Angst vor dem Funken zum Bürgerkrieg
In Frankreich hätte eine Massenvergewaltigung wie in Köln bürgerkriegsähnliche Unruhen auslösen können. Das befürchten französische Sicherheitskräfte. Geheimdienstchef Calvar hat jetzt vor dem Parlament das Wort vom drohenden Bürgerkrieg in den Mund genommen. Terroranschläge, anhaltende Terrorbedrohung und islamische Radikalisierung drohen Frankreichs Gesellschaft zu zerreißen.
Frankreich

Angst vor dem Funken zum Bürgerkrieg

In Frankreich hätte eine Massenvergewaltigung wie in Köln bürgerkriegsähnliche Unruhen auslösen können. Das befürchten französische Sicherheitskräfte. Geheimdienstchef Calvar hat jetzt vor dem Parlament das Wort vom drohenden Bürgerkrieg in den Mund genommen. Terroranschläge, anhaltende Terrorbedrohung und islamische Radikalisierung drohen Frankreichs Gesellschaft zu zerreißen.

„Wir stehen am Rande eines Bürgerkrieges.“ Die Warnung stand Mitte Juni in der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Ausgesprochen hatte sie im Mai vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Terroranschlägen vom 13. November niemand anderes als Patrick Calvar, der Chef des französischen Inlandsgeheimdienstes Direction générale de la sécurité intérieure (DGSI). Wie sich das für einen Geheimdienstchef gehört, tritt Calvar sonst eher selten öffentlich auf und redet auch nicht viel, schon gar nicht vor Medien-Publikum. Jetzt hat er zwei Mal innerhalb eines Monats im französischen Parlament hinter verschlossenen Türen vor einer bevorstehenden bürgerkriegsähnlichen Konfrontation zwischen extremistischen Bewegungen in Frankreich gewarnt.

Irreversible Brüche in der französischen Gesellschaft

Die Terroranschläge des vergangenen Jahres, die anhaltende islamistische Terrorgefahr und die sichtbar fortschreitende islamische Radikalisierung in sogenannten Banlieu-Siedlungen haben die Stimmung im Lande verändert. Ende Oktober, sozusagen zwischen den Terroranschlägen vom Januar und vom November, haben sich die Franzosen ausführlich an die drei lange Wochen dauernden Revolten und Aufstände der arabischen und afrikanischen Jugend in ihren Banlieues von vor genau zehn Jahren erinnert. Paris hatte damals den Ausnahmezustand verhängen müssen.

Ich glaube, dass diese Konfrontation stattfinden wird. Noch ein oder zwei Anschläge, und dann kommt sie.

DGSI-Chef Patrick Calvar

„Überall wachsen die Extremismen“, setzte DGSI-Chef Calvar den Abgeordneten auseinander. Besonderes Augenmerk will sein Dienst jetzt auf die französische Ultrarechte richten, „die auf die Konfrantation nur wartet“. Calvar: „Ich glaube, dass diese Konfrontation stattfinden wird. Noch ein oder zwei Anschläge, und dann kommt sie.“ Etwas vorsichtiger spricht Calvars Chef, Innenminister Bernard Cazeneuve, über die gleiche Gefahr: Der Terror füge der französischen Gesellschaft „irreversible Brüche“ zu.

Die Islamisten wollen mit ihrem Terror pogromartige Reaktionen gegen die muslimische Bevölkerung provozieren.

Gilles Kepel

Genau das ist schon lange die Absicht der islamistischen Terroristen, bestätigt Gilles Kepel, Frankreichs großer Islam- und Islamismus-Experte und Kenner der arabischen Welt. Klar definiertes Ziel etwa der Ideologen des Islamischen Staates sei es, so Kepel, mit Terroranschlägen in Europa Erbitterung in der Bevölkerung zu schüren und dann vielleicht „pogromartige Reaktionen“ gegen Muslime hervorzurufen. I.S.-Theoretiker haben schon vor Jahren schreiben mit Blick auf muslimische Einwanderungsgesellschaften in Europa allen Ernstes vom „Krieg der Enklaven“ zwischen „ethnisch und religiös homogen gewordenen Stadtvierteln“ geschrieben, den sie auslösen wollen. Kepel: „Wenn weitere blutige Anschläge ausgeführt werden, ist nicht unmöglich, dass das explodiert.“ Die I.S.-Dschihadisten wollen Bürgerkrieg in Europa.

Angst vor dem Funken, der zur Explosion führt

Nichts sei ausgeschlossen, „in einem Land, das so eruptiv ist wie das heutige Frankreich“, ergänzt Le Figaro. Woher könnte also der Funken kommen, der zur Explosion führt „und das Land in unkontrollierbares Territorium verwandelt, wo Gruppen zu den Waffen greifen um Selbstjustiz zu üben und wo dann die Spirale der Gewalt nicht mehr anzuhalten ist?“, fragt das Blatt. Auch in Sicherheitskreisen denkt man dabei an einen neuen Terroranschlag, der dann das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizeikräfte erschüttert und es zu den Waffen greifen lässt. Oder an eine große Demonstration, die in Gewalt ausartet, Hooligan-Krawalle, eine „Strafexpedition in die Banlieues“, oder, so Le Figaro, „um ein etwas weiter entferntes Beispiel heranzuziehen, eine Massenvergewaltigung wie diejenige, die in der Neujahrsnacht von maghrebinischen Einwanderern in Köln verübt wurde.“ Besonders gefürchtet als Auslöser für großflächige Gewalt ist unter Sicherheitsbehörden offenbar ein Terroranschlag, der sich Kinder zum Ziel nimmt, etwa eine Geiselnahme in einer Schule – Terror „ganz oben auf der Skala des Unerträglichen“, so Le Figaro.

