Die britische Politik steht nach dem Brexit-Votum vor unruhigen Zeiten. (Bild: Fotolia / by-studio)
Nach Brexit

Turbulenzen in Westminster

Nach dem Brexit-Votum geht es bei den Konservativen und Sozialdemokraten in Großbritannien rund. Bei den Tories läuft seit dem angekündigten Cameron-Rückzug die Suche nach einem neuen starken Mann - eine Gruppe Parlamentarier versucht jetzt, den Favoriten Boris Johnson doch noch zu verhindern. Unterdessen spricht die Labour Party ihrem Chef das Misstrauen aus. Gewinner sind die Separatisten.

Es ist das erwartete große Stühlerücken in der britischen Politik: Nach der Brexit-Entscheidung am vergangenen Donnerstag gab Premier David Cameron schon recht schnell bekannt, er werde im Herbst seine Ämter zur Verfügung stellen. Gestern nun zog sich die Schlinge um den Oppositionsführer und Chef der Labour Party, Jeremy Corbyn, zu: Nach einer wahren Rücktrittswelle in Corbyns „Schattenkabinett“ sprachen ihm die Abgeordneten seiner Fraktion im House Of Commons das Misstrauen aus.

Und auch wenn ein Rücktritt Corbyns bislang noch aussteht, ist klar: Das politische Erdbeben des Brexits hat das politische Großbritannien derart durcheinander gewirbelt, dass kein Stein auf dem anderen bleibt.

Innerparteilicher Widerstand gegen Johnson?

Während sich Corbyn noch an seinen Stuhl zu klammern scheint, läuft bei Camerons Tories die Suche nach einem Nachfolger bereits auf Hochtouren. Wahrscheinlichster Kandidat ist der frühere Bürgermeister von London, Boris Johnson. Er war einer der führenden Köpfe der Brexit-Bewegung – und hielt sich seit der Entscheidung am Freitagmorgen mit öffentlichen Äußerungen auffällig deutlich zurück. Manche Beobachter gingen sogar soweit, den konservativen Politiker mit den wilden blonden Haaren als „abgetaucht“ zu bezeichnen.

Tatsächlich schien sich Johnson über den Ausgang des Referendums nicht wirklich zu freuen. Seine „Siegesrede“ fiel freudlos und nüchtern aus. Im Wesentlichen beschränkte er sich darauf, zu behaupten, das Thema Immigration sei kein entscheidender Faktor gewesen, und die Märkte blieben trotz der weitreichenden Entscheidung stabil. Das, wohlgemerkt, sagte er, nachdem das britischen Pfund auf den niedrigsten Wert seit 1985 gefallen war.

Johnson: Brexit-Engagement aus Eigensinn?

Glaubt man den „nicht näher genannten Stimmen“ aus Johnsons Umfeld in der konservativen Partei – sie werden etwa von der Zeitung The Guardian zitiert – dann sei Johnson gar kein glühender Verfechter des Brexits gewesen. Vielmehr habe sich Johnson aus Eigennutz an die Spitze der Bewegung gestellt und deren Argumente übernommen – mit dem Ziel, sich landesweit zu profilieren und in Stellung zu bringen für eine mögliche Nachfolge Camerons, der schon bei seiner Wiederwahl 2015 angekündigt hatte, dies werde seine letzte Amtsperiode als Premier sein. Nun also könnte es für Johnson schneller gehen als erwartet – und das könnte ihm gar nicht recht sein.

Widerstand gegen Johnson – Wird es Theresa May?

Dennoch: Medien, Parteifreunde und Beobachter sind sich einig: An einer Kandidatur Johnsons als Premierminister und Tory-Chef besteht kein Zweifel. Daran, dass er die Mehrheit seiner Partei hinter sich vereinigen kann, dagegen schon: Denn besonders unter den Unterhaus-Abgeordneten formiert sich Widerstand: „ABB“ nennt sich die Gruppierung, die einen Sieg Johnsons um jeden Preis verhindern will. Die Abkürzung steht für „Anyone But Boris“ – Jeder, außer Boris. Sie formieren sich hinter der zweiten wahrscheinlichen Kandidatin: Theresa May, die 59-jährige Heimatministerin. Einer Umfrage der Zeitungen The Independent und The Times zufolge läge sie in der Wählergunst knapp vor Johnson, der zwar als unterhaltsam, aber labil und wenig gefestigt gilt.

Großer Zulauf für Separatisten-Parteien

Die größten Gewinner der riesigen Turbulenzen an der Spitze von Tory und Labour sind die separatistischen Parteien in Schottland, Nordirland und Wales. Die Chefin der Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon, dürfte aktuell die einzige Parteichefin auf der Insel sein, die nach dem Brexit nicht unter persönlichem Beschuss steht. Sie scheint bislang auch die einzige zu sein, die einen klaren Fahrplan für ihre Partei und ihr Land – das klar für den Verbleib gestimmt hat – vorlegen kann. Sie kündigte umgehende Gespräche mit den EU-Nationalparlamenten und der EU selbst an, um, wie sie es sagt, „Schottlands Platz in der europäischen Familie zu sichern“. Das heißt im Klartext: Die Schotten bereiten ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vor.

Wales: Unabhängigkeit trotz Brexit-Votums?

Und auch in Wales – wo eine knappe Mehrheit der Bevölkerung für den Brexit gestimmt hat – erhalten Unabhängigkeitsbestrebungen von London neue Nahrung. Die Vorsitzende der zweitgrößten walisischen Partei „Plaid Cymru“, Leanne Wood, teilte mit, mit dem Brexit und dem abzusehenden Ausscheiden Schottlands aus dem Vereinigten Königreich höre selbiges „faktisch auf, zu existieren“. Daher müsse man auch in Wales über „neue Wege“ nachdenken, betonte Wood. Als Beispiel nennt sie die Gründung einer „Union unabhängiger Staaten“ mit Schottland und einem vereinigten Irland oder den beiden irischen Staaten. Denn, da ist sich Wood sicher: Die Versprechungen aus Westminster, das arme Wales würde „keinen Penny“ durch den Brexit verlieren, hält sie für eine glatte Lüge.

Und tatsächlich herrscht in Wales vielerorts das Gefühl, von London zumeist recht „stiefmütterlich“ behandelt worden zu sein. Ob eine neue, konservative Regierung jetzt bereit ist, die milliardenschweren Subventionszahlungen von Brüssel zu übernehmen, wird zumindest von „Plaid Cymru“ und der regierenden Labour Partei angezweifelt. Das bedeutet: Ein Unabhängigkeitsreferendum wird auch in Cardiff diskutiert.