Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empfängt den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu im Bundeskanzleramt in Berlin mit militärischen Ehren. Bild: Imago/Markus Heine
Deutschland und Türkei

Das Schlüsselland der Flüchtlingskrise

Inmitten des immer heftigeren innenpolitischen Streits über eine Reduzierung des Flüchtlingszuzugs trifft Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Der forderte eine faire Lastenteilung. Die versprochenen drei Milliarden Euro der EU würden nicht ausreichen, stellte der Regierungschef bereits vor den Gesprächen in Berlin klar.

Regierungskonsultationen sind für deutsche Kanzler keine so ganz neue Sache mehr. Mit Frankreich gibt es solche regelmäßigen Treffen schon seit den Zeiten von Konrad Adenauer. Im Lauf eines halben Jahrhunderts sind die verschiedensten Länder hinzugekommen: weitere wichtige Nachbarn wie die Niederlande und Polen, aber auch China oder Russland und neuerdings sogar Brasilien. Nun finden erstmals auch mit der Türkei Regierungskonsultationen statt. Überschattet wurden sie vorab von einem Selbstmordanschlag in der Altstadt Istanbuls in der vergangenen Woche, der der Terrormiliz Islamischer Staat zugeschrieben wurde – und bei dem zehn deutsche Urlauber getötet wurden. Zur Premiere der Konsultationen wird Angela Merkel ihren türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu mit militärischen Ehren vor dem Kanzleramt empfangen. Parallel dazu setzen sich, von Innen- bis Außen-, die Minister zusammen.

Die meisten Flüchtlinge kommen über die Türkei.

Viele meinen, dass – bei etwa drei Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in Deutschland leben – ein solches Zeichen der Zusammenarbeit mit Ankara überfällig war. Dass die Premiere jetzt stattfindet, hat allerdings einen anderen Grund: Durch die Flüchtlingskrise ist die Türkei ziemlich wichtig geworden. Von den mehr als 1,5 Millionen Flüchtlingen, die vergangenes Jahr in die EU gelangten, kamen die meisten über die Türkei. Die Europäer – allen voran Kanzlerin Merkel mit ihrem einseitigen „Europa ist die Lösung“-Ansatz – sind derzeit deutlich mehr auf die Türken angewiesen als umgekehrt. Deshalb ist die Kanzlerin seit dem Sommer verstärkt um ein gutes Verhältnis bemüht. Dazu gehört, dass sie mitten im türkischen Wahlkampf bei Präsident Recep Tayyip Erdogan vorbeischaute. Dass sie alles daran setzte, zwischen EU und Türkei einen Pakt zur Eindämmung der Flüchtlingszahlen zustande zu bringen. Und jetzt eben die engeren Kontakte zwischen den beiden Regierungen.

Schwerpunkt Flüchtlingskrise

Die Flüchtlingskrise wird deshalb auch mit Abstand das wichtigste Thema des Treffens sein. Bei den ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen in Berlin geht es unter anderem um Schritte Ankaras zur Grenzsicherung. Die Türkei hatte Ende November im Rahmen eines Aktionsplans zugesagt, ihre Grenzen besser zu schützen. Im Gegenzug versprach die EU mindestens drei Milliarden Euro für die Versorgung der mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Zudem sollen die EU-Beitrittsverhandlungen und die Gespräche zur visafreien Einreise für Türken beschleunigt werden. Noch ist das EU-Geld aber nicht geflossen. Maßnahmen Ankaras zur Reduzierung des Flüchtlingszuzugs über die Balkanroute kommen nur schleppend voran. Nach wie vor starten täglich Schlepperboote mit Migranten von der türkischen Ägäisküste zu den griechischen Inseln. Noch weiß niemand, ob die gesunkenen Flüchtlingszahlen an strengeren türkischen Grenzkontrollen liegen oder vielleicht auch nur am Winter.

Wir haben 2,5 Millionen Flüchtlinge in der Türkei aus Syrien, 300.000 weitere aus dem Irak.

