Balkanroute 2015: Migranten werden vom slowenischen Transitlager an die österreichische Grenze bei Spielfeld geführt. (Bild: Imago/Christian Mang)
Migranten-Studie

Die Massenflucht wird nicht enden

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die syrische Völkerwanderungslawine über die Balkanroute losgetreten. Das schreibt ein Außenpolitik-Forschungsinstitut der EU in einer spannenden Studie über Europas Migrationskrise. Berlins Entscheidung, das Dublin-Abkommen für Syrer zu suspendieren, hat bleibende Folgen: Mafiöse Schleuser-Netzwerke haben sich verfestigt und sorgen nun für Migranten-Nachschub.

Jetzt ist es sozusagen EU-amtlich: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im vergangenen Sommer die syrische Flüchtlingslawine über die Balkanroute losgetreten. Das jedenfalls schreibt das in Paris ansässige Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien EUISS in einer schon im vergangenen November fertiggestellten 31-seitigen Studie über die Migrationswelle des vergangenen Spätsommers und Herbstes (Tuesday Reitano und Peter Tinti: „Survive and Advance. The economics of smuggling refugees and migrants into Europe.“ ISS Paper 289). Die Studie, die auch von der Hanns-Seidel-Stiftung unterstützt wurde, ist das Ergebnis von 200 langen Interviews mit Migranten in Libyen, Ägypten, Griechenland, Italien, Deutschland und Schweden.

Angela Merkels Erklärung vom August 2015

Bis 2015 war auf der sogenannten Balkanroute über die Türkei und die Ägäis – die EU-Grenzschutzagentur Frontex nannte sie die „östliche Mittelmeerroute“ – nicht viel los. Zwischen 2008 und 2014 nahmen im jährlichen Durchschnitt 50.000 Migranten den Weg über die Türkei und die Ägäis nach Schengen-Europa. Kein Wunder, der lange Landweg über Griechenland, Bulgarien, Mazedonien und durch den Westbalkan war beschwerlich. Zudem wandten die südosteuropäischen Länder das Dublin-Abkommen strikt an und registrierten alle Migranten, die ihre Grenzen überquerten – und dann eben in diesen Ländern Asyl beantragen mussten. Das war abschreckend, vor allem für syrische Flüchtlinge, die sich dauerhaft niederlassen wollten – aber eben nicht in einem Westbalkanland. Die Syrer begaben sich darum gar nicht erst auf den Balkantreck, jedenfalls nicht in großen Zahlen.

Nicht nur dass die August-Erklärung durch Deutschlands Kanzlerin das Risiko des Landweges quer durch Osteuropa reduzierte, sondern sie führte außerdem dazu, dass Asylsuchende, Flüchtlinge und Migranten aller Nationalitäten dazu verlockt wurden, in Scharen zu Deutschlands Grenzen zu streben.

Bis zum 21. August 2015. An dem Tag erklärte Berlin, dass es das Dublin-Abkommen auf syrische Flüchtlinge nicht mehr anwenden würde, ganz egal ob sie vorher irgendwo anders registriert worden seien. Damit brachen auf der Balkanroute alle Dämme, schreiben Tuesday Reitano und Peter Tinti in ihrer EUISS-Studie: „Nicht nur dass die August-Erklärung durch Deutschlands Kanzlerin das Risiko des Landweges quer durch Osteuropa reduzierte, sondern sie führte außerdem dazu, dass Asylsuchende, Flüchtlinge und Migranten aller Nationalitäten dazu verlockt wurden, in Scharen zu Deutschlands Grenzen zu streben.“

Mit Deutschlands Entscheidung, das Dublin-Abkommen auszusetzen, wurde Deutschland jedoch nicht nur zum Zielort für Migranten, die sich dort niederlassen wollten, sondern auch für jene, die letztlich in andere westeuropäische Länder wollten, vor allem Schweden.

Ein Problem von vielen: Merkels einsame Entscheidung betraf nicht nur Deutschland, sondern genauso die europäischen Nachbarn, so die EUISS-Studie: „Mit Deutschlands Entscheidung, das Dublin-Abkommen auszusetzen, wurde Deutschland jedoch nicht nur zum Zielort für Migranten, die sich dort niederlassen wollten, sondern auch für jene, die letztlich in andere westeuropäische Länder wollten, vor allem Schweden.“ Wie so vieles hatte Berlin das im August 2015 nicht bedacht. Und von daher rührt die Wut der europäischen Nachbarn, die dann Berlin mit dem hausgemachten Riesenproblem alleine ließen und auf einem EU-Gipfel nach dem anderen regelrecht auflaufen ließen.