Wenn weitere blutige Anschläge ausgeführt werden, ist nicht unmöglich, dass das explodiert.

Gilles Kepel, Islam- und Banlieue-Experte

Vor zwei Jahren schien schon einmal eine Explosion unmittelbar bevorzustehen: Während des letzten Konfliktes zwischen Israel und Gaza tobten in Paris, und nicht nur dort, muslimische Gaza-Anhänger aus den Banlieues mit wilden antisemitischen Parolen. Im Vorort Sarcelles, nördlich von Paris, kam es fast zum Sturm auf die Synagoge. Angehörige einer jüdischen Verteidigungsliga bauten sich vor der Synagoge auf und konnten das Schlimmste verhindern. Das war genau die Sorte von Fast-Konfrontation, die DGSI-Chef Calvar jetzt immer mehr Sorgen macht.

Explosive Stimmung

Frankreichs Gesellschaft befinde sich mitten in einer Phase der „Hochspannung und Hysterisierung“, erklärt ein anderer Sicherheitsexperte und nennt dafür drei Gründe: das Aufkommen von Terror aus nächster Nähe wie etwa die Ermordung jenes Polizistenpaares in Magnanville, sechzig Kilometer östlich von Paris; die fortschreitende Salafisierung, die vielen Vierteln radikalislamische Prägung aufzwinge; dazu der Bindungskraftverlust von linksradikalen Organisationen, der ebenfalls radikale Kräfte freisetzte. Das alles sei so noch nie dagewesen, „das ist nicht Krieg, aber eine Situation, die man mit den Jahren des Terrors in Deutschland und Italien vergleichen kann“. Gewaltgefahr, heißt das, droht nicht nur von radikalen Islamisten oder Ultrarechten, sondern auch von einer neuen Ultralinken.

Soldaten patroullieren mit schussbereiter, fertig geladener Waffe in Frankreichs Großstädten.

An der Spitze von Inlandsgeheimdienst DGSI und Militärgeheimdienst DRM wird jedenfalls dem „nationalen Schauplatz“ immer größere Aufmerksamkeit geschenkt. Gesprochen und geschrieben wird darüber nicht. Das Thema ist tabu. Sichtbar ist allerdings, dass die Armee, die seit 13. November im Rahmen der Operation „Sentinelle“ mit 10.000 Mann in vielen französischen Großstädten patrouilliert, gegenüber der Vorgängeroperation „Vigipirate“ ihre Einsatzrichtlinien verändert – sprich: verschärft – hat: Die Soldaten patroullieren mit schussbereiter, fertig geladener Waffe.

Zwei Völker in Frankreich

DGSI-Chef Calvar will das Augenmerk seines Dienstes jetzt auf jene Gruppen im Lande lenken, die es darauf abgesehen haben könnten, Gewalt zwischen gesellschaftlichen Gruppen auszulösen. Wie gefährlich dabei etwa die von Calvar beschworenen Ultrarechten sind, ist offen. Denn anders als die etwa die Kommunistische Partei oder die kommunistische Gewerkschaft CGT hat der rechtspopulistische Front National seine Bindekraft nicht verloren, sondern sie sogar auf das linke Wählerspektrum ausgedehnt: Der größere Teil dessen, was einmal die französische Arbeiterklasse war, wählt inzwischen Marine Le Pen und ihren FN. Im Moment spiele die Stimmabgabe für den FN in Teilen der Gesellschaft sozusagen die Rolle des „großen Ventils“, heißt es sogar von sozialistischer Seite. Ein interessanter Gedanke.

Wir schauen gerade zu, wie in Frankreich zwei Völker entstehen, was so weit geht, dass manche schon die Keime des Bürgerkriegs heraufbeschwören.

Georges Bensoussan, Historiker

Aber das Stichwort vom „guerre civile“, vom Bürgerkrieg, ist im Raum. Mit Blick auf die völlig gescheiterte Integration der muslimischen Einwanderungsbevölkerung der zweiten und dritten Generation hat Ende vergangenen Jahres in einem Interview mit dem Figaro auch der Historiker Georges Bensoussan davon gesprochen. Der Historiker sieht nicht nur die Republik auf dem Spiel stehen, sondern die französische Nation insgesamt: „Wir schauen gerade zu, wie in Frankreich zwei Völker entstehen, was so weit geht, dass manche schon die Keime des Bürgerkriegs heraufbeschwören.“ Vor zehn Jahren hätte man über die Vorstellung vom Bürgerkrieg noch gelacht, so Bensoussan, aber heute nähmen im Banlieue-Umfeld Mandatsträger, Polizisten oder Ärzte das Wort immer häufiger in den Mund. Bensoussan: „Das Gefühl, dass sich gerade zwei Völker bilden, Seite an Seite, die sich oft mit Feindseligkeit betrachten, dieses Gefühl wird heute von vielen geteilt.“