„Europa kann nicht alle Migranten aufnehmen“
Vor dem EU-Gipfel übernimmt Frankreich die Führung der Gegner der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel: Paris will maximal 30.000 Migranten aufnehmen und lehnt Kontingente ab. Osteuropäische Staaten wollen die griechisch-mazedonische Grenze abriegeln – notfalls auch mit Soldaten. Österreichs selbstgesetzte Obergrenze ist schon fast erreicht.
Warnung aus Paris

„Europa kann nicht alle Migranten aufnehmen“

Vor dem EU-Gipfel übernimmt Frankreich die Führung der Gegner der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel: Paris will maximal 30.000 Migranten aufnehmen und lehnt Kontingente ab. Osteuropäische Staaten wollen die griechisch-mazedonische Grenze abriegeln – notfalls auch mit Soldaten. Österreichs selbstgesetzte Obergrenze ist schon fast erreicht.

In der Migrantenkrise stehen die Zeichen auf Sturm zwischen Berlin und Paris. Auf dem nächsten Brüsseler EU-Gipfel will Berlin eine europäischen Einigung über die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingskontingenten erreichen. Aber Tage vor dem Treffen findet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel fast vollständig isoliert. Jetzt hat auch der große und entscheidende Partner Frankreich offen Farbe bekannt – und sich demonstrativ gegen die Zuwanderungspolitik von Angela Merkel gestellt. Das wird Folgen haben für das „couple franco-allemand“ – das französisch-deutsche Ehepaar – wie die Franzosen die für Europa so wichtige Verbindung über den Rhein hinweg gerne nennen.

Klartext aus Paris: Berlin muss endlich Vernunft annehmen

Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz steckte Premierminister Manuel Valls die Grenzen französischer Kompromiss- und Aufnahmebereitschaft unmissverständlich ab: „Frankreich hat sich engagiert, 30.000 Flüchtlinge zu übernehmen. Dazu sind wir bereit, aber nicht zu mehr.“ Das war nichts anderes als die Formulierung einer französischen Asylanten-Obergrenze: 30.000. Dazu werden dann noch jene Migranten kommen, die Frankreich direkt erreichen. Im vergangenen Jahren waren das 79.000 – eine Zahl, die Paris deutlich zu hoch war.

Frankreich hat sich engagiert, 30.000 Flüchtlinge zu übernehmen. Dazu sind wir bereit, aber nicht zu mehr.

Frankreichs Premierminister Manuel Valls

Außerdem will Paris von der Einführung eines dauerhaften Systems von Kontingenten zur Aufnahme und EU-weiten Umverteilung von Migranten nichts wissen. Valls: „Frankreich lehnt dies ab.“ Jetzt ginge es stattdessen darum, das umzusetzen, so Valls, was auf früheren Gipfeln schon beschlossen worden sei: die Kontrolle der Außengrenzen und der Aufbau von Registrierungszentren für Flüchtlinge in Italien und Griechenland.

Europa kann nicht alle Migranten aus Syrien, Irak oder aus Afrika aufnehmen. Es muss die Kontrolle über seine Grenzen, über seine Migrations- und über seine Asylpolitik wieder erlangen.

Manuel Valls

Valls beließ es nicht bei der Beschreibung der französischen Positionen, sondern rechnete in harten Tönen mit Berlins Flüchtlingspolitik ab. Er bewundere die deutsche Aufnahmebereitschaft, erklärte er in München und fügte dann hinzu: „Aber Frankreich hat nicht gesagt: ‚Kommt nach Frankreich‘.“ In einem Zeitungsgespräch fügte Valls eine klare Forderung an die Adresse Berlins hinzu: „Unsere begrenzten Aufnahmekapazitäten, die Spannungen der vergangenen Wochen – in Deutschland aber auch anderswo in Europa – verpflichten uns, die Dinge klar auszusprechen: Europa kann nicht alle Migranten aus Syrien, Irak oder aus Afrika aufnehmen. Es muss die Kontrolle über seine Grenzen, über seine Migrations- und über seine Asylpolitik wieder erlangen.“ Was im Klartext bedeutet: Berlin muss endlich Vernunft annehmen. Härter als jetzt ausgerechnet die Franzosen hat das noch kein europäischer Partner formuliert.

