Dramatisch und erschöpft
Aus dem neuen BAYERNKURIER-Magazin: Die Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge sind beinahe ausgeschöpft. Derzeit kommen im Freistaat mehr als 30.000 Asylbewerber pro Monat an, auf Bundesebene rechnet man mittlerweile sogar mit über 800.000 Flüchtlingen – eine riesige Herausforderung. Ein Gespräch mit dem Präsidenten des Bayerischen Landkreistages und Deggendorfer Landrat, Christian Bernreiter.
Flüchtlingskrise

Dramatisch und erschöpft

Interview Aus dem neuen BAYERNKURIER-Magazin: Die Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge sind beinahe ausgeschöpft. Derzeit kommen im Freistaat mehr als 30.000 Asylbewerber pro Monat an, auf Bundesebene rechnet man mittlerweile sogar mit über 800.000 Flüchtlingen – eine riesige Herausforderung. Ein Gespräch mit dem Präsidenten des Bayerischen Landkreistages und Deggendorfer Landrat, Christian Bernreiter.

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther

Bayernkurier: Herr Bernreiter, auf dem CSU-Bezirksparteitag in Essenbach berichtete Ministerpräsident Horst Seehofer über einen Hilferuf von Ihnen mit den Worten: „Eine SMS von Christian Bernreiter bedeutet immer SOS.“ Was haben Sie ihm in so kurzen Worten mitgeteilt?
Christian Bernreiter: Im Juni und Juli waren die Zugangszahlen dramatisch, das hat sich auch im August nicht geändert. Da gab es an Spitzentagen mehr als 1000 aufgegriffene Neuankömmlinge pro Tag. Allein in der Erstaufnahmeeinrichtung Deggendorf kamen mehr als 500 Asylbewerber an einem Tag an. Das war für alle Beteiligte, Kommunen, Regierung von Niederbayern, Helfer, Polizei und weitere Behörden, fast nicht mehr zu bewältigen. Zwar werden viele Asylbewerber in ganz Deutschland verteilt, aber allein in Niederbayern bleiben davon täglich mindestens 40, die wir aufnehmen müssen. Unsere Unterbringungskapazitäten sind schon jetzt beinahe ausgeschöpft, fast überall ist schon der Notfallplan in Kraft. Daher mein Hilferuf an den Ministerpräsidenten. Wir Landräte jammern nicht grundlos, aber wir befinden uns dicht vor dem Abgrund. Wenn wir um Hilfe rufen, dann ist es mindestens fünf vor zwölf.

Wenn das so weitergeht, fährt nicht nur das ganze System an die Wand, sondern wir verlieren auch immer mehr die Akzeptanz der Bevölkerung.

Christian Bernreiter

Bayernkurier: Es ist aber doch anzunehmen, dass der Flüchtlingsansturm noch Jahre anhält, wenn nicht Jahrzehnte. Wie soll das denn überhaupt funktionieren, sagen wir schon in ein, zwei Jahren?
Bernreiter: Weitere Notunterkünfte zu aktivieren, ist heute schon fast unmöglich. Die Turnhallen müssen doch vor Schulbeginn wieder leer sein. Aber wir brauchen jede Woche neue Notunterkünfte. Planung und Bau einer entsprechenden Zahl neuer Unterkünfte würde zu lange dauern. Abgesehen davon kostet es viel Geld und stößt auf immer mehr Widerstand in den Kommunen und bei den Bürgern. Es gestaltet sich auch immer schwieriger, eine faire Lastenverteilung unter den Gemeinden zu organisieren. Die Aufnahmeeinrichtung in Deggendorf ist für 500 Asylbewerber ausgelegt, aber derzeit für 2.180 Menschen zuständig, auch wenn die nicht alle in Deggendorf untergebracht sind. Wenn das so weitergeht, fährt nicht nur das ganze System an die Wand, sondern wir verlieren auch immer mehr die Akzeptanz der Bevölkerung.

Bayernkurier: Jetzt werden also Turnhallen belegt. Werden diese wirklich wieder rechtzeitig zum Schulbeginn frei?
Bernreiter: Ich habe zugesichert, die derzeit belegten Turnhallen bis zum Schulanfang wieder frei zu machen. Das will ich auch einhalten.

Bayernkurier: Sind dann Traglufthallen wie die zwei bei Ihnen im Landkreis in Metten und Hengersberg geplanten vorerst die Lösung? In Metten kommt sie sogar in ein Überschwemmungsgebiet.
Bernreiter: Auch das können nur vorübergehende Lösungen sein. Bei einem bedrohlichen Hochwasser kann eine Traglufthalle wie die in Metten zudem innerhalb eines Tages abgebaut werden.

Für den Wohnungsbau brauchen wir die Unterstützung vom Freistaat und insbesondere vom Bund.

