Bei all zu vielen muslimischen Einwanderern der zweiten oder dritten Generation regelrecht verhasst: Frankreich und alle Werte, für die die blau-weiß-rote Flagge der Republik steht. Bild: H.M.
Antisemitismus

Franzosen, die Frankreich verabscheuen

In Frankreich haben meist arabischstämmige Pro-Gaza-Demonstranten mehrfach versucht, jüdische Synagogen zu stürmen. Das geschockte Land diskutiert über muslimischen Gewalt-Antisemitismus, über den es seit Jahrzehnten geflissentlich hinweggesehen oder ihn gar vertuscht hatte. Die Juden verlassen längst scharenweise das Land.

Ausgerechnet am Vorabend des französischen Nationalfeiertags entglitt in Paris eine Pro-Gaza-Demonstration zum schlimmen antisemitischen Krawall. Nicht weit vom Place de la Bastille entfernt, randalierten hunderte junger Männer, meist mit arabisch-muslimischem Migrationshintergrund, mit Eisenstangen bewaffnet, „auf der Suche nach Juden, um sie zu lynchen“ – so beschrieb es wenig später Arno Klarsfeld, der Sohn der Nazijäger Serge und Beate Klarsfeld, in der Pariser Tageszeitung Le Monde. In der Rue de Tournelle, am Rande des Marais, mit seinem wunderschönen jüdischen Viertel, wollten hunderte Randalierer eine Synagoge stürmen. Die Polizei war vorgewarnt und verhinderte es. Die Horde zog weiter zur nächsten Synagoge in der Rue de la Roquette, die den Place de la Bastille mit dem Friedhof Père Lachaise verbindet. Über zwei Stunden belagerte der Mob die zunächst nur schwach geschützte Synagoge unter „Allah-U-Akbar“-Gebrüll und „Tod den Juden“.

Beispiellose Gewalt

„Niemals seit dem Mittelalter hat es das in Frankreich gegeben“, so Klarsfeld fassungslos: „Noch nie haben Hunderte Personen mit französischer Staatsangehörigkeit, in Frankreich, versucht eine Synagoge zu stürmen. Das ist beispiellos im heutigen Europa.“ Nur ganz knapp sei ein Pogrom vermieden worden, ergänzte Roger Cukierman, der Präsident des Repräsentivrats der jüdischen Institutionen in Frankreich (CRIF). Das war keine Übertreibung: Insgesamt fünf Synagogen im Großraum Paris wurden innerhalb einer Woche Ziele wüster antisemitischer Ausschreitungen.

Noch nie haben Hunderte Personen mit französischer Staatsangehörigkeit, in Frankreich, versucht eine Synagoge zu stürmen. Das ist beispiellos im heutigen Europa.

Arno Klarsfeld

Zwar hatte der Innenminister nach den schlimmen Vorfällen vom 13. Juli zwei für das folgende Wochenende geplante Demonstrationen verboten. Trotzdem brannten am Samstag drauf im Stadtteil Barbès, nicht weit vom Gare du Nord, die Barrikaden, unter „Tod-den-Juden-Parolen“. Eine Journalistin der Tageszeitung Le Figaro beschrieb, wie eine Passantin vom muslimischen Mob auf der Straße angegangen wurde: „Hau ab, schmutzige Jüdin, oder ich mach dich platt!“

Am nächsten Tag, am Sonntag, erreichte die Welle antisemitischer Gewalt den nördlichen Pariser Vorort Sarcelles. Wieder war die Synagoge das Ziel. „Palästina: Kommt ausgerüstet, mit Mörsern, Feuerlöschern, Knüppeln, Sonntag 20. Juli. Kommt zahlreich: Wir nehmen uns das Judenviertel von Sarcelles vor“, zitiert Le Figaro aus einem Aufruf, der offenbar schon eine halbe Woche zuvor zirkulierte. Sarcelles war nicht zufällig gewählt: Klein-Jerusalem nennt man dort den Stadtteil, wo 60000 Franzosen jüdischer Konfession leben. Bislang galt Sarcelles sozusagen als multikulturelles Modell.

„Tod den Juden“ – „Hitler hatte Recht“

Natürlich war die Demonstration verboten worden. Aber linksextreme Organisatoren hielten an ihren Aufrufen fest. Mindestens 3000 Demonstranten fielen dann in Sarcelles ein. Molotow-Cocktails flogen gegen die Synagoge. Nur mit Mühe konnten Bereitschaftspolizisten verhindern, dass die Synagoge gestürmt wurde (Le Figaro). Der enthemmte Mob suchte sich andere Ziele: Eine jüdisch geführte Apotheke und ein Koscher-Laden wurden geplündert und in Brand gesteckt. Dabei waren „nicht hinnehmbare Parolen zu hören“, schreibt Le Monde in einem entsetzten Kommentar über einen neuen Antisemitismus in Frankreich: „Tod den Juden“, „Hitler hatte recht“.