Balkanroute wird zur syrischen Super-Autobahn

Dank Merkels Entscheidung wurde die Balkanroute zur „syrischen Super-Autobahn“, so Teitano und Tinti. Mit bedrohlichen langfristigen Folgen für die Herkunftsländer, die Staaten entlang der Route und für die Europäer: Dem syrischen Treck schlossen sich sofort Iraker und Afghanen in großer Zahl an, dazu Pakistanis und Bangladeschis. Entlang der Völkerwanderungsroute wuchsen sofort mafiöse Menschenschmuggel-Netzwerke empor und verfestigten sich. An den Migranten verdienten sie unfassliche Geldsummen – ein Quantensprung für die grenzüberschreitende Organisierte Kriminalität, den die Europäer sicher auch noch in anderen Bereichen zu spüren bekommen werden.

Ein Quantensprung für die grenzüberschreitende Organisierte Kriminalität

Jetzt wollen und können die Schlepper und Schleuser auf die Riesengewinne nicht mehr verzichten und sorgen nun selbst für weiteren Migrantennachschub – durch Rekrutierung und Werbung in türkischen, jordanischen und libanesischen Flüchtlingslagern oder gleich in mittelöstlichen, südasiatischen oder afrikanischen Herkunftsländern. Das wirkt sich auf die anderen Migrantenrouten aus, etwa die über Libyen und Sizilien. Bis 2014 hatten viele Syrer diesen Weg nach Europa gewählt. Dass die Syrer 2015 alle den Weg über die Ägäis und die Balkanroute nahmen, hat man in Lampedusa und Sizilien kaum gemerkt, jedenfalls nicht zahlenmäßig: Die Migranten aus Syrien wurden fast vollständig durch Afrikaner ersetzt. 150.000 Migranten wählten 2015 diese Mittelmeerroute.

Die Massenflucht geht immer weiter

Nebenbei erledigt die EUISS-Studie einen sorgsam gepflegten Berliner Mythos: Die syrische Massenflucht ist eben kein vorübergehendes Phänomen. Die Syrer werden nicht zurückkehren, sobald der Bürgerkrieg in Syrien endet. Zum einen ist ein Ende des Krieges in Syrien nicht im Ansatz in Sicht. Zum anderen wollen sie gar nicht zurückkehren. Die Syrer, haben Reitano und Tinti in ihren vielen Interviews in Erfahrung gebracht, sind gekommen, um zu bleiben: „Die Syrer wandern aus der Region aus, auf der Suche nach langfristigen Aussichten. Da ein Ende des Konflikts nicht in Sicht ist, wollen sich die Syrer unbedingt in Ländern registrieren, wo ihnen ein langfristiges Auskommen sicher ist.“

Ich habe vor, hier zu bleiben. Ich habe soviel durchgemacht, um hier her zu kommen. Warum sollte ich wieder gehen?. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der es nach Europa geschafft hat, nach Syrien oder irgendein arabisches Land zurückkehren wird. Das wäre doch dumm.

Syrische Migrantin in Deutschland.

Eine 20-jährige Syrerin hat es Reitano und Tinti in Deutschland erklärt: „Ich habe vor, hier zu bleiben. Ich habe soviel durchgemacht, um hier her zu kommen. Warum sollte ich wieder gehen? Ich will die Sprache lernen und irgendeine Arbeit bekommen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und meine Schulden abzubezahlen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der es nach Europa geschafft hat, nach Syrien oder irgendein arabisches Land zurückkehren wird. Das wäre doch dumm. Ich kenn nicht die genauen Details der Rechtslage hier, aber wir wissen, dass dies das Land der Freiheit ist. Wir wissen, dass die Polizei einen hier nicht drangsalieren kann, zum Beispiel. Das allein ist schon gut.“

Auch ein Migrantenmagnet: Schweden

Der andere große Migranten-Magnet war Schweden − mit besonders großzügigen Leistungen für Asylanten und ebenso großzügigen Regeln für den Familiennachzug. Was Teitano und Tinti nicht erwähnen: Auch Schweden hatte schon ein Jahr zuvor ebenfalls das Dublin-Abkommen beschädigt und allen syrischen Flüchtlingen unbefristete Aufenthaltsbewilligung versprochen − wenn sie es unregistriert nach Schweden schafften. Richtig ist die Beobachtung, dass Migranten, die sich mit gefälschten Pässen auf den Weg machen, vor allem mit gefälschten schwedischen Pässen unterwegs sind.