Frankreichs Position ist schon lange bekannt

Valls Münchner Klartext konnte eigentlich niemanden überraschen. „Ich kenne deren Auffassung“, betonte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer: „Ich kenne auch die Motivation. Und die werden sich auch keinen Jota bewegen.“ Horst Seehofer hat recht. Das gleiche wie in München hat Valls schon am 24. September im französischen Fernsehen unüberhörbar deutlich ausgesprochen, als Brüssel die europaweite Verteilung von 160.000 Migranten erzwang: „Frankreich hat vorgeschlagen, davon 30.000 zu übernehmen. Mehr werden es nicht werden.“ Auch damals hatte Valls schon die Pariser Forderung nach einem Stopp-Signal betont: „Eine Botschaft ist sehr wichtig: Wir können in Europa nicht alle diejenigen aufnehmen, die vor der Diktatur in Syrien fliehen“ (Bayernkurier Online vom 25. 11. 2015).

Auffällig: Frankreichs Präsident Franςois Hollande hat das Wort „Kontingent“ all die Monate nie in den Mund genommen.

Auch die Pariser Position zur Einführung von permanenten Migrantenkontingenten ist schon lange augenfällig: Bei zwei Vorgipfeln, auf denen es um die Kontingente ging, glänzte Staatspräsident Franςois Hollande durch Abwesenheit. Beide Male angeblich aus Termingründen. Wer den Präsidenten genauer beobachtete, nahm auch wahr: Das Wort „Kontingent“ hat Hollande all die Monate nie in den Mund genommen. Berlin musste Frankreichs Position kennen – und hat dennoch sehenden Auges in einen schweren Konflikt mit Deutschlands wichtigstem europäischem Partner provoziert. Das kann lange, schwerwiegende Folgen zeitigen – für Deutschland und für Europa.

Berlin begreift Frankreichs Haltung nicht

Es gibt dafür nur eine Erklärung, die nichts besser macht: Berlin begreift Frankreichs Haltung nicht. Berliner Beobachter verweisen dazu gerne auf den Aufschwung von Marine Le Pen und ihrem rechtspopulistischen Front National. Die Erklärung greift zu kurz. Es geht um viel mehr als französische Parteipolitik und Hollandes Zustimmungswerte: Frankreich ist schlicht nicht in der Lage große sechsstellige Migrantenzahlen aufzunehmen, so wie Berlin sich das wünscht.

Frankreichs Banlieues vertragen keinesfalls den Zustrom von weiteren Hunderttausenden arabischen und afrikanischen Migranten.

Wer es wissen wollte, konnte es wissen. Denn im vergangenen Herbst haben die Franzosen es eine ganze Woche lang in allen französischen Zeitungen und auf allen TV-Kanälen ausführlich erklärt. Am vergangenen 27. Oktober erinnerte sich Frankreich an die wochenlangen Krawalle in seinen Banlieue-Vorstadtsiedlungen im Herbst 2005. Die Bilanz nach genau zehn Jahren fiel allgemein düster aus: Frankreich hat in zehn Jahren viel getan für die Immigranten-Bevölkerung in den Banlieues und 48 Milliarden Euro ausgegeben. Aber die alten Probleme sind geblieben und größer geworden: noch mehr Drogenhandel, noch mehr Waffen, noch mehr Salafismus und islamische Radikalisierung. Das Land hat Angst vor der Explosion. Unausgesprochene Schlussfolgerung aller Analysen: Frankreichs Banlieues vertragen keinesfalls den Zustrom von weiteren Hunderttausenden arabischen und afrikanischen Migranten. In allen französischen Fernsehsendern war das zu sehen (Bayernkurier Online v. 29.10.2015). In praktisch allen französischen Zeitungen war es nachzulesen. Aber im Bundeskanzleramt hat es offenbar niemand wahrgenommen. Das erschreckt.

Plan B: Abriegelung der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland

Die EU-Krise, die sich derzeit anbahnt, wird stündlich gefährlicher: Mit Valls Klartext-Ansprache übernimmt Paris gewissermaßen die Führung eines inzwischen europaweiten Aufstands gegen Bundeskanzlerin Merkels Migrantenpolitik. Es wird gefährlich – für die Europäische Union. An diesem Montag haben sich die vier osteuropäischen Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn in Prag zum Gipfel getroffen, um zur Bewältigung der Flüchtlingskrise einen Plan B auf die Beine zu stellen – ohne und gegen Deutschland. Mazedonien soll seine Grenze zu Griechenland abriegeln, und die vier Visegrad-Länder wollen dem kleinen Westbalkanland dabei alle nötige Hilfe zukommen lassen.

