Das ehemalige Kanzlerarbeitszimmer ist mit Originalmöbeln von Schmidt ausgestattet. (Bild: Axel Thünker/fkn)
Bonn

Blick ins Kanzleramt

Zeitgeschichte wieder lebendig machen – die Idee von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ist jetzt Wirklichkeit geworden. Die historischen Räume im Bonner Kanzleramt mit persönlichen Erinnerungsgegenständen von Helmut Schmidt und seinen Nachfolgern können Besucher ab sofort besichtigen.

„An diesem Gatter hat Gerhard Schröder einst nach einem Kneipenabend gerüttelt und ‚Ich will hier rein‘ gerufen.“ Mit dieser Anekdote beginnt Christoph Löwenich die erste Führung durch die historischen Räume des ehemaligen Bonner Kanzleramtes. Draußen auf dem Vorplatz glänzt die knochenförmige, zweiteilige Bronze-Skulptur „Large Two Forms“ des britischen Bildhauers Henry Moore in der Sonne. „Das könnten Hannelore und Helmut Kohl sein, die sich umarmen, oder auch ein Paar Füße“, sagt Löwenich.

Diese Assoziationen haben kreative Betrachter einmal beim Anblick des Kunstwerkes geäußert, auch wenn Kunstkritiker es als „Allegorie des Sozialstaates“ deuteten. Die abstrakte Skulptur wurde zumindest zum Wahrzeichen des damaligen Regierungssitzes der Bundesrepublik.

Bau gleicht „Residenz einer Sparkasse“

Der schlichte dunkle Kanzlerbau mit dem niedrigen Vordach ohne repräsentative Elemente sieht eher wie „das Verwaltungsgebäude des Sparkassenverbandes“ aus. Das sagte zumindest Helmut Schmidt bei seinem Einzug 1979 über den Ort, von dem aus er ab sofort regierte. Die nüchterne Atmosphäre sollte nicht lange so bleiben. Neben Kunstwerken expressionistischer Maler sammelten sich über die Jahre seiner Kanzlerschaft auch viele persönliche Geschenke von politischen Weggefährten an. Sogar ein Stück Franken brachte der Hanseat ins Rheinland: Unzählige Fotografen knipsten ihn und später auch Kohl vor dem Gemälde „Marienfeste bei Würzburg“ des Malers Erich Heckel.

Daran erinnert beispielsweise ein Bild, das 1996 entstand. Zu sehen ist der damalige südafrikanische Präsident und Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela. Seine Hand liegt in der von Helmut Kohl, beide lächeln ins Bild, hinter ihnen türmt sich das Wahrzeichen Würzburgs auf. Die Marienfestung wählte er als Kulisse für das sogenannte „Heckelzimmer“ oder auch „Händeschüttelzimmer“. Denn in dem Raum begrüßte der Kanzler seine Gäste. Heute hängt hier allerdings nur eine Kopie des Werkes von Erich Heckel.

Bücher, Kunst und persönliche Geschenke

Von dort aus führt Löwenich in das ehemalige Arbeitszimmer der Kanzler. Ehrfürchtig streichen die Besucher über die Armlehne von Schmidts Schreibtischstuhl. Die Blicke wandern vom unvermeidlichen Aschenbecher über das Schachbrett bis hin zu dem lila-rot handgeknüpften turkmenischen Teppich unter dem Konferenztisch. Der ausgefallene Dekoartikel ist ein Geschenk des ehemaligen sowjetischen Präsidenten Leonid Breschnew.

Besonders viele Schätze hängen in Schmidts „Kitschecke“, wie er den Teil seines Zimmers selbst nannte. Dort versammeln sich viele Zeugnisse seiner Kanzlerjahre: vom Hufeisen, das er anfangs als Glücksbringer aufhängte, bis hin zu Orden und den Fotos, die ihn beispielsweise mit Margret Thatcher oder Willy Brandt zeigen. Aber auch Nippes und Figuren zieren das riesige Bücherregal. Darunter ein Glasadler, den Schmidt 1981 vom US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan geschenkt bekam.

