Die Aufteilung Europas
Der 8. Mai 1945, die drohende Übermacht Russlands und ein nukleares Wunder: Noch bevor die Waffen schwiegen, war der Kampf um die Erbfolge des Deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent schon in Gang.
Kriegsende 1945

Die Aufteilung Europas

Gastbeitrag Der 8. Mai 1945, die drohende Übermacht Russlands und ein nukleares Wunder: Noch bevor die Waffen schwiegen, war der Kampf um die Erbfolge des Deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent schon in Gang.

Die Natur erlaubt kein Vakuum, und die Geschichte kennt keine Stunde null – nicht einmal vor 70 Jahren, als der Zweite Weltkrieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zuerst in Reims zuhanden der Westalliierten und dann, einen Tag später, in Karlshorst zuhanden der Roten Armee endete. In Asien folgte ein paar Monate später eine ähnliche Zeremonie auf dem Schlachtschiff „USS Missouri“.

Die deutsche Niederlage war durch Panzer und Bomber erfolgt, die japanische durch Schlachtschiffe, Marineflieger und, zuletzt und vor allem, den Einsatz der nuklearen Waffe gegen zwei der wenigen noch intakten japanischen Rüstungszentren. Der Wehrmacht wie den Flotten des kaiserlichen Japan war der Rücken gebrochen – allerdings auf sehr verschiedene Weise und mit sehr unterschiedlichen politischen Folgen. Und noch bevor die Waffen schwiegen, war der Kampf um die Erbfolge des Deutschen Reiches auf dem europäischen Kontinent ebenso in Gang wie das Ringen um das Erbe der „Großjapanischen Prosperitätszone“ – von den westlichen Stränden des Pazifik bis ins Innere der chinesischen Landmasse. Die Sowjetunion, die in den asiatischen Krieg zuvor wenig investiert hatte, besetzte die Süd-Kurilen, die Russland bis heute nicht herausgibt, aus strategischen wie aus wirtschaftlichen Motiven.

Stalin in Potsdam: „Zar Alexander kam bis Paris“

Stunde Null, Ende der Geschichte und ordentlicher Neubeginn? Es gab für Deutschland nicht viel mehr als die Übereinkunft, dass keiner der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition einen Sonderfrieden mit dem „Dritten Reich“ schließen würde. Dazu kam eine Landkarte mit Datum des 12. September 1944, die das weiland Deutsche Reich in den Verwaltungsgrenzen von 1937 zeigte, allerdings in vier Zonen geteilt: im Nordwesten die Briten, im Westen bis zur Elbe und Werra die Amerikaner, und im Südwesten die Franzosen. Der russische Erbteil war auffallend groß: Den Kundigen verriet er, dass fortan östlich der Oder und der Neiße Polen sein sollte, die deutsche Bevölkerung vertrieben oder vernichtet, das neue Polen gen Westen verschoben, die Sowjetunion wieder, wie 1918, bis zur Curzon-Linie vorgeschoben.

Merkwürdig, ja verräterisch war die Lage von Groß-Berlin: Die Westmächte trauten Stalin nicht, und dieser traute dem Westen nicht. Berlin war eine in vier Sektoren geteilte Enklave in einem sowjetisch beherrschten Aufmarschgebiet der Roten Armee. Der Westen unter Führung der Amerikaner hatte genug Vertrauen zu dem unheimlichen Kriegsalliierten im Osten, um sich auf diese Insellage Berlins einzulassen, aber nicht genug, um Stalin den Trümmerhaufen, der einst die Reichshauptstadt gewesen war, ungeteilt zu überlassen. Stalin sah die seltsame Grenzmarkierung als Einladung für Erpressungen aller Art, als Falle für den Westen, Anzahlung auf Rest- und Westdeutschland und jedenfalls nur als vorläufig. Als er im Juli 1945 in Potsdam eintraf, um seinen Teil der europäischen Beute zu sichern, begrüßte ihn US-Botschafter Averell Harriman in Schloss Cecilienhof mit den Worten, er müsse doch stolz sein, in der Hauptstadt des Feindes als Sieger zu stehen. Stalins Antwort, nach kurzer Pause: „Zar Alexander kam bis Paris“. Zur selben Zeit nahm US-Präsident Harry S. Truman auf der Berliner AVUS eine Panzerparade ab und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass der amerikanische Anspruch, bei der Neuordnung der europäischen Mitte beteiligt zu sein, durch militärische Macht unterlegt war.

Er wusste auch, was Stalin immerhin ahnte, dass die nukleare Waffe für militärische Machtprojektion revolutionäre neue Möglichkeiten bot. Als Truman in jenen Entscheidungstagen in Potsdam Stalin mitteilte, amerikanische Wissenschaftler hätten eine nukleare Bombe getestet, gab sich Stalin unbeeindruckt: „Glückwunsch, das eröffnet der Artillerie neue Möglichkeiten“. Ob Stalin ahnte, dass die nukleare Waffe die Architektur der Nachkriegszeit entscheidend bestimmen würde? Alles spricht dafür, nicht nur die Anstrengungen, durch Spionage und eigene Forschung und Entwicklung, eingeschlossen durch deutsche Beutewissenschaftler, in den Besitz des nuklearen Geheimnisses zu kommen, sondern auch die Vorsicht, mit der fortan Stalin trotz aller Versuchungen der militärischen Expansion, von Berlin bis Korea, Abstand vom Ernstfall hielt.