Österreichs Obergrenze von 37.500 Migranten wird im Laufe der nächsten Woche erreicht sein.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz

Der slowakische Außenminister Miroslaw Lajcak erklärt im Wochenmagazin Spiegel worum es geht: Solange eine gemeinsame europäische Strategie fehlt, ist es legitim, dass die Staaten auf der Balkanroute ihre Grenzen schützen. Dabei helfen wir ihnen.“ Die Visegrad-Länder wollen die Balkanroute abriegeln, und Mazedonien wird sich dem nicht entziehen können: Denn auch Österreich, Kroatien und Slowenien haben ihre Hilfe angeboten. Was eine implizite Drohung ist: Wenn diese Länder und dann auch Serbien ihre Grenzen schließen, muss Mazedonien folgen. Sonst stranden hunderttausende Migranten in dem kleinen Westbalkanland.

Österreich vor dem Limit

Die Visegrad- und die Westbalkanstaaten drohen damit, Griechenland seinem Schicksal zu überlassen und es de facto aus der Schengenzone herauszudrücken. Dramatisch für Berlin: Auch sein bisheriger Partner Wien macht mit – an vorderster Front. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz hat Mazedonien schon angeboten, an der mazedonisch-griechischen Grenze mit Grenzschützern und Technik auszuhelfen – „eventuell sogar mit Soldaten, wenn diese gebraucht werden sollten“. Auch SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann erklärte sich im Interview mit der Zeitung Österreich bereit, gegebenenfalls Soldaten zu entsenden: „Ob Soldaten oder Polizisten ist offen, aber wir werden sicher einen Beitrag leisten.“ Faymann denkt schon über die Balkanroute hinaus und will auch an der Brenner-Grenze mit Italien  wieder Grenzkontrollen einführen. Mit Italiens Premierminister Matteo Renzi hat Faymann schon darüber gesprochen. Renzi war alles andere als begeistert über die Aussicht auf Grenzsperren am Brenner. Faymann im Interview: „Ich muss machen, was für Österreich am besten ist. Auch wenn Italien keiner Freude hat – ich muss Verantwortung für Österreich wahrnehmen.“

Ja, ich bin im Widerspruch zu Deutschland. Aber wir können dieses Jahr nicht wieder 90.000 Flüchtlinge aufnehmen. Das geht nicht.

Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann

Österreich, die Visegrad-Staaten und die anderen Länder haben schlicht Angst vor dem Frühjahr und dem Fortgang der Völkerwanderung aus dem Mittleren Osten und Afrika über die Balkan-Route oder über die Nordafrika-Route über Sizilien und den Brenner. Alle sehen die nächste Welle von Migranten schon kommen: Bis zum 13. Februar haben in diesem Jahr bereits 77.000 Migranten von der türkischen Küste zu den griechischen Ägäis-Inseln übergesetzt – 17 Mal so viele wie im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres (4567). Jeden Tag kommen derzeit trotz Winterwetter und trotz gefährlichen Seegangs 2000 Migranten in Griechenland an. Ein böses Vorzeichen für das, was im Frühjahr und Sommer droht. „Wir sind nun gespannt, was im Frühjahr passiert“, sagt denn auch ein Offizier der griechischen Küstenwache auf der Ägäis-Insel Chios. Österreichs Bundeskanzler Faymann macht Druck: „Wir haben bereits Februar. Ich bin nicht bereit, weiter Zeit verstreichen zu lassen. Dafür ist es zu spät. Im März wird mit weiteren Flüchtlingsströmen gerechnet.“

Ich muss machen, was für Österreich am besten ist. Auch wenn Italien keiner Freude hat – ich muss Verantwortung für Österreich wahrnehmen.

Werner Faymann

Wien ist entschlossen, an seiner Migranten-Obergrenze für das Jahr 2016 festzuhalten. Doch die ist schon jetzt nicht mehr fern, warnt Außenminister Kurz: „Österreich hat eine Obergrenze von 37.500 beschlossen, und diese wird im Laufe der nächsten Woche erreicht sein.“ Wien, heißt das, hat die Hand schon an der Notbremse und ist zu allem entschlossen, notfalls auch gegen Berlin. Faymann: „Ja, da bin ich auch im Widerspruch zu Deutschland. Aber wir können dieses Jahr nicht wieder 90.000 Flüchtlinge aufnehmen. Das geht nicht.“
Die Völkerwanderung muss enden. Ganz Europa schreit nach der Obergrenze. Wann hört es Berlin?