Otto von Bismarck

Staatsmann der Sorge

Gastbeitrag Otto von Bismarck: Vergeblicher Mahner für das europäische Gleichgewicht.

Otto von Bismarck: Nach ihm heißt eine ganze Epoche deutscher Geschichte, und dies aus guten Gründen. Er war ein Staatsmann zwischen den europäischen Katastrophen, ein konservativer Revolutionär im Maß von Palmerston, Thiers, Cavour, Abraham Lincoln; in einem Wort einer jener welthistorischen Täter, ohne deren Dazwischentreten, wie sein Zeitgenosse Jacob Burckhardt, der Historiker, bemerkte, wir uns nicht denken können.

Bismarck wurde geboren im Jahr des Wiener Kongresses vor 200 Jahren, und er starb nach einem weltbewegenden Leben 1898, als schon die Schatten des Großen Krieges sich auf Europas Belle Epoque legten. Als preußisch-deutscher Nationalheld war er stets umstritten, nicht nur bei Katholiken, Sozialisten und Süddeutschen, sondern auch bei seinen adeligen staatsfrommen Standesgenossen. Eine Gestalt von geschichtlicher Größe, war er Staatsmann des Gleichgewichts und der Konferenzdiplomatie, zeitlebens dem heroischen Pessimismus verfallen und doch, wenn es nottat, von krachender Tatkraft. In der deutschen Geschichte hat er, außer ­Konrad Adenauer, nicht seinesgleichen.

Krise, Entscheidung und Extrem: Bismarck dachte nicht nur in solchen Begriffen, er handelte auch danach. Heute würde man vom „worst case“ sprechen, an dem Bismarck zeitlebens Ziele und Mittel der Politik entwickelte. Er konnte in Untergängen denken. Nach 1871 ließ er sich bei einem opulenten Dinner vernehmen: „Ich träume weiter, was ich wachend denke. Neulich sah ich die Karte von Deutschland vor mir. Darauf erschien ein fauler Fleck nach dem anderen, und blätterte sich ab.“ Ein Jahrzehnt später, als schon die Schatten länger wurden: „Dies Volk kann nicht reiten. Die was haben, arbeiten nicht. Nur die Hungrigen sind fleißig, und die werden uns fressen.“

„Die Geschichte können wir nicht machen. Wir können nur warten, dass sie sich vollzieht.“

Er inszenierte sich als standesstolzer Junker und erwähnte gern, dass die Bismarcks sehr viel länger in der Altmark begütert waren als die hohenzollernschen Burggrafen von Nürnberg, erst 1416 vom Wiener Kaiser belehnt mit der Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches. Allein die Gottesfurcht bringe ihn dazu, vor den Spätankömmlingen – er vermied das Wort nouveau riche – das Haupt zu neigen. Aber ein Besucher hat einmal das Wort notiert, er sei in allem, außer im Namen, Kaiser von Deutschland.

Manche sind mit einem silbernen Löffel im Mund geboren, nicht Bismarck. Er kam vom bescheidenen, in den langen Kriegen notleidenden Gutshof seiner Väter, und das hat ihn äußerlich geprägt. Sein Vater, so sagte er gern, sei noch Fähnrich unter Friedrich dem Großen gewesen. Aber sein scharfer Verstand, seine literarische Begabung, seine nervenaufreibende Sensibilität dürften auf die Mutter zurückgegangen sein, eine bürgerlich geborene Menken, deren Vater zu den preußischen Reformern der Stein-Hardenbergschen Staatserneuerer gehörte. Mit Schule, Jura-Studium in Göttingen und pflichtgemäßem Militärdienst nahm er es leicht, nicht anders als mit der Tätigkeit in der Staatsverwaltung, die ihm wie von selbst qua Familie zugefallen war. Er fühlte sich gelangweilt und, mehr als das, er sah den Sinn seines Lebens verfehlt, wenn er wie ein Musiker im Orchester Musik nach fremden Noten spielen sollte. Der junge Bismarck wollte Musik machen, wie er sie schätzte, oder keine.

Die Versuchung war ihm in jungen Jahren nicht fremd, ein preußischer Cromwell zu sein, die Welle großer historischer Bewegungen abzureiten und Geschichte zu machen – auch wenn er sich selbst einmal in gespielter Demut kommentierte mit dem Satz: „Die Geschichte können wir nicht machen. Wir können nur warten, dass sie sich vollzieht.“ Das war im übrigen ein Wort zwischen dem preußischen Krieg gegen Österreich und dem deutschen Krieg gegen Frankreich – beides dramatische Ereignisse, die ohne Bismarck nicht stattgefunden hätten, oder jedenfalls in gänzlich anderer Form.

Man muss solche Worte nicht auf die Goldwaage legen. Sie gehören zum diplomatischen Finassieren. Wie er auch den Gedanken von sich wies, jemals anders als auf Sicht Politik betrieben zu haben. 1864, noch einmal Bismarck über sich selbst und die Politik: „Das lernt sich in diesem Gewerbe wohl, dass man so klug sein mag wie die Klugen dieser Welt, und doch von einer Minute in die andere geht wie ein Kind ins Dunkle.“ Der Zweifel an jedem Grand Design ist unüberhörbar. Aber dem Staatsmann kann solcher Zweifel dazu dienen, dem großen, alles umstürzenden Entwurf in die Wirklichkeit zu verhelfen. Dass Bismarck ein Mann der strategischen Improvisation war, ist ebenso abwegig wie die Annahme, er habe durch alle Zeiten, Brüche und Umbrüche immer nur eine bestimmte Idee verfolgt.