Ahmet Davutoglu, türkischer Ministerpräsident

Für Merkel gehört das zu den Fragen, die vielleicht über ihre Kanzlerschaft entscheiden, weil sie sich nationalen Maßnahmen strikt und unverständlicherweise verweigert, wie sich jetzt auch in Wildbad Kreuth zeigte. Davutoglu wird seinerseits darauf bestehen, dass die Türkei von den drei Milliarden Euro, die ihr die EU versprochen hat, bald auch etwas sieht. Der türkische Ministerpräsident sagte jetzt in einem dpa-Interview am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos, niemand könne von seinem Land erwarten, die ganze Last alleine zu schultern. Die Türkei habe bereits damit begonnen, Visabestimmungen für Syrer aus Drittstaaten in Kraft zu setzen und Syrern erlaubt, in der Türkei zu arbeiten. Zu der Flüchtlingssituation in der Türkei sagte er: „Wir exportieren keine Krise, die Krise ist in die Türkei exportiert worden. Jetzt ist es eine europäische Krise geworden. Wir haben 2,5 Millionen Flüchtlinge in der Türkei aus Syrien, 300.000 weitere aus dem Irak. Die Türkei hat fast zehn Milliarden Dollar für die Flüchtlinge ausgegeben.“

Nach dem Anschlag von Istanbul auf eine deutsche Reisegruppe wird zudem eine engere Zusammenarbeit im Kampf gegen die islamistische Terrormiliz IS angestrebt. In einem dpa-Interview am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos sagte der türkische Regierungschef: „Zugleich werden wir aber darüber sprechen, wie der Terrorismus bekämpft werden kann, über Zusammenarbeit der Geheimdienste und über regionale Themen in Syrien, im Irak, im Nahen Osten und auf dem Balkan.

Das Schweigen über Erdogans Krieg gegen die Kurden

Offen ist hingegen, wie am Freitag über das gesprochen wird, was derzeit im Südosten der Türkei passiert. Bislang verhält sich die Bundesregierung zur blutigen Offensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK ziemlich still. Dieser Offensive, die Erdogan ganz allein deshalb startete, um seine Wahlchancen zu verbessern, fallen auch hunderte Zivilisten zum Opfer und zehntausende Zivilisten müssen darunter leiden. Die meisten anderen Europäer machen das allerdings ebenso. Das Schweigen des Westens sorgt daher für große Frustration unter der Bevölkerung in den Kurdengebieten, die von der Offensive schwer in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach stets mit Vorsicht zu genießenden Armeeangaben wurden seit Beginn der Offensive Mitte Dezember mehr als 640 „Kämpfer“ der PKK-Jugendorganisation YDG-H in Sur, Cizre und Silopi getötet. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP meldet mehr als 100 getötete Zivilisten in den drei Orten. Fast jeden Tag haben auch die Sicherheitskräfte Verluste zu beklagen. Im Viertel Sur in der Kurdenmetropole Diyarbakir und in der Stadt Cizre gilt seit vergangenem Monat eine Ausgangssperre, dort haben sich Kämpfer der PKK-Jugendorganisation YDG-H sowie zahlreiche aufgebrachte Studenten verschanzt, die unter der Perspektivlosigkeit und der türkischen Diskriminierung leiden. In der Stadt Silopi wurde die Ausgangssperre am Dienstag gelockert, nach mehr als fünf Wochen. Während der Ausgangssperren haben die Bewohner häufig weder Strom noch Wasser oder Zugang zu Gesundheitsversorgung. Amnesty International spricht von einer „Kollektivstrafe“ gegen die Kurden und wirft den Sicherheitskräften vor, exzessive Gewalt anzuwenden.

Menschenrechte? Nie gehört.

