Europas Ringen um die verbindliche Quoten-Regelung
München muss sich auf weitere 10.000 Migranten einstellen. Der Ansturm wird so schnell nicht abebben. Chaos auf den Ägäis-Inseln. Bundeskanzlerin Merkel drängt Budapest zur Rückkehr zum Dublin-Abkommen. Die EU-Kommission will eine Richtlinie über eine verbindliche Quotenregelung vorlegen. Frankreich wird 24.000 und Großbritannien maximal 15.000 zusätzliche Migranten aufnehmen.
Inland

Europas Ringen um die verbindliche Quoten-Regelung

München muss sich auf weitere 10.000 Migranten einstellen. Der Ansturm wird so schnell nicht abebben. Chaos auf den Ägäis-Inseln. Bundeskanzlerin Merkel drängt Budapest zur Rückkehr zum Dublin-Abkommen. Die EU-Kommission will eine Richtlinie über eine verbindliche Quotenregelung vorlegen. Frankreich wird 24.000 und Großbritannien maximal 15.000 zusätzliche Migranten aufnehmen.

Mit 14.000 Migranten hatte man am vergangenen Wochende in München gerechnet. Dann kamen 20.000. Und so geht es weiter: Bis Montag abend werden wieder 10.000 Migranten in München erwartet. Ein Ende der Völkerwanderung ist nicht abzusehen. Noch immer erreichen täglich mindestens 2000 Migranten Ungarn. Und das wird so bleiben. Weiter südlich, auf den griechischen Ägäis-Inseln, herrschen chaotische Zustände. Allein auf der Insel Lesbos sollen sich schon etwa 20.000 Migranten gesammelt haben. In der Insel-Hauptstadt Mytilene stecken Tausende Syrer und Afghanen fest, berichtet die Neue Zürcher Zeitung. Mit wütender Gewalt wehrten sich am Wochenende Migranten gegen jede Registrierung auf der Insel.  2500 Migranten wurden am Montag per Fähre von Lesbos nach Piräus gefahren.

Ankara ist weder willens noch fähig, den Flüchtlingsstrom aufzuhalten.

Neue Zürcher Zeitung

Auf den Nachbar-Inseln Kos, Samos und Leros herrschen ähnliche Bedingungen. Rund 244.000 Migranten haben zwischen Januar und August Griechenland erreicht, 125.000 von ihnen kamen allein über Lesbos und Kos. Und die Welle hält an, berichtet die NZZ, weil vom wenige Kilometer entfernten türkischen Festland aus „immer neue Schlauchboote mit Syrern, Afghanen und Pakistanern in See stechen“. Ankara sei weder willens noch fähig, den Flüchtlingsstrom aufzuhalten, so das Blatt. Brüssel hat unterdessen Athen für die Bewältigung der Migranten-Katastrophe Hilfen über 474 Millionen Euro fest versprochen. Athen fordert eine Milliarde – wieviel von dem Geld dann wirklich auf den bestürmten Ägäis-Inseln ankommt, wird sich zeigen.

 Angela Merkel und Viktor Orban: Rückkehr zum Dublin-Abkommen

Offenbar wird die Entwicklung allmählich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel unheimlich. In einem Telefonat mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban waren sich beide einig, den Verpflichtungen des Dublin-Abkommens unbedingt zu folgen. Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge nahm Merkel Orban außerdem die Zusage ab, dass die Weiterreise der syrischen Flüchtlinge „auf Grund der Notlage an der ungarischen Grenze eine Ausnahme war“. Merkel drängte Orban also zur Rückkehr zum Dublin-Abkommen. Es sollen nicht noch mehr kommen,  so darf man das lesen.

Budapest wird auch in den nächsten Wochen nur eine Wahl haben: die Migranten durchziehen zu lassen.

Doch  das wird sich kaum halten lassen: Die nächste fünfstellige „Notlage“ ist schon in Anmarsch auf Ungarns Grenzen. Berlins Ankündigung von vor drei Wochen, dieses Jahr 800.000 Migranten aufnehmen zu wollen und dann die Sondereinladung an Migranten an Syrien entwickeln immer größere Sogwirkung. Ungarn, das auf der Strecke liegt, wird unfreiwillig und völlig ungefragt zum Durchzugsland und ist völlig überfordert. Budapest wird auch in den nächsten Wochen nur eine Wahl haben: die Migranten durchziehen zu lassen.

EU-Kommission: permanenter Verteilungsschlüssel

Presseberichten zufolge will am kommenden Mittwoch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Europaparlament einen EU-Gesetzentwurf für den Umgang mit der Migrantenkrise vorlegen. Danach soll ein Verteilungssystem dauerhaft etabliert werden, das Migranten gemäß einem festen Schlüssel auf alle Mitgliedsländer verteilt. Nach den Vorstellungen der Kommission müssten dann Deutschland 26 Prozent der Migranten übernehmen und Frankreich 20 Prozent. Zunächst soll es um 120.000 Migranten gehen, die sich derzeit in Ungarn, Italien und Griechenland aufhalten. Dazu kommen sollen noch jene 40.000 Migranten, die die EU-Kommission schon im vergangenen Mai vergeblich auf die EU-Länder verteilen wollte.