Zeit seines Lebens war Bismarck ein Mann der Widersprüche. Dem erzkonservativen Junker, der erst als Nachrücker in den Vereinigten Landtag von 1847 gelangte und den „Nationalschwindel“ bekämpfte, folgte der weiße Revolutionär, der beim populären Kaisertum Napoleons III. ein paar Lektionen nahm und das Wiener System in seinen Grundfesten ins Wanken brachte. Diesem wiederum folgte der Mann des europäischen Gleichgewichts, ein später Schüler des Wiener Kongresses – was niemanden stärker faszinieren sollte­ als Henry Kissinger, der immer von einer Bismarck Biographie träumte – der nach allen Umbrüchen seiner Epoche die Deutschen warnte und mahnte: „Wir sind, was der alte Fürst Metternich nannte, eine saturierte Macht.“ Aber der „Eiserne Kanzler“, der so eisern nicht war, mahnte vergeblich.

Bismarcks politische Lehrzeit war die soziale und politische Revolution von 1848/49. Abgeordneter geworden, reiste er auf der Eisenbahn zwischen Frankfurt an der Oder und Magdeburg hin und her, um die Generalität zum Aufstand gegen den Monarchen zu bewegen, der vor den Märzgefallenen in Berlin das Haupt entblößte und über Verfassung mit sich reden ließ. Zwar rasselten die Offiziere im Potsdamer Stadtschloß, als der Monarch sich erklären wollte, mit den Säbelscheiden, um Unmut zu bekunden. Aber dabei blieb es auch, und Bismarck beließ es bei Reden, Parteipolitik und medialem Massenmarkt.

Gegen Frankreich entgleiste die Staatskunst

Aber er begriff auch die Chance, den Kampf gegen die Revolution für sich zu nutzen. Als die Frankfurter Paulskirche im Scheitern war, kam es zum Aufstand in Schleswig Holstein, preußischer Intervention und Mobilisierung der Briten und Russen, um Preußens norddeutsche Einigungspolitik zu blockieren. Es drohte Krieg, und die Regierung in Berlin geriet in Bedrängnis. Da war es der junge Abgeordnete, der in einer großen Rede für Frieden und Verzicht die Regierung herauspaukte und sich damit für den wichtigsten Posten der preußischen Diplomatie empfahl, Gesandter am Deutschen Bundestag in Frankfurt. Von dort beobachtete er das halb demokratische, halb autoritäre Regime Napoleons III. und ließ sich faszinieren. So und nicht anders musste man Massenmarkt und Monarchie verbinden. Der Verfassungskonflikt um Staatshaushalt und Armeereform ebnete ihm den Weg zur Macht.

Die deutsche Einigungspolitik folgte seinem berühmten Satz von 1862: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848/49 gewesen – sondern durch Eisen und Blut“. Die Liberalen wollten die Einheit? Dann aber nach den Bedingungen des alten Militärstaats. In dieses Konzept fügte sich der Krieg gegen Dänemark ein, halb Staatenkrieg halb Befreiungskrieg. Gegen Österreich folgte ein abgezirkelter Scheidungskrieg.

Aber gegen Frankreich entgleiste die Staatskunst. Es war ein verlorener Sieg, weil die Militärs unbedingt Elsass-Lothringen wollten. Fortan war die deutsche Gleichgewichts- und Bündnispolitik vor allem Eindämmung Frankreichs. Als auch noch die russisch-deutsche Allianz sich auflöste, Schutzzölle Exporte aus Russland belasteten und die Russen Frankreich eine Militärallianz boten, war das Bismarcksche System schon im Scheitern. George F. Kennan, US-Diplomat und Historiker, konstatierte hier den Beginn der „Urkatastrophe“ des folgenden Jahrhunderts.

Bismarcks Deutschland: Für die Hegemonie zu klein, für das Gleichgewicht zu groß

Am Ende, wenn der große Gleichgewichtspolitiker auf sein Lebenswerk schaute, sah er vor allem Gefahren. Klug war seine Englandpolitik: Wenig Afrika und keine Schlachtflotte. Auf dem Berliner Kongress 1878 hatte er das British Empire und Europa vor dem großen Krieg bewahrt, verlor aber Russland, wie vordem schon Frankreich. Aus London kam kein Dank. Zu Österreich-Ungarn bewahrte er Spielraum, anders als die Späteren.

Bismarcks Außenpolitik blieb immer Fragment, am Ende nur noch ein System von Aushilfen. Seitdem 1890 der junge Kaiser dem alten Kanzler den Stuhl vor die Türe setzte, ist noch viel geschehen, und vieles hätte auch anders kommen können. Aber keine Staatskunst konnte die Tatsache überwinden, dass Bismarcks Deutschland für die Hegemonie zu klein war, für das Gleichgewicht zu groß. Es hatte Genie gebraucht, den deutschen Machtstaat in die Mitte Europas zu platzieren. Es hätte noch mehr gebraucht, ihn zu bewahren.

Staatsmann der Sorge war Bismarck am Ende seines Lebens. Deutschland solle, so hat der Reichskanzler a.D. die Seinen beschworen, „sich nicht verhalten wie der Mann, der, kürzlich zu Gelde gekommen, auf die Taler in seiner Tasche pocht und jedermann anrempelt“. In der conditio Germaniae liegen bis heute Gefahren, die Bismarck begriff und die seine modernen Nachfolger besser nicht vergessen.