Aus „Nato-Saal“ wird „Nelson-Mandela-Saal“

Wie fanden all die Erinnerungsstücke ihren Weg zurück ins ehemalige Kanzleramt? Dahinter steckt der aktuelle Hausherr und Entwicklungsminister Gerd Müller. 1994 kam er als CSU-Abgeordneter nach Bonn. Vor drei Jahren kehrte er dann als Entwicklungsminister zurück in die Stadt am Rhein. Denn nach umfassender Sanierung bekam der unter Denkmalschutz stehende Bau in Bonn im Dezember 2005 mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen neuen Nutzer und wurde sein erster Amtssitz.

Gut 500 der knapp 1000 Mitarbeiter arbeiten dort, wo einst Schmidt, Kohl und Schröder regierten. Seitdem hat der frühere abhörsichere „Nato-Saal“ auch den Namen „Nelson-Mandela-Saal“. Beim Anblick der ramponierten Stühle im Kabinettssaal und aus alter Verbundenheit zur ehemaligen Hauptstadt keimte in Müller die Idee, die historischen Räume für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen – natürlich in möglichst original getreuem Zustand. Schließlich können auch das Vorgänger-Kanzleramt Palais Schaumburg und der Kanzler-Bungalow auf dem Gelände besichtigt werden. Doch wie sollte das Arbeitszimmer aussehen? Kohl residierte dort mit 16 Jahren am längsten, Schröder war der Letzte und Schmidt der Erste. Müller schrieb allen Ex-Kanzlern einen Brief.

Müller trifft Kohl und Schmidt

Kohl reiste daraufhin nach Bonn und besuchte seine Wirkungsstätte. Das erste Mal seit 1998. „Helmut Kohl hat sich seine Stationen des politischen Lebens, die er hier im Kanzleramt gestaltet hat, noch einmal angeschaut und Revue passieren lassen. Das war ein sehr emotionaler Tag“, erinnert sich Müller an das Treffen im Spätherbst 2014.

Etwa ziemlich genau 25 Jahre zuvor hatte er an diesem Platz seinen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit entworfen. Ein halbes Jahr nach Kohls Rückkehr, im Frühjahr 2015, traf sich Müller mit Helmut Schmidt in Hamburg. Nach einem „Grüß Gott“ fragte der Ex-Kanzler den Entwicklungsminister, ob er eine mit ihm rauche. Müller überreichte ihm daraufhin die von ihm mitgebrachten Fairtrade-Zigaretten. Schmidt nahm die Packung in die Hände und fragte: „Was ist das denn? Können Sie da lassen für meine Gäste.“ Überzeugt hat ihn aber Müllers Anliegen. Fast sein gesamtes Interieur stellte er zur Verfügung. Stuhl und Schreibtisch, Buddelschiff und Bilder. Neben Pfeife und Aschenbecher hat Müller noch Schmidts Schnupftabak und die Schachtel mit Mentholzigaretten drapiert. Eine Schachtel ohne abschreckende Horrorfotos, versteht sich.

Wir bewahren Helmut Schmidt ein Andenken, das ihn in Lebendigkeit zeigt, wie er regiert hat und wer er war: ein großer deutscher Bundeskanzler.

Gerd Müller, Entwicklungsminister

Ramponierter Kanzlersessel

Dass auch alles seinen rechten Platz hat, dafür hat Judith Kruse vom Haus der Geschichte in Bonn gesorgt. So stehen die Figuren in Schmidts Regal wieder dort, wo sie bereits Ende der 1970er-Jahre Zeugen seiner politischen Entscheidungen wurden. Rekonstruiert hat Kruse die Positionen anhand historischer Bilder. „Die Pfeife und andere persönlichen Gegenstände von Helmut Schmidt in seinem ehemaligen Arbeitszimmer zu arrangieren, hat mich schon sehr bewegt“, sagt die Historikerin. Neben Fotos haben ihr auch Gespräche mit Zeitzeugen dabei geholfen, alles richtig zu platzieren. In Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte Bonn haben die Mitarbeiter aber nicht nur das Kanzlerzimmer in seinen ursprünglichen Zustand versetzt.