Christian Bernreiter

Bayernkurier: Und wo sollen die anerkannten Flüchtlinge in ein, zwei Jahren wohnen, wenn in einigen Großstädten schon jetzt für die Einheimischen Wohnungen fehlen?
Bernreiter: Das ist zweifellos ein großes Problem. Wir müssen schnellstens neue Wohnungen in allen Regionen Bayerns bauen, sonst bleiben die anerkannten Flüchtlinge in den Asyleinrichtungen und blockieren den Platz für die Neuankömmlinge. Wir haben in Niederbayern derzeit mehr als 1000 solcher „Fehlbeleger“. Für den Wohnungsbau brauchen wir die Unterstützung vom Freistaat und insbesondere vom Bund. Der Bund muss viel mehr Geld für Wohnungsbauprogramme einsetzen! Bayern hat das bereits angekündigt.

Ja, es ist ein allmählicher Stimmungsumschwung erkennbar. Die Akzeptanz der Bevölkerung, Flüchtlinge aufzunehmen, schwindet merklich. Besonders die belegten Sporthallen werden kritisch aufgenommen.

Christian Bernreiter

Bayernkurier: Aus ihren Gesprächen mit Bürgern, Helfern, Behörden: Sehen Sie einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung?
Bernreiter: Ja, es ist ein allmählicher Stimmungsumschwung erkennbar. Die Akzeptanz der Bevölkerung, Flüchtlinge aufzunehmen, schwindet merklich. Besonders die belegten Sporthallen werden kritisch aufgenommen. Wenn das für ein paar Wochen in den Sommerferien ist, trägt das die breite Mehrheit unserer Bevölkerung mit. Aber wenn wir das nicht schaffen sollten, trifft es erst die Schulkinder und abends dann die Vereinssportler. Dann wird es kritisch. Aber auch wenn kommunale Leistungen gekürzt oder fast nur noch für Asylbewerber eingesetzt werden müssen, wird das negativ gesehen. Beispiel die Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Zurzeit müssen in besonders belasteten Kommunen bereits andere wichtige Aufgaben des Amtes für Jugend und Familie unerledigt bleiben.

Bayernkurier: Was kostet ein Asylbewerber die Landratsämter, was ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling und was ein anerkannter Flüchtling?
Bernreiter: Zunächst einmal: Die Landratsämter sind zuständig für Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Verpflegung und Taschengeld. Das große Glück in Bayern ist, dass die Landkreise fast alle Kosten vom Freistaat ersetzt bekommen. Das ist eine große Leistung! Das gibt es in anderen Bundesländern nicht, dort sind die Kreise viel stärker belastet. Nehmen Sie Baden-Württemberg: Dort kriegen die Kreise 13.600 Euro pro Kopf für 18 Monate, das ist natürlich viel zu wenig. Auch wir bekommen aber nicht jede Verwaltungskraft ersetzt, die wir für den Zustrom der Asylbewerber einsetzen müssen.

Bayernkurier: Was bedeutet es konkret, wenn die Landratsämter „für Unterkunft und Versorgung“ sorgen müssen?
Bernreiter: Es gilt, Unterkünfte im Auftrag des Freistaates Bayern zu finden und anzumieten, dazu Essen, Reinigung, Wäscherei, Verwaltungspersonal, und gegebenenfalls auch ein Sicherheitsdienst. Obendrauf die Gesundheitsversorgung. Da gehen die Asylbewerber ganz normal zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wir prüfen die Rechnungen anschließend bei den Gemeinschaftsunterkünften und in der „dezentralen Unterbringung“ und zahlen das dann im Auftrag des Freistaates als staatliche Aufgabe.

Bayernkurier: Aber nochmal: Was kosten die Asylbewerber nun im Einzelnen?
Bernreiter: Ohne Krankheitskosten sind das 1200 bis 1500 Euro pro Asylbewerber pro Monat. Bei den unbegleiteten Minderjährigen betragen allein die Heimkosten schnell mal bis zu 5000 Euro pro Monat, das sind im Jahr rund 60.000 Euro. Ein anerkannter Flüchtling ohne Arbeit erhält Leistungen wie ein Hartz-IV-Bezieher, das zahlt dann der Bund. Nur deren Unterkünfte zahlen die Kommunen, das hängt dann also von der jeweiligen Miete ab.

Bayernkurier: Würde es Ihrer Ansicht nach helfen, wenn verstärkt wieder alle Geld- durch Sachleistungen ersetzt würden?
Bernreiter: In Deggendorf gibt es wie in allen Erstaufnahmeeinrichtungen nur Sachleistungen – abgesehen vom Taschengeld.

Ab dem 1. Januar werden die unbegleiteten Minderjährigen endlich auch bundesweit verteilt. Das ist aber viel zu spät. Bis dahin halten wir nicht mehr durch!