Eine Horde von Wilden, die in primitiven Antisemitismus abgeglitten sind, dies mit unverhülltem Gesicht ausleben und eine Synagoge angreifen.

François Pupponi, Bürgermeister von Sarcelles

Dann griffen die Krawallos eine Polizeistation an, versuchten den Bahnhof von Garges-Sarcelles in Brand zu stecken und rissen Straßenbahnschienen aus der Straße. „Eine Horde von Wilden, die in primitiven Antisemitismus abgeglitten sind, dies mit unverhülltem Gesicht ausleben und eine Synagoge angreifen“ – so beschrieb François Pupponi, der sozialistische Bürgermeister von Sarcelles, die Hooligans. Aufgefallen ist ihm die starke Präsenz von Türken: „Das ist das erste Mal, dass ich Demonstranten mit türkischen Fahnen sehe, die ‚Tod den Juden‘ rufen.“ Von einer „Pariser Intifada“ sprach ein Polizei-Kommissar.

Eine Allianz der Linken mit den Muslimen

„Antisemitismus – Frankreich im Schockzustand“, titelte am Dienstag drauf Le Figaro. Präsident François Hollande rief die Vertreter der Kultusgemeinden in den Elysée-Palast und erklärte den Kampf gegen den Antisemitismus zur „nationalen Priorität“. Hollande: „Das ist furchtbar für die Muslime: Wie werden sie jetzt mit dem identifiziert, was da passiert ist? Es ist furchtbar für die Juden: Kann man in Frankreich nicht mehr in Frieden leben? Es ist furchtbar für unsere Mitbürger: In welchem Land sind wir? Meine Rolle ist es, zu einen und zu verbinden.“ Der Präsident schickte eine Warnung hinterher: „Das wird ein heißer Sommer. Es ist das Ende des Ramadan, da muss man aufpassen“.

Seither diskutiert das Land über den neuen Mordparolen-Antisemitismus und darüber, wo er herkommt. In den Blick gerät dabei auch eine antizionistische und antikapitalistische radikale Linke, die mit radikalen Islamisten „eine Allianz eingegangen“ ist, zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung den französischen Philosophen und Sohn eines Ausschwitz-Überlebenden Alain Finkielkraut. Von einer „neuen Form des Antisemitismus, die ihren Judenhass hinter einer Fassade von Antizionismus und hinter dem Hass auf den Staat Israel versteckt“, spricht Premierminister Manuel Valls und meint damit wohl auch einen Teil der radikalen Linken.

Offener Widerstand gegen Geschichtsunterricht über den Holocaust

Im Zentrum der Diskussion steht allerdings Frankreichs muslimische Minderheit, die schon fast zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht. Frankreichs Antisemitismus habe sich verschoben, erläutert in der linken Le Monde der Soziologe und Antisemitismus-Experte Michel Wievorka: „Seit 30 Jahren verbindet er sich vor allem mit Personen, die aus der arabischen Immigration oder muslimischen Konfession und sozial aus der Schicht der Ausgeschlossenen kommen.“

Gutmenschen geben zu, dass man Antisemitismus anprangere, vorausgesetzt er komme von der extremen Rechten.

Arno Klarsfeld

Tatsächlich warnen Lehrer schon seit Jahren vor einem Anstieg von hemmungslosem Antisemitismus in manchen Schulen, erinnert Le Figaro. Das ging bis zu offenem Widerstand gegen Geschichtsunterricht über den Holocaust. Schon 2003 und 2004 seien bei Demonstrationen gegen das Gesetz, das religiöse Symbole – sprich: muslimische Kopftücher – an Schulen verbot, die ersten „Tod den Juden“-Rufe zu hören gewesen. Ein nationaler Schulinspekteur hatte damals sogar einen Bericht über die üble Entwicklung angefertigt. Auf Intervention des Bildungsministers wurde der Bericht aber erst nach einem Jahr veröffentlicht und dann als „unwissenschaftlich“ abgetan. Man wollte das Phänomen nicht analysieren, so Le Figaro, „denn dann hätte man zugeben müssen, dass dieser Antisemitismus nicht von der alten extremen europäischen Rechten komme, von diesem zum Popanz gewordenen ‚Faschismus‘, der regelmäßig beschworen wird, um irgendwelche Gegner zu diskreditieren.“ Zahlreiche „Gutmenschen“ gäben zu, bestätigt in Le Monde Arno Klarsfeld, „dass man Antisemitismus anprangere, vorausgesetzt er komme von der extremen Rechten“.

Jüdische Auswanderung: Im nahöstlichen Kriegsgebiet sicherer als in Frankreich

Unter Schock stehen auch Frankreichs etwa 500.000 Juden, die sich über fünf Millionen französischen Muslimen gegenüber sehen – und deren wachsendem, latent gewalttätigen Judenhass. Seit dem Jahr 2000 habe sich die Zahl antijüdischer Gewalttaten versiebenfacht, berichtet die Londoner Wochenzeitung The Economist. „In manchen Gegenden ist es schwierig geworden, Jude zu sein, so sehr ist der Hass auf Israel zum allgemeinen Kult geworden“, sagt CRIF-Präsident Roger Cukierman.

