Der Nordausgang des Gotthard-Tunnels. (Bild: Imago/Kyodo News)
Gotthardtunnel

„Flachbahn“ der Superlativen

Mit je 57 Kilometern sind die zwei Röhren durch die Schweizer Alpen der längste Eisenbahntunnel der Welt. Zeitgewinn: bis zu 45 Minuten. Doch in Deutschland befürchten viele mit der Eröffnung des Tunnels mehr Güterzuglärm. So verzögern Bürgerinitiativen den Bau einer Zubringerstrecke. In Bayern hingegen kommt die Elektrifizierung der Strecke München-Lindau durch das europäische Großprojekt voran.

Eine Feier in den Alpen um die Verbindung der Staaten Europas zu stärken. Während die politischen Positionen in jüngster Zeit oft unvereinbar waren, rücken die Länder am Gotthard wieder näher zusammen. Elf Milliarden Euro hat es gekostet, 17 Jahre haben die Bauarbeiten gedauert, jetzt ist es soweit: der Gotthard-Basistunnel ist als Herzstück der „Neuen Eisenbahn-Alpentransversale“ (NEAT) eröffnet. 20 Minuten dauert die Fahrt durch den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi begleiteten den „historischen Moment“, wie der Schweizer Bundespräsident Johann Schneider-Ammann den Augenblick bezeichnete. Mit diesem europäischen Großprojekt sollen Teile des Güterverkehrs zwischen dem Nordseehafen Rotterdam und Genua am Mittelmeer von der Straße auf die Schiene verlegt werden.

Züge fahren günstiger und schneller

Was den neuen vom alten Tunnel unterscheidet, ist neben der viel größeren Länge vor allem die enorme Tiefe, die gerade Strecke und seine Ebenerdigkeit. Die Gleise des „Jahrhundertwerkes“ verlaufen bei nur geringen Steigungen sowie ohne enge Kurven auf einer Höhe von maximal 550 Metern über dem Meeresspiegel. Experten sprechen von einer „Flachbahn“. Der größte Vorteil des neuen Tunnels: Güterzüge brauchen nur noch eine statt zwei Lokomotiven dank der geringen Höhe und des ebenen Streckenverlaufs. Das macht den Verkehr preisgünstiger und die Züge können schneller fahren – Personenzüge mit bis zu 250 Stundenkilometern, Güterzüge mit bis zu 160 km/h. Darüber türmt sich bis zum Gipfel des Gotthards bis zu 2300 Meter Fels.

Bürger protestieren gegen Lärm

Schon jetzt ist die Schienenstrecke die am stärksten befahrene in Europa. Teilweise direkt vor den Schlafzimmerfenstern der Anwohner. Deshalb fürchten Menschen an deutschen Bahnstrecken mehr Lärm und längere Güterzüge. Kommunalpolitiker fordern deshalb Nachtfahrverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen sowie Alternativstrecken für Güterzüge in den bebauten Ortslagen. Bereits zahllose Bürgerinitiativen haben die in einem Staatsvertrag mit der Schweiz ausgehandelten Arbeiten an der Zubringerstrecke zwischen Karlsruhe und Basel in Verzug gebracht. Der viergleisige Ausbau der Rheintalstrecke wird wohl erst 2035 fertig sein, laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Bahnchef Rüdiger Grube verteidigte die Verzögerungen beim Ausbau der Zubringerstrecken für den neuen Gotthard-Tunnel. Der Ausbau der deutschen Zubringerstrecke Karlsruhe-Basel brauche die Unterstützung der Bürger, sagte Grube angesichts von 170.000 Einwendungen von Anwohnern, Gemeinden und Landkreisen. Es liege daher in der Natur der Abläufe, dass Zeitziele nicht immer eingehalten werden könnten. Es gehe Schritt für Schritt weiter. Andererseits sei damit zu rechnen, dass der Tunnel „eine Katalysatorwirkung haben wird“ – also auf deutscher Seite schneller gebaut wird. Dazu gehörten auch Güterbahnhöfe, auf denen extralange Züge bis 740 Meter für den Alpentransit zusammengestellt werden könnten.

Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) spricht hingegen von einer Blamage der Verkehrspolitik. Statt entschlossen auf die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene hinzuwirken, habe Berlin wichtige internationale Zusagen für das NEAT-Projekt nicht erfüllt, kritisiert der Verkehrsclub. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) sicherte zu, dass Deutschland alles daran setzen werde, den Güterverkehr Richtung Gotthard steigern zu können. In den Ausbau der Rheintalstrecke seien bisher zwei Milliarden Euro investiert worden, weitere 6,5 Milliarden Euro stünden bereit, sagte der CSU-Politiker im SRF.

Gotthard-Tunnel bringt auch Bayern voran

In Bayern hat der Gotthard-Bahntunnel jedenfalls Auswirkungen: Die Elektrifizierung der Bahnstrecke München-Lindau wurde erst durch Schweizer Druck und eine finanzielle Beteiligung des Alpenlandes möglich. Die Schweiz möchte die Strecke München–Zürich als Zulaufstrecke für die neue europäische Nord-Süd-Transitachse nutzen. Durch den Ausbau sollen künftig in beide Richtungen acht Züge pro Tag fahren, derzeit sind es vier. Die Fahrtzeit könnte sich von vier auf dreieinhalb Stunden verkürzen. Das Herzstück dafür ist der Ausbau zwischen den bayerischen Regionen Oberbayern und Schwaben sowie dem Bodensee. Der Abschnitt zwischen München und Geltendorf wurde bereits elektrifiziert. Nun folgt die Elektrifizierung und der Ausbau der Teilstrecke Geltendorf – Lindau. Bis 2020 soll die Bahnstrecke München-Lindau modernisiert sein. Verkehrsminister Joachim Herrmann will jetzt auch den Bau des Brenner Basistunnels voranbringen:

Umso wichtiger ist es mir, dass jetzt auch der Bau des Brenner Basistunnels zügig voranschreitet. So wird der Tunnel unter dem Brenner den Tunnel unter dem Gotthard im Alpen querenden Verkehr ergänzen und die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene massiv erhöhen. Davon profitieren die bayerische und deutsche Wirtschaft. Übrigens wird der Brennertunnel dann den Gotthardtunnel auch den Rekord des längsten Eisenbahntunnels der Welt abnehmen.

Joachim Herrmann, Bayerischer Verkehrsminister

Zukunftsprojekt „Cargo sous terrain“

Wenn der Tunnel am 11. Dezember für den kommerziellen Betrieb geöffnet wird, ist die Zeit der Baustellen am Gotthardmassiv aber noch nicht vorbei. Ende Februar haben die Schweizer über eine weitere Autoröhre abgestimmt, 57 Prozent waren dafür (der Bayernkurier berichtete). Noch einflussreicher könnte ein Projekt werden, das im Moment noch in der Ideenphase ist: Cargo sous terrain, eine Art U-Bahn für Gegenstände, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Damit sollen dann Lebensmittel in die Supermarktlager und Online-Shopping-Pakete fast bis an die Haustür versendet werden, per Elektrofahrzeug ohne Lokführer.

Gotthard als Symbol

Das „Ja“ zum Gotthard-Basistunnel gab das Volk übrigens 1998 in einem Referendum. Und auch heute noch stehen die Schweizer hinter dem Großprojekt, das zeigte eine Umfrage: Acht von zehn Schweizern erachten demnach die Milliardenkosten für gerechtfertigt. Als Grund nannten sie erwartete wirtschaftliche Vorteile. Zudem erklärten 80 Prozent der Befragten, dass solche Projekte wichtig seien „für das Bild der Schweiz im Ausland“.

