Der Historiker Michael Stürmer sieht die alte Weltordnung gefährdet. (Foto: Imago/Wiegand Wagner)
Ausland

Welt ohne Weltordnung

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Kämpfe alten Stils um Hegemonie und Gleichgewicht kommen mit Macht zurück. Deutschland wird sich seiner Rolle als globaler Mitspieler nicht verweigern können, analysiert der Historiker Michael Stürmer.

Es bedurfte nicht der Irrungen und Wirrungen, mit denen der amerikanische Präsident seine Reputation als „Disruptor in Chief“ auf dem jüngsten Nato Gipfel  bekräftigte, um die Europäer daran zu erinnern, dass die Nato nicht mehr ist, was das Bündnis einmal war – Garantie europäischer Sicherheit. Und dass europäischer Ersatz nicht bereit steht, während sich zahlreiche regionale Krisen mittlerweile zur Weltkrise auftürmen wie eine Prozession von Gewittern vor der Alpenkulisse. Dem Kalten Krieg und der kurzen Phase der einzig verbliebenen Supermacht folgt eine Epoche der Krisen und Kriege ohne übergreifendes Ordnungsprinzip: Welt ohne Weltordnung.

Heute ist Ordnung  wieder Ausnahme, nicht Regel. Das Staatensystem verdient den Namen eines Systems nicht mehr.

Michael Stürmer

Man soll sich nichts vormachen, Klarheit der Lagebeurteilung geht allem anderen voran: Kämpfe alten Stils um Hegemonie und Gleichgewicht, so zeigt sich, kommen mit Macht zurück. Dazu aber drohen Völkerwanderungen historischen Ausmaßes, die gerade erst begonnene Digitale Revolution, die unbekannten Kontinente künstlicher Intelligenz, die Abenteuer des Erdnahen Weltraums – kurzum, die alten Koordinaten sind noch immer da, aber es sind neue hinzugekommen, deren Wechselwirkungen noch  unvermessen sind. Der Kalte Krieg bildete eine Art Ordnungsgefüge. Aber heute ist Ordnung  wieder Ausnahme, nicht Regel. Das Staatensystem verdient den Namen eines Systems nicht mehr.

China als Partner?

Für Russland ist das letzte Wort über den Platz in der Welt noch nicht gesprochen, das Erbe der Sowjetunion noch nicht abschließend verteilt: „New Order or No Order“ – so wurden die Teilnehmer der Herbsttagung 2016 des internationalen Diskussionsclubs „Waldai“ in Sotchi vom Gastgeber, der russischen Präsidentschaft, empfangen. Der Slogan klang wie ein Ultimatum in Richtung Amerika und wirkte ominös – jedenfalls nach allem, was seit Putins Absage an den Westen bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2008 geschehen war. Die Krim-Annexion, nachdem ohnehin schon der Kriegshafen Sebastopol an Russland dauerhaft verpachtet war, war eine Demonstration, dass der Kreml sich um völkerrechtliche Finessen nicht kümmern würde. Die Sanktionen seitdem sind Geste des Protests aus dem Westen, aber stärken das Regime mehr als dass sie Putin schwächen. Dem Westen fehlt eine abgestimmte Russlandpolitik, was umso kostspieliger ist, als Russland vielfach gebraucht wird, von Nordkorea und Non-Proliferation bis zur Stabilisierung der Ukraine.

Das wieder entstandene Reich der Mitte macht kein Hehl mehr aus dem Streben nach weltpolitischer Dominanz.

Michael Stürmer

China ein „Partner in Leadership“? Es sieht nicht danach aus, eher gilt das Gegenteil. Westliche Analysten und Politiker haben sich lange eingeredet, China werde, wenn erst industrielles Wachstum die Gesellschaft reich mache, nach westlichen Spielregeln funktionieren. Das ist vorbei, China betreibt wertfreie Macht- und Sicherheitspolitik im klassischen Stil. Je mehr aber China zum Machtkonkurrenten der Vereinigten Staaten rund um das pazifische Becken wird, desto mehr muss Deutschland – Industrie und Politik – die Wahl vermeiden zwischen China und den USA. Das wieder entstandene Reich der Mitte macht kein Hehl mehr aus dem Streben nach weltpolitischer Dominanz. Der Anspruch reicht weit über die vorgelagerten Inselketten hinaus Richtung Pazifik ohne Rücksicht auf konkurrierende Interessen kleiner und großer Nachbarn und deren Nerven.