Nicht nur die Eskalation der Gewalt in der Südosttürkei scheint in Brüssel und Berlin kaum Beachtung zu finden. Weitgehend unkommentiert bleibt auch, dass Erdogan seine Macht immer weiter ausbaut, Justiz und Polizei gleichschaltet, Korruptionsermittlungen gegen sich und seine Partei abwürgt, die Gesellschaft islamisiert, neue Gesetze zu seinem Nutzen erlässt, die Presse- und Meinungsfreiheit teils sogar mit Gewalt beseitigen lässt sowie die Opposition und seine anderen Kritiker immer stärker unter Druck setzt und zum Teil inhaftiert. Davutoglus Ausrede im dpa-Interview zu den vielen verhafteten Journalisten in der Türkei war beinahe schon kurios: „Viele der Fälle von inhaftierten Journalisten stammen aus den 1990ern, nicht aus der Zeit unserer Regierung. Alle wurden wegen illegaler Aktivitäten verhaftet, die nichts mit journalistischen Aktivitäten zu tun hatten. Kürzlich gab es einige neue Fälle, und der juristische Prozess dauert an. Die Vorwürfe betreffen nicht journalistische Aktivitäten, sondern die Veröffentlichung von geheimen Dokumenten.“

Heute hat die Türkei Probleme mit den meisten Nachbarn.

Ganz anders war das noch bei den regierungskritischen Gezi-Protesten im Sommer 2013, als aus der EU und aus Deutschland lautstark Kritik an Erdogan ertönte. Danach waren die deutsch-türkischen Beziehungen auf einem Tiefpunkt angelangt. Inzwischen scheint sich auch die türkische Seite wieder um eine Annäherung an Europa und an Deutschland zu bemühen, sicher auch, weil der Wirtschaftsboom, den Erdogan sich schnell auf die eigenen Fahnen schrieb und den er für Wahlgeschenke nutzte, ein Ende gefunden hat. Das mag aber auch daran liegen, dass in der eigenen Region nicht mehr viele Freunde übrig sind. Aus dem 2009 vom damaligen Außenminister Davutoglu ausgegebenen Motto „Keine Probleme mit den Nachbarn“ ist nichts geworden. Heute hat die Türkei Probleme mit den meisten Nachbarn, nicht nur, weil Erdogans großtürkische Allmachtsfantasien und sein Regionalmachtstreben auf keinerlei Gegenliebe stießen.

Der türkische EU-Beitritt ist noch in weiter Ferne

Die Regierungskonsultationen in Berlin sind für die Türkei nun auf jeden Fall ein Prestigegewinn. Ähnliches gilt für die halbjährlichen Gipfeltreffen, die es zwischen EU und der Türkei künftig geben soll. Beim Thema EU-Beitritt hingegen trat Merkel vor ihrem Treffen mit Davutoglu trotzdem wieder einmal auf die Bremse. Zu Spekulationen, dass es nun auch mit einem EU-Beitritt der Türkei schneller gehen könnte, meinte sie in ihrem Ausblick auf Freitag knapp: „Da ist noch ein sehr langer Weg zu gehen.“ In dem dpa-Interview am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos betonte Davutoglu, die EU-Mitgliedschaft der Türkei sei nicht nur ein Wunsch, sondern „ein strategisches Ziel“. Und weiter: „Natürlich wissen wir über die Schwierigkeiten wie die Zypern-Frage. Es wird eine positive Entwicklung in der Zypern-Frage geben, um eine endgültige Lösung zu finden. Es hat in den EU-Türkei-Beziehungen in den letzten drei Monaten ein sehr positives Momentum gegeben. Es gibt an vielen Fronten positive Entwicklungen. Und ich bin sicher, am Ende dieser ganzen Verbesserungen wird die Türkei eines Tages ein Mitglied der EU sein.“

Kritik vor dem Treffen

Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, hat türkische Überlegungen zu höheren Finanzhilfen der EU für die Bewältigung der Flüchtlingskrise zurückgewiesen. Zunächst einmal müsse das gemeinsam Vereinbarte umgesetzt werden, forderte Weber am Freitag in München. Er halte nichts davon, wenn jetzt schon wieder neue Summen genannt würden.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) räumte bei RTL ein: „Die Türkei hat Probleme, das wissen alle.“ Gleichwohl könne Deutschland nicht als „Richter“ auftreten. „Wir sind Partner im Kampf gegen den Terrorismus, und wir sind jetzt Partner im Kampf gegen illegale Migration. Wir haben ein gemeinsames Interesse darin, dass nicht so viele Flüchtlinge in die Türkei kommen und dass die Türkei sie nicht einfach durchlässt.“

Die Türkei ist dabei, im Umgang mit den Kurden neue Fluchtursachen zu schaffen.