Man hat das Gefühl, dass das alles nur ein Anfang ist, dass die Radikalisierung weitergeht und dass die französischen Juden nur diese Perspektive haben.

Victor Malka

Immer mehr französische Juden entscheiden sich dafür, Frankreich zu verlassen. 2013 stieg die Zahl der jüdischen Auswanderungen um 60 Prozent auf 3289. Für 2014 wird eine Rekordzahl von über 5000 jüdischen Auswanderungen erwartet. 400 französische Juden sollen dieser Tage nach Israel ausgewandert sein – ins nahöstliche Krisen- und Kriegsgebiet, wo sie sich sicherer fühlen als in Frankreich, deutet The Economist an. In der Synagoge von Sarcelles habe man am Samstag nach den Ausschreitungen „von nichts anderem gesprochen, als davon, die Koffer zu packen“, erzählt Victor Malka, der Herausgeber eines jüdischen Journals, dem Figaro: „Man hat das Gefühl, dass das alles nur ein Anfang ist, dass die Radikalisierung weitergeht und dass die französischen Juden nur diese Perspektive haben.“ Ganz besonders ängstige die jüdische Bevölkerung, „die offene und schamlose Art und Weise, in der Antisemitismus jetzt zum Ausdruck kommt“, so Malka. „Wir stellen uns Fragen über die Fähigkeit der Republik, ihre Bürger zu schützen“, überlegt düster ein Sprecher der Union jüdischer Studenten in Frankreich. Auf einen Dialog zwischen jüdischen und muslimischen Gemeinden könne man kaum hoffen, sieht in Le Monde der Soziologe Farhad Khosrokhvar: Wenn derzeit so viel junge französische Muslime zum Dschihad in Syrien aufbrächen, „beweist das die Unfähigkeit der Muslime, einen wirklichen innergemeinschaftlichen Dialog zu beginnen“.

Frankreich als Schauplatz eines Zusammenpralls der Kulturen

Ziel des muslimischen Judenhasses sind aber nicht nur Frankreichs Juden, sondern auch die strikt laizistische Verfassung der Französischen Republik und ihrer Gesellschaft. Die „Allah-U-Akbar“-Rufe („Allah ist groß“) der muslimischen Pro-Gaza-Demonstranten seien gegen den weltlichen Charakter der Republik gerichtet und stellten ihn in Frage, beobachtet klug das US-Politik-Magazin Foreign Policy. Frankreich kennt keine multikulturelle Gesellschaft, sondern nur „die eine, unteilbare und laizistisch-weltliche Nation“, bestätigt in Le Monde der ehemalige sozialistische Justizminister Robert Badinter und warnt: „Die französische Republik steht auf den vier Säulen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und des Laizismus. Wenn ein Pfeiler nachgibt, kann das ganze Gebäude zusammenstürzen.“

Genau diese Gefahr sieht jetzt Le Figaro und schreibt schon vom „französisch-französischen Bruch, entstanden aus einer Immigration, die sich zu einem schwer quantifizierbaren Teil nicht mehr integriert und auf Nichtintegration besteht“. In Le Monde weist Klarsfeld auf die fundamentalistische Welle hin, die durch die muslimische Welt fege, „und diese Welle hat mancherorts auch Frankreich erfasst“. Für Le Figaro liegt hier eine Quelle des neuen Judenhasses in Frankreich: Der Antisemitismus in den Stadtrandgebieten sei parallel mit einer religiösen Radikalisierung gewachsen, die von salafistischen und aus der Golf-Region bezahlten Imamen geschickt ins Werk gesetzt würde.

Es ist ein Problem, mit einem radikalen Islam zusammenzuleben, der von einem Teil der muslimischen Gemeinschaft passiv unterstützt wird.

Le Figaro

In Sarcelles haben junge Juden, als sie die Synagoge schützten, demonstrativ die Marseilleise angestimmt. Die muslimischen Pro-Gaza- und Pro-Hamas-Demonstranten haben ebenso demonstrativ die Nationalhymne ausgepfiffen und niedergebrüllt. Von „Frankreich als dem Schauplatz eines Zusammenpralls der Kulturen“, schreibt nun Le Figaro und vom Problem, „mit einem radikalen Islam zusammenzuleben, der von einem Teil der muslimischen Gemeinschaft passiv unterstützt wird“. In einem Kommentar auf der Titelseite vom 22. Juli schreibt das Blatt: „Unsere Mitbürger entdecken Tag für Tag, dass sie in ihrem Land immer mehr Franzosen beherbergen – denn die meisten sind es –, die Frankreich verabscheuen. Und das nicht einmal verbergen.“