Putins Russland macht unterdessen, weit vorgreifend in Asiens große Szenarien, Übungen in Appeasement gegenüber dem Reich der Mitte, obwohl doch, beispielsweise, in Sibirien alte Rechnungen und, in chinesischer Lesart, „ungleiche Verträge“ offenstehen. Die Ungleichgewichte Sibiriens sind eklatant: Alle Menschen auf der östlichen Seit der Grenze und keine Energie; alle Bodenschätze auf der westlichen Seite und keine Menschen. China als weltpolitischer Partner Russlands? Als Akt kalter Staatsräson ist das vorstellbar, als Konzert der Werte und Lebensformen nicht: Man wisse bei den Chinesen nie wirklich, so klagen russische Unterhändler, ob sie weinen oder ob sie lachen.

Die USA bleiben Nummer eins

Die Vereinigten Staaten sind noch immer, ob bei soft power oder militärischer Hardware, die Nummer Eins, allerdings befallen von Selbstzweifel, Selbstmitleid und dem Verlust des alten Sendungsbewusstseins, das den Amerikanern seit dem Zweiten Weltkrieg eine liberale Weltordnung zu entwerfen und durchzusetzen half. Der gegenwärtige Schwächeanfall sollte indes niemanden in Deutschland verführen, Amerika abzuschreiben. Die Präsidentschaft eines Real Estate-Moguls mit derben Sitten und Gebräuchen, undurchschaubaren Abhängigkeiten und demagogischen Instinkten wird vorübergehen. Allerdings: Trump ist das Segel, das sich bläht, nicht der Wind, der es füllt.

„Imperial Overstretch“, wie die Malaise genannt wird, hat Amerika nicht verschont. Doch die Vereinigten Staaten sind und bleiben Seemacht mit allen Instinkten maritimer Sicherheit. Das betrifft nicht nur Flotten, Flugzeugträger und die nuklearen U-Boote, die in den Tiefen der Weltmeere auf Patrouille sind. Die maritime Machtlogik umfasst von jeher die Freiheit der Schifffahrt, für die Amerika Kriege geführt hat und auch künftig Kriege führen wird.

Deutschland wird, anders als bisher, sich weder seinem eigenen Gewicht noch seinen vitalen Interessen als globaler Mitspieler verweigern können.

Michael Stürmer

Der Blick fällt immer auf die Gegenküsten Asiens und Europas und deren Randmeere, Ostsee und Schwarzes Meer: Zugewandte Staaten und Regierungen gehören zum imperialen Entwurf, am wichtigsten die „special relationship“ mit dem Vereinigten Königreich. Auf dem europäischen Kontinent ist und bleibt am wichtigsten Deutschland, das bis tief nach Afrika und den Mittleren Osten Basis und Drehscheibe amerikanischer Weltpolitik ist und noch lange bleiben wird.

Die Klage der Kanzlerin

Mit Amerika allerdings, wie die Kanzlerin anno 2017 in Trudering im Wahlkampfmodus klagte und seitdem noch mehrfach andeutungsweise wiederholte, geht es zur Zeit schlecht. Doch ohne Amerika geht es erst recht nicht. Es gibt Gründe historischer und politischer Art, warum die Europäer trotz aller Warnungen und trotz aller Gehversuche die Selbständigkeit noch nicht gelernt haben. Es gab sogar Zeiten, als amerikanische Diplomaten das eigene Außenministerium warnten, die Europäer probten den Aufstand. Leider blieb es bei Worten ohne Folge und Ernsthaftigkeit. Das rächt sich jetzt.

Erwachsenwerden bringt Schmerzen. Deutschland wird, anders als bisher, sich weder seinem eigenen Gewicht noch seinen vitalen Interessen als globaler Mitspieler verweigern können. Dass das Geld kostet, viel Geld, ist noch die geringste Sorge.

Michael Stürmer ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte.