Asylbewerber warten vor dem Münchner Hauptbahnhof. (Bild: Wolfram Göll)
Asylpolitik

Das Jahrhundert der Flüchtlinge

Gastbeitrag Deutschland wird bestürmt von hunderttausenden Asylbewerbern. Dies stellt das Land, aber auch die EU vor große Herausforderungen. Und es gibt viele Fragen, auf die man Antworten finden muss, will man diese Herausforderungen meistern. Ein Gastbeitrag von Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer.

Wir tragen in Europa und Deutschland große Verantwortung und alle Verständigen spüren, dass wir uns in einem historisch sich beschleunigenden Prozess befinden, den es so seit Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten nicht gegeben hat. Wir leben in einer Zeitenwende historischen Ausmaßes.

Als Partei mit dem „C“ für christlich im Namen, schadet es nicht, auf die Botschaft von Papst Franziskus zu blicken, die er zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge 2014 ausgesandt hat: Jedes menschliche Wesen ist ein Kind Gottes. Der Papst spricht davon, dass Flüchtlinge Brüder und Schwestern sind, die willkommen geheißen, respektiert und geliebt sein sollen.

Die Menschheitsgeschichte ist im Kern eine Wanderungs- und Migrationsgeschichte. Dabei sehnen sich die Menschen seit alters her nach einer sicheren Heimat, die sie nicht mehr verlassen müssen. Für Christen ist das Evangelium, die frohe Botschaft, die Richtschnur. Migration kommt dort oft vor: Zunächst müssen Maria und Josef mit dem Neugeborenen nach Ägypten flüchten, um vor Herodes in Sicherheit zu leben. Im übertragenen Sinn sehen Christen das Leben als Pilgerschaft mit dem Ziel der ewigen Heimat im Paradies bei Gott.

Rund 700.000 abgelehnte Asylbewerber halten sich bereits jetzt schon zusätzlich in Deutschland auf, weil sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können.

Deshalb glasklar: Hilfe ja, wo immer es geht. Es gibt aber keine Selbstverpflichtung, die Kardinaltugend der Klugheit zu vergessen. Dazu zählt, zu prüfen, wie die weitere Entwicklung in Deutschland ablaufen könnte. Die Zahlen der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind enorm:

  • 200.000 vergangenes Jahr
  • mindestens 800.000 dieses Jahr
  • einige Ministerpräsidenten sprechen bereits von einer Million

Rund 700.000 abgelehnte Asylbewerber halten sich bereits jetzt schon zusätzlich in Deutschland auf, weil sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können.

Die amerikanische Regierung spricht von der Gefahr der Destabilisierung.

Eine riesige Zahl von Flüchtlingen ist schon jetzt auf dem Weg nach Deutschland: aus dem Nahen Osten, wo kein Frieden in Sicht ist, aus Perspektivlosigkeit in Afrika und dem Balkan. Ein Ende dieser gewaltigen Wanderung ist nicht in Sicht. Wie viele kommen 2016 zu uns? Zwei Millionen oder noch viel mehr? Niemand weiß es genau. Die amerikanische Regierung spricht von der Gefahr der Destabilisierung. Andere politische Kräfte in Deutschland dagegen plädieren für eine unbegrenzte Aufnahme.

Die entscheidenden Fragen lauten und diese Fragen sind unbequem:

  1. Gibt es nur eine einzige verantwortungsbewusste Hilfsmöglichkeit: Die Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland? Oder ist auch die Vermeidung der Fluchtursache ein denkbarer Weg? Konkret: Sind wir in Deutschland bereit, uns für eine Sicherheitszone in den Herkunftszonen zu engagieren, wenn zum Beispiel der mit hohen Flüchtlingszahlen belastete Libanon in die Kämpfe hineingezogen wird und wenn bereits Vertriebene von dort aus gezwungen werden, weiter und nochmals zu flüchten? Was, wenn die Regierung dort eine derartige Bitte äußert? Was ist mit den reichen Golfstaaten und Saudi-Arabien? Was tut Europa, um diese zu einer höheren Aufnahme von vertriebenen Glaubensbrüdern zu bewegen, die dann zumindest in der Region bleiben können?
  2. Gibt es Flüchtlinge, die eine besondere Hilfe brauchen? Papst Franziskus spricht von einem religiösen Völkermord an Christen. Christliche Flüchtlinge haben es besonders schwer, weil sie in Nachbarländer flüchten müssen, die muslimisch geprägt sind und dort keine Religionsfreiheit finden, weil sie wenig Chancen auf Rückkehr finden. Das politische Klima hat sich dort radikalisiert und islamisiert.
  3. Wie kann die europäische Asylregelung gelingen? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Nachbarstaaten die deutschen Standards einschließlich des deutschen Asylgrundrechts übernehmen? Sind wir bereit, darüber eine tabulose Diskussion zu führen?
  4. Bleibt ohne eine europäische Asylregelung Deutschland Hauptzielland? Wohl ja und mit erschreckenden Beispielen der mangelnden europäischen Solidarität: München nimmt in diesem Jahr allein so viele Flüchtlinge auf, wie das große und stolze Polen insgesamt.
  5. Entwickelt sich die EU zu einer Gemeinschaft des Rechts à la carte? Wenn täglich tausende Male europäisches Recht gebrochen wird, weil Erstaufnahmeländer die Flüchtlinge weiterschicken, kann Europa daran rasch zerbrechen. Wo ist die Verantwortung von England, Polen und anderen?
  6. Wie können wir als Sofortmaßnahme die Kontrolle über die deutschen Außengrenzen wiedererlangen? Wenn Griechenland oder Italien überfordert sein sollten, die eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen, heißt das: Wir in Deutschland laden Schlepper geradezu ein, ihr kriminelles Geschäftsergebnis gefahrlos zu steigern? Wie können wir vermeiden, dass islamistische Täter versuchen, getarnt mit den Vertriebenen aus vielen Ländern, die offenen Grenzen zu passieren?
  7. Muss bei der kleinräumigen Verteilung der Flüchtlinge die Integrationsfähigkeit geprüft werden? Macht es Sinn, Flüchtlinge in Stadtteilen anzusiedeln, wo bereits eine Mehrheit der Menschen Migrationshintergrund hat? Wer soll dort Integrationsarbeit leisten?
  8. Welche Pflichten verlangen wir von Flüchtlingen, die wir aufnehmen? Die Achtung der deutschen Gesetze, das heißt insbesondere die uneingeschränkte Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Oder die Religionsfreiheit, zu der auch die Freiheit des Religionswechsels gehört. Ist nicht ebenso wichtig wie der Spracherwerb die rasche Verpflichtung auf unsere Werte des Grundgesetzes?
  9. Die einheimischen Deutschen dürfen wir nicht vergessen. Deutschland zeigt eine einmalige Aufnahmebereitschaft. Die bleibt nur erhalten, wenn wir zum Beispiel die Interessen der wohnungssuchenden Deutschen in München nicht übergehen. Wer darauf hinweist, dass in München Wohnraum für Einheimische schon jetzt Mangelware und kaum bezahlbar ist, darf nicht sofort als gefühlloser Rechtsextremer einkatalogisiert werden.
  10. Wie lösen wir die Asymmetrie einer weiter nahezu unendlichen Zahl von Flüchtlingen einerseits und einer immer mehr sichtbar werdenden Endlichkeit der Schaffung menschenwürdigen Wohnraums für Flüchtlinge in Deutschland andererseits?

Sind wir mutig genug, diese Diskussion zu führen oder werden wir von der Realität eingeholt?

Der Autor ist Bundestagsvizepräsident.