Einige hundert Schweden verkaufen ihre Pässe jährlich drei, fünf oder gar zehn Mal und erhalten ebenso oft einen neuen Ausweis.

Neue Zürcher Zeitung

Unerwähnt bleibt dabei der Hinweis auf groteske schwedische Fahrlässigkeit:  Wohl nirgendwo sonst werden so viele Pässe „verloren“ wie in Schweden, berichtete im Januar 2015 die Neue Zürcher Zeitung. 2013 gingen 59.000 schwedische Reisepässe verloren, 2014 sprach die schwedische Polizei von 177.000 „verlorenen“ Pässen. Für etwa 30 Euro wird in Schweden jeder „verlorene“ Pass innerhalb von fünf Arbeitstagen ersetzt, so die NZZ: „Einige hundert Personen haben dieses Prozedere zur Methode gemacht: Sie verkaufen ihre Pässe jährlich drei, fünf oder gar zehn Mal und erhalten ebenso oft einen neuen Ausweis.“ Auf dem Schwarzmarkt in Istanbul soll Anfang 2015 ein schwedischer Reisepass etwa 3000 Euro gekostet haben.

Italienische Marine hat die Migration über das Mittelmeer massiv gefördert

Auch dies ist mit der EUISS-Studie sozusagen ein amtlicher EU-Befund: Die Rettungsaktion Mare Nostrum der italienischen Marine von November 2013 bis Oktober 2014 hat der gefährlichen Migration über die Mittelmeerroute nicht entgegen gewirkt, sondern sie regelrecht gefördert. Auch das hat bleibende Wirkung für die Europäer: „Mare Nostrum hat die Dynamik der Libyen-Migration signifikant verändert.“ Weil die italienischen Schiffe unmittelbar vor der libyschen Küste kreuzten, mussten die Menschenschmuggler ihre Fracht nicht mehr 160 Seemeilen bis nach Sizilien schaffen, sondern nur noch zwölf Seemeilen weit aus den libyschen Hoheitsgewässern hinaus ins offene Meer. Dann wurde nach der italienischen Marine telefoniert, die auch sofort kam.

Mare Nostrum hatte eine unerwartete Folge. Die kriminellen Schleuser-Organisationen nutzten die neuen Gelegenheiten und erhöhten absichtlich das Risiko, um die italienische Marine zu zwingen, näher zur afrikanischen Küste zu kommen. So konnten sie ihre Kosten senken und die Preise für die Migranten.

Staatsanwalt in der sizilianischen Hafenstadt Catania

Das hatte dramatische Folgen für das Schleusergeschäft: Die Kosten sanken, für die Schleuser und für die Migranten. Die Boote hatten nur noch wenig Benzin an Bord und keine Schleuser-Mannschaft mehr. Statt halbwegs seetüchtiger Boote reichten nun Schlauchboote. Ein Staatsanwalt in der sizilianischen Hafenstadt Catania erklärt, was passiert ist: „Mare Nostrum hatte eine unerwartete Folge. Die kriminellen Schleuser-Organisationen nutzten die neuen Gelegenheiten und erhöhten absichtlich das Risiko, um die italienische Marine zu zwingen, näher zur afrikanischen Küste zu kommen. So konnten sie ihre Kosten senken und die Preise für die Migranten.“ Mare Nostrum hat die Migrationsroute aus Westafrika und der Sahelzone über Libyen und Sizilien erst richtig in Schwung gebracht. Und auch dabei wird es bleiben. Denn auch die geschäftstüchtigen Schleuser in Libyen oder Niger haben natürlich längst begonnen, immer mehr Migranten zu locken, zu werben und zu rekrutieren. Mit völlig aus der Luft gegriffenen Versprechen über soziale Wohltaten in Europa, und genau deshalb mit Erfolg.

Warum plötzlich soviele Migranten aus Ostafrika?

Die Ursachen für den Migrantenstrom aus Syrien kann man leicht begreifen: der nicht enden wollende Bürgerkrieg. Aber warum hat sich in den letzten zwei Jahren die Zahl der Migranten etwa aus Eritrea verzehnfacht? Die Lebensbedingungen am Horn von Afrika sind nicht erfreulich. Aber sie haben sich in den vergangenen zehn Jahren auch nicht dramatisch verändert. Warum also der plötzliche Sprung bei den Migrantenzahlen? Verändert habe sich für die Ostafrikaner eigentlich nur eines, beantworten Reitano und Tinti ihre Frage: „Die Schleuser-Netzwerke sind aktiver und virulenter geworden. Um ihre Profite zu steigern, haben sie die Migrantenzahlen in die Höhe getrieben, in dem sie aktiv Migranten rekrutieren und nun überall in Ostafrika ihre Dienste anbieten.“

Nicht die Ärmsten der Armen machen sich auf den Weg, sondern der lokale Mittelstand: Migration ist ein teures Geschäft.

Die Völkerwanderung ist möglich geworden: Die Schleuserinfrastruktur steht, überall in Afrika. Den Afrikanern geht es nicht schlechter als vor Jahrzehnten, sondern etwas besser. Immer mehr können sich den Weg nach Europa leisten. Nicht die Ärmsten der Armen machen sich auf den Weg, sondern der lokale Mittelstand, beobachten Reitano und Tinti: „Migration ist ein teures Geschäft.“ Paradoxe Folge für europäische Politik: Wenn Entwicklungshilfe wirkt und zur Folge hat, dass es den Afrikanern noch etwas besser geht, werden sich womöglich nicht weniger, sondern noch mehr von ihnen auf den Weg nach Europa machen können.

Afrikas dramatische Bevölkerungsexplosion

Ein anderer Faktor ist Afrikas dramatische Bevölkerungsexplosion: Seit 1950 hat sich Afrikas Bevölkerung von 238 Millionen auf heute 1,2 Milliarden gut verfünffacht. Bis 2050 wird sich die Zahl der Afrikaner auf 2,4 Milliarden noch einmal verdoppeln. Für das Jahr 2100 nimmt die UN 4,4 Milliarden Afrikaner an. In den meisten afrikanischen Staaten kann das Wirtschaftswachstum mit solcher demographischer Entwicklung nicht entfernt mithalten. Sie sind dem Bevölkerungsdruck ausgeliefert, was Folgen haben wird − für die Afrikaner und die Europäer.

Die Europäer werden sich vor dem Völkerwanderungsdruck aus Afrika entschlossen schützen müssen.

Nicht nur Dutzende, sondern Hunderte von Millionen Afrikaner werden darum in den nächsten Jahrzehnten nach Europa blicken, und immer mehr werden sich auf den Weg machen. Überraschenderweise sprechen die EUISS-Autoren Afrikas albtraumhafte demographische Entwicklung gar nicht an. Vermutlich, weil sie die zwingende Schlussfolgerung nicht mögen: Die Europäer werden sich vor dem Völkerwanderungsdruck aus Afrika entschlossen schützen müssen.

Was tun?

Die Migration wird weiter anschwellen, wissen auch Reitano und Tinti in ihrer Studie. Aber sie suchen nach europäischen Lösungen und befürworten „eine klar kommunizierte Politik des Willkommens und der Unterstützung für diejenigen Migranten mit berechtigtem Anspruch auf Flüchtlingsstatus und Asyl“. In den Herkunftsregionen sollten Bewerbungszentren für Syrer, Somalier, Eritreer und auch für Westafrikaner eingerichtet werden, raten sie. Doch das wird an den unfassbaren Zahlen potentieller Migranten scheitern.

Vollends ein Greuel sind den beiden EUISS-Autoren unilaterale Aktionen einzelner EU-Mitgliedstaaten und natürlich „physische Barrieren und Grenzkontrollen“. Ihre Einschätzung stammt vom November vergangenen Jahres und darf als widerlegt gelten: Nicht eine europäische Lösung hat die Balkanroute geschlossen, sondern die unilaterale Initiative Österreichs zur Sperrung der mazedonisch-griechischen Grenze. Und die meisten EU-Partner sind Wien dafür sehr dankbar.