Christian Bernreiter

Bayernkurier: Und die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und jungen Erwachsenen?
Bernreiter: Die aktuellen Regelungen zum Thema unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und junge Erwachsene sind in der Tat ein Problem. Hier übernehmen die Landratsämter keine Aufgabe des Freistaates, sondern es ist originär eine kommunale Aufgabe. Und hier wird der Freistaat erst ab 1. Januar die Kosten übernehmen. 2014 haben die bayerischen Bezirke für die Unterbringung dieser Flüchtlinge 51 Millionen Euro aufgewendet, von denen der Freistaat bisher nur 3,7 Millionen Euro übernommen hat. Der Rest wird über die Bezirksumlage finanziert, trifft also die Kommunen und Landkreise. Ab dem 1. Januar werden diese Minderjährigen endlich auch bundesweit verteilt. Das ist aber viel zu spät. Bis dahin halten wir nicht mehr durch! Zum Glück werden sie mittlerweile schon innerhalb Bayerns verteilt, sonst müssten die Landratsämter in Passau oder Rosenheim längst kapitulieren. Um das mit Zahlen deutlich zu machen: In Deutschland haben wir rund 20.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und davon halten sich aktuell 9200 in Bayern auf. Was für ein Missverhältnis! Zur Betreuung der Flüchtlinge brauchen wir außerdem Fachkräfte, laut Jugendhilfegesetz Sozialpädagogen oder allenfalls Erzieher, und der Markt für diese ist leergefegt. Und Gymnasiallehrer und Realschullehrer können höchstens als Hilfskräfte eingesetzt werden. Die derzeitigen gesetzlichen Standards müssen deshalb der Realität angepasst werden. Die unbegleiteten Jugendlichen müssen aus dem Jugendhilferecht herausgenommen werden. Das ist aber ein Bundesgesetz und für eine Änderung braucht man Mehrheiten.

Bayernkurier: Eine Kritik an den rot-grün regierten Ländern und ihren Bundespolitikern?
Bernreiter: Offensichtlich sind besonders die Bundespolitiker weit weg von der Realität. Regierende Landespolitiker jeder Couleur sehen das meist schon anders, Kommunalpolitiker sowieso.

Auch ein reiches Bundesland wie Bayern wird irgendwann seinen finanziellen Spielraum ausgereizt haben.

Christian Bernreiter

Bayernkurier: Und wieder ein Blick in die Zukunft: Wer soll das alles in ein, zwei Jahren zahlen, wenn es so weitergeht?
Bernreiter: Auch ein reiches Bundesland wie Bayern wird irgendwann seinen finanziellen Spielraum ausgereizt haben. In anderen, weniger wirtschaftsstarken Bundesländern wird sich das sicher negativ auf die ab 2019 geltende Einhaltung der Schuldenbremse auswirken.

Bayernkurier: Wie sehen Sie die Pläne der bayerischen Staatsregierung, die Zuwanderer vom Westbalkan in zentralen Aufnahmezentren zusammenzufassen und bei Ablehnung des Asylantrags schnellstmöglich abzuschieben? Schließlich liegt die Anerkennungsquote für diese Länder deutlich unter einem Prozent.
Bernreiter: Das ist vermutlich die einzige Chance, um unser Aufnahmesystem zu entlasten. An der konsequenten Abschiebung von Asylbewerbern ohne Bleiberecht geht kein Weg vorbei. Zwei Drittel der 2014 bei uns angekommenen 300.000 Asylbewerber hatten kein Bleiberecht. Also hätten doch eigentlich bis zu 200.000 Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen, oder? Tatsächlich waren es nur 10.800. So geht es doch nicht weiter! Es ist zwingend notwendig, rechtsstaatlich zu handeln. Wenn wir den wirklich Verfolgten helfen wollen, denen, die um Leib und Leben fürchten, dann müssen wir entsprechend handeln!

Bayernkurier: In Manching ist schon eine Einrichtung gefunden, nahe Passau ist eine zweite im Gespräch (Anm. d. Red.: zum Zeitpunkt des Interviews war noch nicht bekannt, dass die zweite Einrichtung nach Bamberg kommt). Wann hoffen Sie auf eine Entlastung?
Bernreiter: Das muss jetzt schnell gehen! Es muss noch vor dem Winter funktionieren und Wirkung zeigen.

Ich habe das Gefühl, in Berlin hat man immer noch nicht den Ernst der Lage erkannt.

Christian Bernreiter

Bayernkurier: Was muss jetzt getan noch werden?
Bernreiter: Kurz gesagt: Alles, um die Zugangszahlen zu reduzieren. Die geplanten Maßnahmen der Staatsregierung zeigen dabei in die richtige Richtung. Asylbewerber müssen unterschieden werden in diejenigen mit Schutzbedarf und die ohne Bleiberecht. Aber auch der Bund und die EU müssen tätig werden. Die Asylgesetzgebung ist schließlich Bundesrecht und ich habe das Gefühl, in Berlin hat man immer noch nicht den Ernst der Lage erkannt.

Bayernkurier: Wenn es ums Geld geht, fordern alle EU-Staaten lautstark Solidarität von Deutschland ein. Geht es um die Verteilung von Flüchtlingen, scheint das Wort Solidarität in den meisten EU-Staaten zum Unwort des Jahres zu mutieren.
Bernreiter: Ja, das stimmt. In Bayern kommen derzeit mehr als 30.000 Asylbewerber pro Monat an und die EU kann sich nicht mal auf die Verteilung von 40.000 in ganz Europa einigen! Diese Zahlen sagen alles. Um den europäischen Gedanken zu verwirklichen, muss da mehr kommen!

 

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