Großbritannien verlässt die EU - und sieht sich erheblichen innenpolitischen Turbulenzen ausgesetzt. (Bild: Imago/G. Leber)
Brexit

Aus „Great Britain“ wird „Little England“

Kommentar Mit einer knappen Mehrheit haben sich die Briten für den EU-Ausstieg entschieden. Das „Problem Brüssel“ soll damit für die Insel endgültig der Vergangenheit angehören. Dabei vergisst man in London ganz gern: Die Probleme gehen für das Königreich jetzt erst so richtig los - und das nicht nur bei den Austrittsverhandlungen.

51,9 Prozent – so groß ist der Anteil der mehr als 33 Millionen Wähler, die sich beim Brexit-Referendum für einen Austritt ihres Landes ausgesprochen haben. Die Freude darüber, eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu wissen, war bei Boris Johnson, Nigel Farrage und anderen Populisten deutlich zu spüren. Doch diese Freude dürfte nicht allzu lange anhalten.

Problem Brüssel erledigt – Problem Glasgow bekommen?

„Lasst uns das Problem Brüssel ein für alle Mal für unser Land erledigen“, hatte Boris Johnson seinen Anhängern bei einem der letzten Events der „Leave“-Kampagne noch zugerufen. Zugegeben: Das Problem Brüssel dürfte – zumindest in seiner jetzigen Form – tatsächlich in absehbarer Zeit erledigt sein für das Königreich. Doch damit beginnen die Probleme erst so richtig.

Kleine Mehrheit für überlebensgroße Entscheidung

Dafür gibt es mehrere Gründe: Zunächst einmal haben die Brexit-Befürworter zwar eine Mehrheit – aber keine, die eine derart weitreichende Entscheidung einfach so rechtfertigen würde. Der Widerstand gegen die Entscheidung einer knappen Mehrheit in einer Frage, die das gesamte Land in höchstem Maße betrifft, hat sich schon formiert: Beim britischen Parlament ging bereits eine Petition ein, die ein weiteres Referendum fordert – diesmal allerdings mit dem Zusatz, dass mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigten einem Brexit zustimmen müssen und die Wahlbeteiligung bei mindestens 75 Prozent liegen soll. Auch wenn es wie die Verzweiflungsaktion der Verlierer klingt: Die Petition hat bereits 80.000 Unterstützer – ab 100.000 Unterschriften muss sich das britische Unterhaus mit der Anfrage befassen.

Zerreißprobe für das Königreich

Neben der vergleichsweise geringen Mehrheit macht den Briten aber auch die geographische Verteilung der Stimmen Probleme: Ganz Schottland stimmte beispielsweise für einen EU-Verbleib, ebenso ein Großteil Nordirlands. Das weckt Begehrlichkeiten bei den politischen Gegnern der in London regierenden Tory-Partei. Die Scottish National Party kokettiert bereits öffentlich mit einem weiteren Unabhängigkeitsreferendum – womöglich mit deutlich besseren Chancen als beim ersten Versuch vor zwei Jahren.

Und auch in Irland kann man sich einen sehnsüchtigen Blick auf die nordirischen Nachbarn nicht verkneifen. Die in Dublin regierende Partei Sinn Fein ließ noch am Freitagmorgen verlautbaren, man sehe jetzt eine historische Chance für die Wiedervereinigung der „Grünen Insel“.

Innenpolitische Turbulenzen

Es sieht also so aus, als wären die Austrittsverhandlungen mit der EU – bei der London seine Politik des Rosinenpickens trotz des Ausstiegs fortsetzen wollen wird – nicht das drängendste Problem, mit dem sich David Cameron und sein Nachfolger auseinandersetzen müssen. Vielmehr muss die nächste britische Regierung schauen, dass das EU-Referendum, durch das die Tories die vergangene Wahl so deutlich gewonnen hatten, nicht zu einem Boomerang wird. Sonst ist es wahrscheinlich, dass dem Vereinigten Königreich schon bald seine Einzelteile um die Ohren fliegen. Am Ende könnte aus „Great Britain“ ganz schnell „Little England“ werden.