Hans-Peter Uhl, CSU, MdB

Auch der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl hat von Ankara mehr Anstrengungen in der Flüchtlingspolitik gefordert. Die Türkei habe eine Reihe von Faktoren geschaffen, die die massenhafte Schleusung von Flüchtlingen erst möglich gemacht hätten, sagte Uhl am Freitag im rbb-Inforadio. So habe die Regierung Visa-Zwänge für Staaten in Nordafrika abgeschafft. Auch könnten Flüchtlinge ungehindert per Boot von der türkischen Küste zur griechischen Insel Lesbos kommen. Randnotiz: Dies ist eine Grenze, die die Türkei ansonsten sehr gut überwacht, weil es in der Vergangenheit immer wieder zu Grenzstreitigkeiten mit Griechenland kam. „Es ist ein Kinderspiel, das zu verhindern – wenn man es will“, sagte daher auch Uhl. Den Kampf der Türkei gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK bezeichnete Uhl als weiteren Risikofaktor in der Flüchtlingsfrage. „Die Türkei ist dabei, im Umgang mit den Kurden neue Fluchtursachen zu schaffen.“ Durch den Konflikt könnten sich viele Kurden aus der Türkei auf den Weg nach Europa machen.

Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer sprach sich gegen Reiseerleichterungen für türkische Staatsbürger nach Deutschland und Europa aus: „Eine Einführung der Visafreiheit zum 1. Oktober ist hochgefährlich. Damit wird ein neues Tor für nicht kontrollierbare Einreise nach Deutschland geöffnet“, sagte Singhammer der Zeitung „Die Welt„. Die Visumsfreiheit würde auch die Integrationsbemühungen gerade beim Familiennachzug unterlaufen, wo bisher der Nachweis von Sprachkenntnissen notwendig sei. „Nicht einmal unter Kanzler Gerhard Schröder wurde die Visumsfreiheit abgeschafft“, mahnte Singhammer.

Der Ex-Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz (CDU) sagte in der TV-Sendung „Maybrit Illner“, die Türkei sei ein „Schlüsselland“. Es stehe für ihn außer Frage, dass die Balkanroute geschlossen und gleichzeitig verhindert werden müsse, dass wieder zahlreiche Menschen im Mittelmeer ertrinken, sagte der CDU-Außenpolitiker. Neben dem deutschen Anteil an den zugesagten drei Milliarden Euro der EU könne sich die Bundesrepublik bereit erklären, ihren „Teil der syrischen Flüchtlinge in einem geordneten, registrierten Verfahren aus der Türkei zu übernehmen, den die Türkei sozusagen von der EU abgenommen bekommen will“. Polenz bezifferte diesen auf „ungefähr 100.000 Flüchtlinge“. Als Gegenleistung müsse die Türkei „alle zurücknehmen, die auf dem anderen Weg nach Griechenland gekommen sind“, also ohne Registrierung und geordnetes Verfahren.

Wir erwarten, dass die Türkei zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt.

Cem Özdemir, Grünen-Chef

Grünen-Chef Cem Özdemir forderte die Bundesregierung auf, bei den Konsultationen auch die problematische Menschenrechtslage in der Türkei anzusprechen und Ankara unter Druck zu setzen. Merkel müsse der Türkei klarmachen, dass es die zugesagten Milliardenhilfen für die Flüchtlingsversorgung nur gegen Gegenleistungen gebe. „Wir erwarten, dass die Türkei zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt“, sagte Özdemir der „Welt“. Und dem Südwestrundfunk sagte Özdemir, „Gesten der Unterwürfigkeit“ seien bei den Gesprächen nicht angebracht. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), plädierte dafür, bei den Beitrittsverhandlungen der EU mit Ankara schnell zu Kapiteln zu kommen, in denen es um Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte geht. „Die Türkei ist unser Partner, und wir brauchen uns gegenseitig“, sagte er der „Passauer Neuen Presse„. Die Türkei sei wichtiges Mitglied der Nato, sie leiste bei der Versorgung von Flüchtlingen Enormes.

(dpa/avd)