Türkei verliert „vierte Gewalt“
Die auflagenstärkste Oppositionszeitung der Türkei ist auf Regierungslinie gebracht worden. Ab sofort steht "Zaman" unter der Aufsicht einer staatlichen Treuhandverwaltung. Der Zeitpunkt ist von Ankara geschickt gewählt: Die EU ist in der Flüchtlingskrise auf das Land angewiesen. Die Übernahme - als massiver Eingriff in die Pressefreiheit kritisiert - soll dennoch Thema auf dem EU-Gipfel sein.
Pressefreiheit

Türkei verliert „vierte Gewalt“

Die auflagenstärkste Oppositionszeitung der Türkei ist auf Regierungslinie gebracht worden. Ab sofort steht "Zaman" unter der Aufsicht einer staatlichen Treuhandverwaltung. Der Zeitpunkt ist von Ankara geschickt gewählt: Die EU ist in der Flüchtlingskrise auf das Land angewiesen. Die Übernahme - als massiver Eingriff in die Pressefreiheit kritisiert - soll dennoch Thema auf dem EU-Gipfel sein.

Schwarze Titelseite, Aufdruck „Die Verfassung ist ausgesetzt“. Das war früher, am letzten Tag unter alter Redaktionsführung. Jetzt lächelt einem Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan von der Titelseite der Zaman entgegen. Und Themen sind unter anderem Prestigeprojekte Erdogans wie die fast fertiggestellte dritte Bosporus-Brücke.

Zaman ist wichtiges Sprachrohr in der Türkei

Die Website war in ihrer bisherigen Form nicht mehr abrufbar. Stattdessen war zu lesen, bald werde es „noch qualitativere und objektivere“ Berichterstattung geben. Am 4. März hatten Polizisten das Redaktionsgebäude von Zaman in Istanbul gestürmt. Sie gingen dabei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Demonstranten vor, die sich vor dem Haus versammelt hatten. Die Zeitung war zuvor von Richtern mit Sondervollmachten unter Aufsicht einer staatlichen Treuhandverwaltung gestellt worden. Eine offizielle Begründung gab es nicht.

Zaman hatte nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr eine tägliche Auflage von rund 850.000 Stück. Sie war damit die auflagenstärkste Zeitung der Türkei. Ein Zaman-Reporter sagte der Deutschen Presse-Agentur, die staatliche Treuhandverwaltung habe den Chefredakteur abgesetzt. Abdulhamit Bilici verließ das Redaktionsgebäude unter Beifall der Mitarbeiter. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), verurteilte das Vorgehen der türkischen Staatsführung als schweren Schlag gegen die Pressefreiheit. „Es ist kein Zufall, dass dieser staatliche Angriff auf die Pressefreiheit zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem die EU mit der Türkei eine Vereinbarung über die Rücknahme von Flüchtlingen trifft“, zitiert ihn die Welt am Sonntag.

EU ist auf Türkei angewiesen

Die EU ist bei der Verringerung der Flüchtlingszahlen dringend auf die Kooperation der Türkei angewiesen. Zur Entlastung der Europäer will die Türkei Migranten ohne Asylanspruch wieder rasch aus Griechenland zurücknehmen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte die Türkei noch kurz vor dem rabiaten Vorgehen gegen die Zeitung wegen ihrer Flüchtlingspolitik gelobt. „Ankara hat unter humanitären Gesichtspunkten zuletzt Bemerkenswertes geleistet. Dort sind 2,5 Millionen Flüchtlinge aus der Krisenregion in Syrien aufgenommen worden. Das verdient Anerkennung und nicht Kritik. Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein“, sagte er der Passauer Neuen Presse.

Pressefreiheit in Gefahr

In der Türkei und auch international wurde die Maßnahme als massive Einschränkung der Pressefreiheit kritisiert. „Damit werden die letzten Reste der Pressefreiheit in der Türkei ausgehebelt“, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes Frank Überall. Vertreter der größten Fraktionen im EU-Parlament forderten die europäischen Staats- und Regierungschefs auf, die Ereignisse beim EU-Türkei-Gipfel zu thematisieren. Regierungschef Ahmet Davutoglu wies die Kritik zurück. „Das sind absolut juristische und keine politischen Vorgänge“, sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu bei einem Besuch im Iran.

Übernahme löst Proteste aus

Die Entscheidung der Sonderrichter kann nach Angaben des regierungskritischen Anwalts Ayhan Erdogan zwar einem ordentlichen Gericht zur Prüfung vorgelegt werden, der Ausgang eines solchen Verfahrens sei jedoch ungewiss. Zaman steht der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahe, der im US-Exil lebt. Gülen war einst Verbündeter des islamisch-konservativen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, hat sich mit ihm aber überworfen. Gülens „Hizmet“-Bewegung wurde in der Türkei zur Terrororganisation erklärt. Gülen wird vorgeworfen, in der Türkei „parallele Strukturen“ – also einen Staat im Staate – gegründet zu haben mit dem Ziel, Erdogan zu entmachten.

Kampfansage gegen kritische Medien

Regierung und Justiz sind in den vergangenen Monaten gegen mehrere kritische Medien vorgegangen, von denen nicht alle der Gülen-Bewegung nahestehen. Auch die Gülen-nahe Zeitung Bugün wurde im vergangenen Jahr unter Treuhandverwaltung gestellt und auf Regierungskurs gebracht. Der Chefredakteur der unabhängigen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und der Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül waren im November verhaftet worden. Ihnen wird unter anderem Spionage und Geheimnisverrat vorgeworfen. Hintergrund ist ein Artikel der beiden über angebliche Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien. Zwar ordnete das Verfassungsgericht vergangene Woche die Freilassung der beiden an, ihnen droht aber weiterhin lebenslange Haft. Erdogan hatte den Gerichtsbeschluss mit den Worten kommentiert: „Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht.“ Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten.