von Amerika, die auf der Linken die Reaktion bestimmen und in den Medien eine breite Bühne finden?
Eine solche Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen muss man sich leisten können, speziell in bewegten Zeiten wie den gegenwärtigen, wo die Welt an mehreren Stellen zugleich brennt. Ernsthafte und kompetente Geheimdienstarbeit wird seit einigen Jahren, seitdem der arabische Frühling zum Sommer der Diktatoren und Kriegsherren wurde, mehr als sonst gebraucht, um halbwegs das Geschehen zu beobachten und Vorsorge zu treffen, statt immer nur den Krisen hinterherzulaufen. Der Kampf um das heilige Land geht gerade in eine neue Runde; im benachbarten Syrien herrscht Bürgerkrieg, und die Nachbarn von Iran bis zur Türkei, den Saudis, Gulfies und Jordanien werden hineingezogen. Das Zweistromland, wo die Bibel einmal den Garten Eden lokalisierte, zerfällt im religiösen Bürgerkrieg.
Es wird Zeit, die gegenwärtigen Irritationen wieder nach Maßgabe ihrer Wichtigkeit zu sehen
The time is out of joint – die Zeit ist aus den Fugen, sagte Hamlet, Prinz von Dänemark. Heute aber geht es um mehr als eheliche Zwistigkeiten am dänischen Hof. Im östlichen Mitteleuropa, keine zwei Flugstunden entfernt, ist mittlerweile Krieg von niedriger Intensität in Gang, der das Zeug zu Größerem hat, nämlich zu einer schweren Ost-West-Konfrontation. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer von Berlin und dem Zusammenbruch der Sowjetunion kündigt sich eine Zeitenwende an. Sie geht in Richtung eines neuen, ganz anderen Kalten Krieges, in dem nicht mehr Panzer und rollende Regimenter die wichtigste Machtwährung sind, sondern Technologie, Cyberspace und Finanzkraft. Die Sanktionen, auf die sich EU und USA, mühsam genug, einigten, sind hochgefährlich, weil nach oben offen, tief umstritten und nahezu steuerlos. Sie haben nicht nur das Zeug, Russland die dringend nötige Modernisierungspartnerschaft mit westlichen Lieferanten zu verweigern, sondern auch, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union, vor allem aber Deutschland gegeneinander aufzubringen. Wladimir Putin ist durchaus in der Lage, dieses Große Spiel groß zu spielen, und die jüngste Geheimdienstaffäre zwischen Washington und Berlin, wenn es so weitergeht wie in den letzten Wochen und Monaten, bietet einem KGB-Oberst a.D. schöne Vorlagen.
Es wird Zeit, die gegenwärtigen Irritationen wieder nach Maßgabe ihrer Wichtigkeit zu sehen. Sinn für Proportion und Gleichgewicht gehört zur Steuerung von Bündnissen. Unter Helmut Kohl hätte man die Sache unter den beiderseitigen Sicherheitsberatern diskret bereinigt, und man hätte sich gehütet, vom moralisch höheren Gelände aus Lehren zu erteilen. Auch hätte man in Bonn zuerst einmal festgestellt, dass die deutschen Dienste nicht fehlerlos arbeiteten, dass die Republik unterwandert war vom Osten und Zusammenarbeit dringend geboten im üblichen „give and take“. Zugleich hätte man daran gedacht, dass die Amerikaner für die Freiheit von West-Berlin und die Sicherheit der westdeutschen Bundesrepublik ihre nationale Existenz nuklear verpfändeten. Es gehörte daher zum nationalen Interesse nicht nur der USA, etwas mehr zu wissen als was in den Zeitungen steht, sondern auch der Bundesregierung. Das war Teil der Bündnisfähigkeit, ohne die die Bundesrepublik in den Machtschatten der Sowjetunion eingetaucht wäre. Darüber hat Helmut Kohl 1982, als die Nato-Zugehörigkeit Deutschlands auf dem Spiel stand, das gewichtige Wort gesagt: Bündnisfähigkeit ist Teil der deutschen Staatsräson. Das hat damals nicht nur die transatlantischen Bindungen wieder befestigt, die schwer strapaziert waren durch Massenproteste und den Zerfall der SPD angesichts der sowjetischen Raketendrohung. Es hat auch wenige Jahre später, als die Sowjetunion ein Opfer ihrer eigenen Widersprüche, ihrer Überdehnung und des Ölpreisverfalls wurde, die deutsche Einheit ermöglicht.
Was zählen dagegen mittlere Geheimdienstpannen?
Die Bundesrepublik Deutschland ist, wenn man es historisch betrachtet, zweimal gegründet worden, jedes Mal unter entscheidender Mithilfe der Vereinigten Staaten von Amerika. Das erste Mal 1948/49 durch den Marshall-Plan, die Schaffung der Bundesrepublik und die Einfügung des neuen Staates ins westliche Wirtschafts- und Sicherheitsgefüge – eingeschlossen die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das zweite Mal nach dem Fall der Mauer von Berlin, als die platonischen Bekenntnisse der meisten europäischen Verbündeten zur deutschen Einheit gewogen und zu leicht befunden wurden. Da waren es noch einmal die USA, die London, Paris und anderen Bedenkenträgern klarmachten, dass es zur deutschen Einheit ausschließlich katastrophale Alternativen gab. Was zählen dagegen mittlere Geheimdienstpannen?
Deutschland, nach einem bekannten Wort, ist zu groß für Europa und zu klein für die Welt. Die EU aber ist nicht krisenfest, schon gar nicht in der Weltpolitik. Sie wird noch Jahrzehnte brauchen, um ohne amerikanische Sicherheitsgarantien via Nato inneres und äußeres Gleichgewicht zu finden. Und kein Land, das ist die Lehre aus vielen Jahrzehnten, braucht den amerikanischen Verbündeten mehr als die Bundesrepublik Deutschland – um des Gleichgewichts willen, und damit sich keiner fürchtet.
Mit Bismarck zu schließen, der etwas wusste von den Risiken und Gefahren deutschen Auftrumpfens und den wilhelminischen Stil nicht schätzte: Der sagte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einmal, Deutschland solle sich nicht verhalten „wie der Mann, der, plötzlich zu Gelde gekommen, auf die Taler in seiner Tasche pocht und jedermann anrempelt“. Das gilt auch für den Umgang mit Geheimdiensten.