Winston Churchill: „Was wird zwischen den weißen Schneewüsten Russlands und den weißen Klippen von Dover zu liegen kommen?“

Der Westen hätte vielfach gewarnt sein können. Hatte der Zweite Weltkrieg nicht begonnen, als Großbritannien und Frankreich Hitler-Deutschland militärisch-diplomatisch durch Abschreckung vom Angriff auf Polen abzuhalten suchten und an Russland scheiterten? Und hatte nicht Stalin durch den Nichtsangriffspakt des 23. August 1939 und Beteiligung an der polnischen und baltischen Beute Hitler erst die Vernichtung Polens gestattet, ohne dass der deutsche Kriegsherr den Zweifrontenkrieg fürchten musste? Stalin war alles zuzutrauen, auch die Haltebefehle an die Rote Armee, als die polnische Heimatarmee im Sommer 1944 in Warschau gegen Wehrmacht und SS aufstand: In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde Stalin, wie 1939, noch einmal Komplize der polnischen Katastrophe. Damals berichteten der britische Geschäftsträger Sir Frank Roberts ebenso wie der amerikanische Gesandte George F. Kennan aus Moskau, trotz aller Bitten und Forderungen dürften die anglo-amerikanischen Flugzeuge mit Kriegsmaterial für die aufständischen Polen im sowjetischen Machtbereich nicht auftanken – was die Wirksamkeit der Flüge aus Bari/Italien deutlich schwächte.

Der britische Kriegspremier Sir Winston Churchill, zu keiner Zeit ein „Uncle Joe“-Versteher, anders als US-Präsident Franklin D. Roosevelt, sah hilflos und ratlos die düsteren Konsequenzen. So stellte er in den Tagen nach der Kriegskonferenz von Jalta, Februar 1945, im vertrauten Kreis die Frage: „What will lie between the white snows of Russia and he white cliffs of Dover?“ Was wird zwischen den weißen Schneewüsten Russlands und den weißen Klippen von Dover zu liegen kommen?“. Es war die alte Deutsche Frage, die Churchill meinte, Gleichgewicht und Hegemonie, und hinter allem die drohende Übermacht Russlands im Vormarsch zum Atlantik. „Viele Menschen tragen mit sich eine unausgesprochene Angst“. Der geschichtskundige Premier erinnerte an Dschingis Khan und den Vormarsch der Mongolen aus den Tiefen der asiatischen Steppe. Vielleicht, so mutmaßte er, wollen die Russen gar nicht bis zum Atlantik marschieren, oder irgendetwas werde sie vorher aufhalten, wie der Tod Dschingis Khans die Mongolen zurückreiten ließ.

Churchill nach Jalta. Da sprach kein Sieger, sondern ein tragischer Held, der erkennen musste, dass das Empire verloren war und dass Stalins Armeen, seine Geheimdienste und seine Propagandisten die künftige europäische Ordnung bestimmen würden, wenn nicht ein Wunder geschah. Das Wunder aber war nuklear.

Der Kalte Krieg als Waffenstillstand im Schatten nuklearer Waffen

Churchills welthistorisches Verdienst war es, die Vereinigten Staaten 1940/41 für eine „Europe First“-Strategie zu gewinnen. Zu den Folgen gehörte dass sich die USA auf viele Jahrzehnte, Weltkrieg und Kalter Krieg, als „europäische Macht“ definierten, wie es Richard Holbrooke bald nach der Zeitenwende von 1990 beschwörend und insistierend noch einmal anmahnte. Holbrooke war damals im State Department für Europa und die transatlantischen Beziehungen zuständig. Er kannte Amerika und ahnte, dass irgendwann die Wendung zum Pazifik anstand, der „pivot“. Diese strategische Wende kündigte Präsident Obama zur selben Zeit an, als Putins Russland begann, die osteuropäischen Landkarten durch Hybridkrieg, Öl, Gas und Geld umzuzeichnen.

Die Ordnung von 1945 war kein Staatskunstwerk, sondern Kampf um die Erbfolge des Deutschen Reiches, Deutschland Konfliktgrund und Hauptgewinn. Noch bevor der Zweite Weltkrieg zu Ende war, entwickelte sich der Kalte Krieg als Waffenstillstand im Schatten nuklearer Waffen, welche die USA hatten und die Sowjetunion nicht. So, und nur so, waren Ungleichgewicht der Macht und Asymmetrie der strategischen Potenziale zu stabilisieren und zu sichern.

Das ist vorbei. Was 1990 geschah, Einsturz der Sowjetunion, Wiederkehr älterer europäischer Staatengeschichte und die Wendung der Vereinigten Staaten nach Innen und zum Pazifik, zwingt beide, Amerikaner und Europäer, in eine neue atlantische Allianz. Die Alternative? Sie wäre von Russlands Gnaden und würde bedeuten, die Niederlage den Klauen des Sieges zu entwinden.