Löwenich bringt die Besucher auch an den Ort, an dem 1991 Angela Merkel als Ministerin für Frauen und Jugend vor der ersten gesamtdeutschen Kabinettssitzung Platz nahm. Und zwar in einem der Sessel im großen Kabinettssaal, die sich noch in gewohnter Anordnung um den Tisch reihen – das beweist zumindest eine der Fotografien an der Wand. Mit höherer Lehne kostete der Kanzlersessel mit 1000 D-Mark etwa dreimal so viel wie einer der Minister. Robuster war er trotzdem nicht: derzeit ist der ramponierte Stuhl in der Restauration. Im Foyer können Besucher abschließend noch offizielle Gastgeschenke aller Kanzler bewundern. Darunter eine Bockbüchsflinte, die Präsident Wladimir Putin Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinem Besuch in Moskau 2001 überreichte oder ein Stern aus Perlmutt von Präsident Jassir Arafat für Helmut Kohl.

Einen Rundgang durch das ehemalige Bundeskanzleramt zeigt das Video des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit:

Stahlskelettbau mit Rohrpostanlage

Die Planungen für das Gebäude begannen bereits 1969 unter Kanzler Willy Brandt. Nach einem Bauwettbewerb, den ein Verbund aus fünf Architekten – die Planungsgruppe Stieldorf aus Königswinter – gewann, entstand an der Adenauerallee ab Herbst 1973 ein Stahlskelettbau mit einer Fassade aus dunkelbraun eloxiertem Aluminium. Das Gebäude umfasste viereinhalbmal mehr Nutzfläche als das Palais Schaumburg, das von 1949 bis 1976 Dienstsitz des Bundeskanzlers war, und war mit zahlreichen technischen Neuerungen ausgestattet. Darunter beispielsweise eine Rohrpostanlage für den schnellen internen Aktenaustausch. Das neue Kanzleramt gliederte sich in einen Kanzler- und einen Abteilungsbau. Der Kanzlerbau beherbergte neben dem Kabinettssaal und den Büros der engsten Mitarbeiter des Bundeskanzlers auch dessen Arbeitszimmer sowie Empfangsräume. Im Abteilungsbau waren die Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen des Kanzleramts untergebracht.

Ort der deutschen Entscheidungen

Bis 1976 hatten seit Konrad Adenauer alle Bundeskanzler das Palais Schaumburg als Amtssitz genutzt. Von 1976 bis 1999 übten dann die Bundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder an der neuen Adresse ihre Regierungsgeschäfte aus. Schmidt arbeitete im Bonner Kanzleramt sechs Jahre, Kohl dann 16 Jahre, Schröder einige Monate. Michail Gorbatschow, François Mitterrand, Margaret Thatcher und Bill Clinton sind nur einige der Staats- und Regierungschefs, die im Kanzleramt in Bonn zu Gast waren. Das Kanzleramt war Schauplatz bedeutender politischer Entscheidungen: Bundeskanzler Helmut Schmidt führte hier die Krisensitzungen im so genannten „Deutschen Herbst“ 1977 durch, der Hochzeit der linksextremen Terrorgruppe RAF. Unter Kanzler Helmut Kohl bot das Gebäude die Kulisse für entscheidende Gespräche im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung 1989/90. Bundeskanzler Gerhard Schröder arbeitete nur ein knappes Jahr in Bonn, dann zogen Parlament und Regierung 1999 nach Berlin.

Von 1999 bis zum Einzug in das neu gebaute Haus residierte das Bundeskanzleramt übergangsweise in dem ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR am Berliner Schlossplatz. Seit 2001 dient bis heute ein von Axel Schultes entworfener Neubau im Berliner Spreebogen nahe dem Reichstagsgebäude als Behördensitz – Spitzname wegen des äußeren Erscheinungsbildes ist „Bundeswaschmaschine“, „Elefantenklo“ oder „Kohllosseum“. Auch dort ist viel Kunst zu bestaunen. Mit 36 Metern Höhe ist es das größte Regierungshauptquartier der Welt, etwa achtmal so groß wie das Weiße Haus in Washington, zu dem allerdings noch weitere Gebäude gehören.

Zeitgeschichte erleben

An Führungen durch die historischen Räume im ehemaligen Kanzleramt in Bonn können Interessierte am Wochenende und an Feiertagen teilnehmen. Eine Präsentation des Hauses der Geschichte mit Fotos und Exponaten zu den Bundeskanzlern sowie zwei Medienstationen ergänzen das Ensemble. Anmeldungen sind möglich beim Besucherdienst des Hauses der Geschichte: 0228/ 91 65-400 oder Besucherdienst-bonn@hdg.de