Bahnbetrieb startet im Dezember

Bis zur Aufnahme des regulären Bahnbetriebs wird noch einige Zeit vergehen. Noch fehlen leistungsfähige Zubringerstrecken, nicht nur in Deutschland, auch in der Schweiz und in Italien. Als wichtiges Verbindungsstück nach Süden ist auf Schweizer Gebiet der 15 Kilometer lange Ceneri-Tunnel im Bau. Er soll 2020 betriebsbereit sein. Erst nach 3000 weiteren Testfahrten soll die Strecke kurz vor Weihnachten endgültig freigegeben werden. Dann endlich kann der 1882 in Betrieb genommene Gotthardtunnel zwischen Göschenen und Airolo in die Ruhestandsreserve geschickt werden.

Weniger LKW, mehr Bahn

Am Gotthard werden bereits 69 Prozent der Gütermenge per Bahn befördert und nur noch 31 Prozent per Lastwagen. Die Zahl der Lkw-Fahrten sank von 1,4 Millionen (2000) auf 1,0 Millionen (2014) und soll nach den Plänen der Regierung bis 2018 auf 650.000 gedrückt werden – mit Hilfe des neuen Bahntunnels und einer höheren Lkw-Maut. Für die Schweizer ist es das übergeordnete Ziel, ihre Täler von Abgasen zu entlasten. Dazu gehören auch der 2007 eröffnete Lötschbergtunnel im Westen und der Ceneri-Tunnel.

Eine größere Reduzierung der Abgas-Belastung durch Straßentransporte erwarten Experten erst, wenn weitere neue Alpentunnel fertig werden. Dazu gehört neben dem geplanten Mont-Cenis-Basistunnel zwischen Italien und Frankreich (ebenfalls 57 Kilometer, kaum vor 2026 fertig) der Brenner-Basistunnel zwischen Österreich und Italien. Dieses Kernstück der neuen Brennerbahn soll 64 Kilometer lang und damit zum nächsten „Tunnelweltmeister“ werden. Doch bis frühestens 2026 Züge durch die Brenner-Riesenröhre rollen können, bleibt der Gotthard die Heimstatt des Eisenbahntunnel-Weltrekordlers.

Der Gotthard-Tunnel: ein Jahrhundertbauwerk

  • 17 Jahre Bauzeit: Der Gotthard-Basistunnel ist mit 57 Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt
  • Streckenführung: Zwischen Erstfeld (Kanton Uri) und Bodio (Kanton Tessin). Die Strecke ist eben, ohne nennenswerte Steigungen und enge Kurven.
  • Geschwindigkeiten: Personenzüge durchschnittlich 200 km/h, Güterzüge mit 100 km/h.
  • Zeitgewinn (nach Endausbau ab 2020): 45 Minuten zwischen Zürich und Lugano.
  • Wirtschaftlichkeit: Statt 180 Güterzüge pro Tag – wie im alten Gotthard-Tunnel – können 260 Güterzüge verkehren.
  • Hinzu kommen 65 Personenzüge. Die ebene Strecke auf nur 530 Meter über dem Meeresspiegel macht längere Züge mit mehr Gewicht, weniger Loks und kürzere Fahrtzeiten möglich.
  • Umwelt: Weite Teile des Güterverkehrs durch die Alpen sollen künftig von der Straße auf die Schiene verlagert werden können.
  • Arbeitskräfte: 2400 Beschäftigte waren in Spitzenzeiten tätig, gearbeitet wurde rund um die Uhr in drei Schichten.
  • Steinmassen: Für die Röhren und Stollen wurde 152 km lange Strecken aus dem Gestein gebrochen – insgesamt 28,2 Millionen Tonnen.
  • Kosten: 21,5 Milliarden Euro – einschließlich der Nebentunnel (Lötschberg und Ceneri) sowie Gleis- und Bahntechnik.
  • Beginn des normalen Fahrbetriebs: Geplant nach 3000 weiteren Testfahrten für den 11. Dezember 2016