Das ist etwas sehr wertvolles, wenn man einen Blick in unsere Geschichte wirft. Es freut mich, dass Deutschland auch ein Land geworden ist, mit dem viele Menschen außerhalb Deutschlands Hoffnungen verbinden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Den vor allem zentraleuropäischen Gegnern von Zwangsquoten will Brüssel ihren Widerstand mit einer Sonderklausel abkaufen, derzufolge sie unter Berufung auf „berechtigte Gründe“ für ein Jahr von der Migranten-Zuteilung ausgenommen werden können. Ein EU-Gipfel am 14. September wird darüber beraten. Damit die geplante Brüsseler Verordnung Gesetz wird, muss der Rat der Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit zustimmen – 55 Prozent der Mitgliedstaaten mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung. Ein Problem habe Brüssel dabei aber noch nicht bedacht, warnt in London die Tageszeitung The Daily Telegraph: Die Migrantenquote und die Zwangsumverteilung von Flüchtlingen würde die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwingend notwendig machen, so das Blatt. Denn viele Migranten würden eben nicht in den ihnen zugewiesenen Ländern bleiben wollen.

Visegrad-Staaten: Zwangsquote unannehmbar

Dass die qualifizierte Mehrheit zustande kommt, ist unsicher. Eine Außenministerkonferenz endete am vergangenen Samstag mit eher vagen Statements und sehr kleinen Zahlen über die Aufnahmebereitschaft der Mitgliedstaaten. Umso klarer fiel das Kommuniqué des Prager Sondergipfels der sogenannten Visegrad-Gruppe – Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn – aus: Die Regierungschefs lehnen die Einführung einer Zwangsquote als „unannehmbar“ ab. Am heutigen Montag forderte Ungarns Premier Orban Deutschland und Österreich wieder auf, die Grenzen zu schließen. Beide Länder sollten „klar sagen“, so Orban, dass keine weiteren Flüchtlinge mehr aufgenommen würden, denn sonst würden noch „mehrere Millionen“ Migranten nach Europa strömen.

Alle diejenigen, die auf dem Weg nach Europa Ungarn durchqueren wollen, fordere ich daher auf: Kommt nicht! Auch wenn sich die Lage nicht über Nacht ändern lässt, werden wir nach und nach Ergebnisse erzielen. Und der Zeitpunkt wird kommen, wenn wir unseren österreichischen und deutschen Freunden sagen können, dass Ungarns südliche Grenzen hermetisch abgeriegelt sind.

Viktor Orban, ungarischer Ministerpräsident

Rufe nach einer Verteilungsquote für Migranten nannte Orban einen „schrecklichen Fehler, der bloß die Botschaft aussende, das jeder „eingeladen“ sei. Der Premier versicherte außerdem, Ungarns Schengen-Grenzen bald hermetisch abzuriegeln: „Alle diejenigen, die auf dem Weg nach Europa Ungarn durchqueren wollen, fordere ich daher auf: Kommt nicht! Auch wenn sich die Lage nicht über Nacht ändern lässt, werden wir nach und nach Ergebnisse erzielen. Und der Zeitpunkt wird kommen, wenn wir unseren österreichischen und deutschen Freunden sagen können, dass Ungarns südliche Grenzen hermetisch abgeriegelt sind.“

Unterdessen freute sich in Berlin Bundeskanzlerin Merkel über die internationale Anerkennung der Aufnahmebereitschaft Deutschlands: „Das ist etwas sehr wertvolles, wenn man einen Blick in unsere Geschichte wirft. Es freut mich, dass Deutschland auch ein Land geworden ist, mit dem viele Menschen außerhalb Deutschlands Hoffnungen verbinden.“

Frankreich: 24.000 zusätzliche Migranten

Fast überall in der EU hält sich indes die Aufnahmebereitschaft in sehr engen Grenzen. Das zeigt etwa das Beispiel Frankreich. Präsident Franςois Hollande plädiert zwar Seite an Seite mit Bundeskanzlerin Merkel für eine gemeinsame europäische Lösung und verspricht Solidarität. Entsprechend dem Verteilungsschlüssel, den Kommissionspräsident Juncker präsentieren will, ist Paris jetzt bereit, 24.000 zusätzliche Migranten für zwei Jahre aufzunehmen. Damit bliebe Frankreich, das im ersten Halbjahr 32.000 Asylbewerber aufgenommen hat, noch unter den 64.000 Asylanten, die der Pariser Tageszeitung Le Figaro zufolge in Paris noch vor einer Woche als „vernünftige“ Zahl betrachtet wurden.

Einer aktuellen Umfrage zufolge sind 56 Prozent der Franzosen gegen die Aufnahme von Migranten.

Paris macht zur Bedingung, dass in EU-Erstaufnahmeländern Auffangzentren zur Identifizierung der Migranten eingerichtet werden. Wenig überraschendes Problem: Griechenland und Italien wollen ihrerseits große Registrierungs-Camps nur dann einrichten, wenn zuvor gesichert ist, dass anschließend die dort versammelten Migranten auch über Europa verteilt werden. An der Pariser Haltung wird sich so schnell nichts ändern: Frankreich steht vor Regionalwahlen. Einer aktuellen Umfrage zufolge sind 56 Prozent der Franzosen gegen die Aufnahme von Migranten.

Großbritannien will „Tausende“ syrischer Flüchtlinge aufnehmen

Immerhin hat inzwischen wenigstens London seine Haltung ein wenig revidiert. Großbritannien will nun doch „Tausende“ syrischer Flüchtlinge aufnehmen, so Premierminister David Cameron. In Presseberichten ist von maximal 15.000 die Rede. Eine Labour-Sprecherin unterbot Regierungschef Cameron mit der Zahl 10.000. Der Premier betont allerdings, dass London die syrischen Flüchtlinge aus den Auffanglagern in Syriens Nachbarländern aussuchen und abholen wird. „Auf eine Entlastung der europäischen Partnerländer wird also gezielt verzichtet“, erläutert zutreffend die Neue Zürcher Zeitung. Für Europa nützlich ist die Entscheidung womöglich genau deswegen: London will nicht den Migrantenstrom über die Ägäis und über die Balkan-Route weiter antreiben. „London wird sich nicht daran beteiligen, mit Willkommenssignalen die Anziehungskraft Europas zu verstärken“, kommentiert denn auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Merkel hat es zweifellos gut gemeint, als sie jeden Syrer einlud, in Deutschland Asyl zu beantragen. Aber jetzt werden die Menschenschleuser auf sie anstoßen, denn nun wird es noch mehr Familien geben, die sie ausplündern und in Budapest gestrandet zurücklassen oder an der libyschen Küste in Boote packen können.

The Daily Telegraph

Auch Cameron hat triftige innenpolitische Gründe für seine Zurückhaltung: Er hat den britischen Wählern versprochen, die Netto-Zuwanderungsrate auf unter 100.000 zu drücken. Kürzlich wurde aber bekannt, dass sie im vergangenen Jahr auf das Rekord-Niveau von 300.000 gestiegen ist. Dazu kommt, dass die britischen Wähler nach sieben Jahren bitteren Haushaltskürzungen und Sparmaßnahmen finanzielle Aufwendungen für Zehntausende Migranten nicht gerne sehen würden, schreibt die in Edinburgh erscheinende Tageszeitung The Scotsman. „Die Länder, die uns jetzt drängen, mehr Asylbewerber aufzunehmen, sind im Großen und Ganzen genau jene Länder, die jetzt in der Krise sind, nachdem sie mehr aufgenommen haben, als sie verkraften können“, kommentiert The Daily Telegraph und plädiert für weitere britische Zurückhaltung. Merkel habe es zweifellos gut gemeint, als sie jeden Syrer einlud, in Deutschland Asyl zu beantragen, so das Blatt nachdenklich: „Aber jetzt werden die Menschenschleuser auf sie anstoßen, denn nun wird es noch mehr Familien geben, die sie ausplündern und in Budapest gestrandet zurücklassen oder an der libyschen Küste in Boote packen können.“

Gleichgültigkeit der reichen Golf-Staaten

Neben der europäischen Debatte beginnt nun eine Diskussion über das Verhalten der schwerreichen Länder am Persischen Golf. Katars Bürger verfügen über ein Durschnittseinkommen von 143.000 Dollar. In Kuwait liegt es bei durchschnittlich 71.000 und in Saudi-Arabien bei 52.000 Dollar. Jahrelang haben die Golfstaaten gerne viele syrische Arbeitskräfte in ihre Länder gelassen. Aber trotz ihres Reichtums haben sie bislang nur eine „überraschend kleine Zahl von syrischen Flüchtlingen“ aufgenommen, schreibt die New York Times, ohne allerdings eine Zahl zu nennen. Dabei, so das Blatt, „haben US-Sprechern zufolge reiche Bürger der Golf-Staaten – mit oder ohne Wissen ihrer Regierungen – dazu beigetragen, den Aufstieg der syrischen Dschihadisten zu finanzieren.“

Das Fehlen einer Reaktion aus dem größten Teil der arabischen Welt enthüllt zugleich die Zerstörung eines Mythos – dem von der einen arabischen Nation. Diese Geschichte ist eine Lüge.

The Morning Star (Beirut)

Bitter fällt in der englischsprachigen Beiruter Tageszeitung The Daily Star der Vergleich der europäischen Reaktion mit der so vieler arabischer Staaten aus: „Das Fehlen einer ähnlichen Reaktion aus dem größten Teil der arabischen Welt enthüllt zugleich die Zerstörung eines Mythos – dem von der einen arabischen Nation. Diese Geschichte ist eine Lüge.“